Gesundheitswesen:Medizin für Bedürftige: "Hauptklientel ist der abgestürzte Mittelstand"

Blutabnahme

Was tun, wenn man sich selbst einfache Blutuntersuchungen nicht mehr leisten kann?

(Foto: dpa)

Erstaunlich viele Menschen in Deutschland können sich keinen Arzt leisten. Zu Besuch in einer Praxis, die ihnen hilft.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Herr Müller blutete mittlerweile seit zwölf Monaten aus dem Darm. Am Anfang hatte er sich nicht viel dabei gedacht, aber die Blutungen waren immer wieder gekommen. Auch sonst ging es ihm zusehends schlechter. Einen Arzt hatte er trotzdem nicht aufgesucht, weil er dachte, das ginge nicht. Herr Müller, 62, war aus seiner privaten Krankenversicherung ausgestiegen, nachdem seine Firma pleitegegangen war. Er hatte sich die Beiträge nicht mehr leisten können, und weil er gesund war, ein Mann in den besten Jahren, war er davon ausgegangen, das werde schon gutgehen. Dann kamen die Blutungen, die Schmerzen, das Völlegefühl. Lange zwang sich Herr Müller, alles auszuhalten. Bis es sich anfühlte, als verschließe ein Pfropfen seinen Darm. "Dann kam er hier an", sagt Peter Ostendorf, Leiter der Hamburger Praxis ohne Grenzen. Und danach musste alles sehr schnell gehen.

Herr Müller heißt nicht Herr Müller. Aber seine Geschichte ist echt, und sie erzählt von einer Not, die offensichtlich nur Leute wie der pensionierte Medizinprofessor Peter Ostendorf lindern können.

42 Ärzte aus acht Fachrichtungen arbeiten hier - alle ehrenamtlich

Deutschland hat im Grunde ein gutes Gesundheitssystem. Es gibt die Versicherungspflicht, damit es sich jeder leisten kann, krank zu werden. Wer etwas besser verdient, kann eine private Krankenversicherung wählen für eine aufwendigere medizinische Betreuung, und es gibt gesetzliche Regelungen, die einen zügellosen Versicherungskapitalismus verhindern sollen. Aber auch Basistarife und gesunkene Nachzahlungszinsen ändern nichts daran, dass die deutsche Versicherungspflicht Menschen in Armut überfordern kann.

In Deutschland leben 200 000 Menschen wie Herr Müller, die sich die steigenden Beiträge ihrer privaten Versicherung nicht mehr leisten konnten. Hinzu kommen nach Schätzungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zwischen 200 000 und 600 000 Menschen ohne offiziellen Aufenthaltstitel - Flüchtlinge, die sesshaft geworden sind, arbeiten, aber nie hineingefunden haben ins deutsche Gesundheitssystem. Sie alle sind angewiesen auf mildtätige Angebote; auf Menschen wie den Internisten Peter Ostendorf und seine Hamburger Praxis ohne Grenzen.

Peter Ostendorf, 77, führt durch die Räumlichkeiten. "Praxis" ist nicht das richtige Wort für sein 300 Quadratmeter großes Reich im Keller eines Pflegeheims in Hamburg-Horn: "Wir nennen uns eher Ambulanz für unversicherte Patienten." Ostendorf war 20 Jahre Chefarzt am Hamburger Marienkrankenhaus. Nach der Pensionierung baute er dort ein Institut für Präventivmedizin auf. Als er fertig war, wuchs sein Interesse am Thema Medizin für Bedürftige. Er orientierte sich am norddeutschen Ärzte-Netzwerk "Praxis ohne Grenzen" (PoG), Anfang 2014 gründete er den Verein "Praxis ohne Grenzen - Hamburg." Das Horner Pflegeheim stellte ihm zunächst zweieinhalb Zimmer mietfrei zur Verfügung. Er machte Werbung im Ärzteblatt, "dann war das ein Selbstläufer".

"So haben wir uns Medizin vorgestellt"

Ostendorf zeigt stolz die sauberen Behandlungszimmer, die vollen Medikamentenschränke, die modernen Diagnose-Geräte. "Nagelneu alles." Die kleine Praxis war schnell überlaufen, der Privatier Reimund C. Reich spendierte mit seiner Stiftung den Umzug ins Kellergeschoss des Seniorenheims. Im vergangenen Mai war alles fertig, seither ist hier jeden Mittwoch von 14 bis 19 Uhr eine Sprechstunde, zu der zwischen 55 und 70 Patienten kommen.

42 Ärzte aus acht Fachrichtungen umfasst das Praxis-Team, dazu zwölf Krankenschwestern, zwei Dolmetscher, eine Sozialberaterin. Alle arbeiten ehrenamtlich. Die meisten sind im Ruhestand. Und sie entdecken hier die Freude an ihrer Arbeit neu, weil es den Druck nicht gibt, dem sie als Medizinschaffende im normalen Gesundheitsbetrieb ausgesetzt waren. "So haben wir uns Medizin vorgestellt", sagt Ostendorf. "Wir machen das, was nötig ist, mit guten Geräten. Aber wir müssen nie etwas tun, das nicht nötig wäre, aber Geld bringt."

Der Verbund PoG hat neun Standorte in Norddeutschland. Er ergänzt ein bundesweit reiches Netz an Auffangeinrichtungen durch staatliche und nichtstaatliche Initiativen. In den PoG-Filialen der kleineren Städte melden sich vor allem Deutsche. "Hauptklientel ist der abgestürzte Mittelstand", sagt Uwe Denker, 77, Leiter der PoG in Bad Segeberg, der Pionier des Netzwerks. In die Hamburger PoG, die größte, kommen dagegen vor allem Flüchtlinge ohne Aufenthaltsstatus. Ostendorf, Denker und deren Mitstreiter helfen also Leuten, die sich einer gesetzlichen Pflicht entzogen haben beziehungsweise sich ihr entziehen mussten. Unterwandern sie nicht selbst Gesundheitssystem und öffentliche Ordnung?

"Wir sehen das als Modell der Nächstenliebe und Barmherzigkeit", sagt Denker. Das Menschenrecht Gesundheit ist wichtiger als die Paragrafen zum Selbstschutz einer Nation. Auch Debatten um Flüchtlingsobergrenzen und die Herausforderungen der Integration geraten in den Hintergrund, wenn eine schwangere Frau oder ein Todkranker im Wartezimmer sitzen. "Ich sehe die Probleme, die die hohen Flüchtlingszahlen für Politiker darstellen", sagt Ostendorf, "aber vor uns steht ein Individuum. Da muss gehandelt werden."

25 Schwangerschaften haben sie in Hamburg-Horn schon bis zur Entbindung begleitet

Die Unversicherten haben es nicht besser als die Versicherten, bloß weil sie ohne Beitragszahlung in den PoG eine kostenlose Behandlung bekommen. Stiftungen und Spender finanzieren die Behandlungen, auch mal rettende Operationen. Aber sie können nicht alles leisten. "Wir sind nur für dringende Notfälle da", sagt Ostendorf. Und selbst die können zu teuer sein. "Wir kommen finanziell an unsere Grenzen, wenn eine Patientin eine Lebertransplantation für 250 000 Euro braucht", sagt Denker, "dann wird es dramatisch."

Aber es stimmt schon, es passieren herrliche Dinge. 25 Schwangerschaften haben Ostendorf und seine Kollegen in Hamburg-Horn schon bis zur Entbindung begleitet. "25 Kinderchen werden hier jetzt geimpft und betreut", sagt Ostendorf. Einmal kam ein 20-Jähriger aus Ghana, dem Rechtsradikale die obere Zahnreihe ausgeschlagen hatten - die ehrenamtlichen Zahnärzte der Praxis ersetzten sie. "Ein strahlendes Gesicht", sagt Ostendorf. Für eine todgeweihte Frau aus Ghana organisierten die Doktoren eine Herz-Operation mit Reha. "Sie konnte schon nicht mehr laufen, jetzt läuft sie wieder wunderbar." Peter Ostendorf lächelt. "Eine wunderbare Geschichte."

Und Herr Müller? Ein Enddarm-Karzinom war der Grund für sein Martyrium. Der Darm war schon so überladen, dass Keime durch die Darmwand hätten dringen können und die Gefahr einer Blutvergiftung bestand. Herr Müller wurde noch in der Nacht nach der ersten Untersuchung operiert. Danach ging es ihm besser.

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