Fehlbildungen in Frankreich:Kinder ohne Hände

Nouveau cas d 'enfant né ' sans doigts '

Dieser Junge wurde 2012 in der Region um Ain geboren. Er gehört zu den Kindern, deren Schicksal das Land gerade beunruhigt.

(Foto: Laurent Thevenot/dpa)
  • Im ostfranzösischen Département Ain wurden in den vergangenen Jahren mindestens sieben Kinder geboren, denen ein Arm oder eine Hand fehlt. Es könnten sogar 18 Fälle sein.
  • Bereits jetzt wird über die Ursache spekuliert, doch bislang ist nicht einmal klar, ob es wirklich ungewöhnlich viele Fälle sind.
  • Solche Anomalien sind zwar selten, kommen jedoch auch in anderen Ländern immer wieder vor.

Von Berit Uhlmann

Man kann sich vorstellen, wie sich die Eltern auf den Ultraschall des Kindes gefreut hatten. Zu sehen, wie ihr Ungeborenes friedlich schläft, wie es gähnt oder die winzigen Ärmchen reckt. Nur bot sich den Eltern, deren Schicksal Frankreich derzeit aufwühlt, ein anderer Anblick. Den kleinen Körpern fehlte mal ein Arm, mal der Unterarm, mal eine Hand. Mindestens sieben, vielleicht sogar mehr als ein Dutzend Babys sind bislang im Département Ain mit solcherart Fehlbildungen geboren worden. Ganz Frankreich fragt sich: Was passiert da Schreckliches im Osten des Landes?

Die Mütter waren jung und gesund, nahmen weder Drogen noch riskante Medikamente

Zum ersten Mal wurde diese Frage 2010 gestellt. In jenem Jahr war in drei nicht weit voneinander entfernten Orten je ein Baby mit Fehlbildungen der Arme registriert worden. In den darauf folgenden Jahren kamen weitere Meldungen hinzu, sodass die nationale Gesundheitsbehörde Santé publique France genauer hinschaute. Sie bestätigte im Bezirk Ain sieben Fälle für den Zeitraum von 2009 bis 2014. Alle ereigneten sich in einem Umkreis von nur 25 Kilometern.

Die betroffenen Mütter waren jung, gesund, die Schwangerschaft verlief, soweit bekannt, ohne Komplikationen. Eine ganze Reihe von Risikofaktoren scheint ausgeschlossen zu sein. Alkohol, Zigaretten, Drogen, Infektionen, riskante Medikamente, Kontakt mit schädlichen Chemikalien, bekannte genetische Erkrankungen - auf fast keine der Mütter traf irgendetwas davon zu. Die Behörde erklärte die sieben Fälle zu einer zufälligen Häufung. In Ermangelung einer konkreten Hypothese zur Ursache werde man die Geschehnisse auch nicht weiter analysieren, hieß es recht ungerührt.

Diese Erklärung besänftigte die Öffentlichkeit nicht wirklich. Mittlerweile ist die Unruhe so groß, dass sich Santé publique gezwungen sah, doch weiter zu suchen. Im gesamten Land werden nun die Akten durchforstet, auch weiter zurückliegende Jahre werden analysiert. Bislang hat die Suche neben den sieben bestätigten noch elf weitere mögliche Fälle im Bezirk Ain zutage gefördert - verteilt auf die Jahre 2000 bis 2014. Auch andere Regionen meldeten bereits einige Fälle. Noch ist nicht bestätigt, ob es sich bei allen um die gleiche Anomalie handelt.

Doch längst wurden Anschuldigungen in die Debatte geworfen: Umweltschützer halten Pestizide für verantwortlich, denn die einzige Gemeinsamkeit der ersten sieben betroffenen Familien war, dass sie in ländlichen Gebieten wohnten. Das Gesundheitsministerium fordert mit Nachdruck mehr Aufklärung. Medien sprechen von einem "Skandal". Die beteiligten Institutionen sind zerstritten; angeblich wollen selbst Statistiker nur noch anonym über die Sache reden. Die ganze Entwicklung ist derzeit nur schwer zu entwirren.

"Zunächst geht es darum festzustellen, ob es überhaupt eine Häufung gibt", sagt Awi Wiesel vom Geburtenregister Mainz, einer von zwei Einrichtungen in Deutschland, die Fehlbildungen erfassen. Das heißt, es wird zunächst geprüft, ob deutlich mehr Fälle vorliegen, als man erwarten würde.

Santé publique hat diese Erwartungswerte bereits vorgelegt: Die Institution schätzt, dass es in ganz Frankreich etwa 150 derartige Fälle pro Jahr gibt - verteilt auf 101 Départements. Im Bezirk Ain würde man damit etwa ein bis zwei Fälle pro Jahr erwarten. Tatsächlich liegen zumindest die bestätigten sieben Anomaliengenau in diesem Rahmen. Demnach haben die Fälle dort nicht zugenommen, sie haben sich nur streckenweise sehr ungleich verteilt.

Die Ursachen von Geburtsdefekten sind vielfältig

Auch im Vergleich mit anderen Regionen stechen die von der französischen Behörde bestätigten Zahlen zunächst nicht als extrem auffällig heraus. Auf 10 000 Geburten kommen demnach im Département Ain 1,7 Fehlbildungen der Arme. Europaweit liegt die Rate zwischen zwei und vier pro 10 000 Geburten. In der Mainzer Region sogar bei sieben pro 10 000. Das liegt an der aktiven und damit besonders gründlichen Erfassung. Das zweite deutsche Register in Sachsen-Anhalt geht von etwa vier Fällen pro 10 000 Geborenen aus. Dass die aktuelle Rate aus Ain vergleichsweise niedrig zu sein scheint, kann auch damit erklärt werden, dass in ihr nur die dort aufgetretenen speziellen Anomalien erfasst sind, in den anderen Statistiken aber alle Arten von Fehlbildungen der oberen Extremitäten einbezogen werden. Doch selbst wenn man dies berücksichtigt, erscheint der von Santé publique vorgelegte Wert bislang nicht alarmierend.

Nur wird das Zahlengewirr noch dadurch verkompliziert, dass Kritik an der Berechnung laut wurde. Das für die Region um Ain zuständige Melderegister hält die verwendete statistische Methode für ungeeignet. Das Register wiederum steht unter Druck; es gibt Differenzen um seine Arbeitsweise, ihm drohten Budgetkürzungen. Keine gute Situation, um die Vorgänge ruhig und objektiv zu evaluieren.

Zumal da solche Analysen ohnehin heikel sind. Es passiert gar nicht so selten, dass plötzlich eine Störung in einer Region besonders häufig auftritt. Tatsächlich kann auch purer Zufall dafür verantwortlich sein. Denn der Zufall waltet längst nicht immer in gleichmäßigen Mustern, sondern kann zeitweise an einem Ort mehr Ereignisse auftreten lassen und andere Orte dafür verschonen. Doch es fühlt sich nun mal sicherer an, eine handfeste Ursache benennen und dann vielleicht meiden zu können. Und so begegnen Wissenschaftlern in solchen Fällen immer wieder Unglaube und Spekulationen, bis hin zum Vorwurf der Vertuschung.

Andererseits gibt es auch Fälle, in denen ein klarer Grund gefunden wurde; der Contergan-Skandal ist ein prominentes Beispiel, an das jetzt in Frankreich wieder erinnert wird. Tausende Kinder kamen in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Fehlbildungen zur Welt, da ihre Mütter während der Schwangerschaft ein Schlafmittel mit dem Wirkstoff Thalidomid eingenommen hatten.

Gerade bei Geburtsdefekten können die Ursachen sehr vielfältig sein. Man geht davon aus, dass etwa ein Drittel aller Fehlbildungen einen genetischen Hintergrund haben, sagt Wiesel. In rund einem bis fünf Prozent der Fälle sind Infektionen, Medikamente, wie das Epilepsiemittel Valproat, oder Vorerkrankungen der Mutter, wie ein Typ-1-Diabetes, die Ursache. Etwa die Hälfte aller Fehlbildungen erhalten das Etikett: Ursache unbekannt. In diesen Fällen können Umweltfaktoren wie Strahlung oder bestimmte Chemikalien eine Rolle spielen. Wiesel hält es theoretisch für denkbar, dass auch Pestizide Ungeborene schädigen können. In Südamerika wurden solche Fälle vermutet. Ob dies jedoch auf Europa mit seinen strengeren Bestimmungen zutrifft, ist nicht sicher, so der Mediziner. Auf jeden Fall ist es derzeit viel zu früh für eine Festlegung. Ein vollständiger Bericht soll bis Juni vorliegen.

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