Gehirnforschung:Das Risiko, an Demenz zu erkranken, sinkt

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Audrey Hepburn oder doch Elizabeth Taylor? In der Gruppe der 80- bis 84-Jährigen in Deutschland leiden 15 Prozent an Demenz. Hier zeigt eine Pflegerin zwei Patienten ein Bild von - Hepburn.

(Foto: David Ramos/Getty Images)

Das legt eine Studie aus Großbritannien nahe. Bisherige Prognosen über eine zunehmend vergessliche Gesellschaft waren wohl übertrieben.

Von Kai Kupferschmidt

Ein grauer Tsunami rollt auf die Welt zu. So lauten noch immer die düsteren Prognosen. Die Menschheit werde immer älter und zugleich vergesslicher. Weltweit lebten 2015 laut Schätzungen knapp 47 Millionen Menschen mit einer Demenz. 2030 sollen es 75 Millionen sein, 2050 mehr als 130 Millionen. In den USA warnen Forscher gar vor einer "Alzheimer-Epidemie". Und in Deutschland vermutet das Bundesgesundheitsministerium, dass sich die Zahl der Demenzkranken bis 2050 auf drei Millionen verdoppelt.

Eine neue Studie aus Großbritannien lässt diese Vorhersagen nun aber wortwörtlich alt aussehen. Schließlich beruhen die bisherigen Prognosen alle auf der Annahme, dass das Risiko, an Demenz zu erkranken, in jeder Altersgruppe gleich bleibt. Weil die Bevölkerung altert, gibt es mehr Demente. So lautet die Logik. Doch die ist offenbar falsch, wie eine Studie aus Großbritannien nun zeigt.

Demnach ist das Risiko eines einzelnen Menschen, an Demenz zu erkranken, in Großbritannien in den vergangenen 20 Jahren um ein Fünftel gesunken. So schreiben es Carol Brayne von der Universität Cambridge und ihre Kollegen im Fachblatt Nature Communications. Ein 80-Jähriger hat heute also ein 20 Prozent niedrigeres Risiko, dement zu werden, als ein 80-Jähriger, der in der Mitte der 1990er-Jahre lebte.

Hinweise, dass das Demenzrisiko in den Industrienationen sinkt

Das klingt überraschend, schließlich wird die Demenz häufig als schicksalhaft und unausweichlich dargestellt. Tatsächlich gibt es aber schon länger Hinweise, dass das Demenzrisiko in den Industrienationen sinkt. So wurden am Anfang dieses Jahres im Fachblatt New England Journal of Medicine Ergebnisse der Framingham-Studie veröffentlicht. Bewohner der Stadt im US-Staat Massachusetts werden seit fast 70 Jahren als Teil einer Langzeitstudie zu Herzerkrankungen begleitet.

Seit 1975 werden auch Demenzfälle unter den Teilnehmern registriert. Zum Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre betrug das Risiko der über 60-Jährigen, in den folgenden fünf Jahren an Demenz zu erkranken, etwa 3,6 Prozent. Am Ende der 90er-Jahre waren es 2,8 Prozent, Ende der 2000er nur noch 2,2 Prozent. Studien in Dänemark, Schweden und den Niederlanden sind zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Weil sich im Laufe der Zeit aber auch die Diagnosekriterien änderten, blieben stets Zweifel an den Ergebnissen.

Weil das Durchschnittsalter steigt, wird es mehr Demente in der Bevölkerung geben

Das britische Forscherteam um Carol Brayne hat diese Zweifel nun ausräumen können. Sie hatten zwischen 1989 und 1994 in Wales und England Tausende Menschen befragt, die mindestens 65 Jahre alt waren. Aus Interviews und Testergebnissen berechneten sie, wie viele Menschen pro Jahr an Demenz erkranken. Zwischen 2008 und 2011 haben die Wissenschaftler das mit den gleichen Methoden in den gleichen Regionen wiederholt, ausgewertet und nun veröffentlicht. "Diese Beständigkeit ist absolut entscheidend, um einen brauchbaren Vergleich zu machen", sagt der US-Forscher Kenneth Langa von der University of Michigan in Ann Arbor in den USA. "Das ist eine sehr wichtige Studie."

Dass das individuelle Demenzrisiko sinkt, heißt allerdings noch nicht, dass auch die Zahl der Demenzerkrankungen in der Gesamtbevölkerung sinkt. Das steigende Durchschnittsalter frisst den Vorteil gewissermaßen wieder auf. In der britischen Studie errechneten die Forscher einen leichten Anstieg der Demenzzahlen, von 183 000 Neuerkrankungen 1991 zu heute etwa 210 000 Neuerkrankungen pro Jahr. Doch das ist weit weniger als die 251 000 Fälle, die zu erwarten gewesen wären, wäre das individuelle Demenzrisiko gleich geblieben.

"Der dramatische Anstieg, der für viele Industrienationen vorhergesagt worden ist, wird wohl deutlich kleiner ausfallen", sagt Monique Breteler vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn. Eine Epidemie zumindest ist nicht in Sicht. "Demenz bleibt ein großes Gesundheitsproblem, das unzählige Patienten und Familien betrifft", sagt Langa. "Aber die Auswirkungen sind geringer, als wir befürchtet hatten."

Gefäße im Gehirn "verkalken", es kommt zu kleinen Schlaganfällen

Über die Gründe dafür wird nun heiß diskutiert. Eine wichtige Rolle spielen vermutlich die Blutgefäße. Ein großer Teil der Demenzerkrankungen wird von Durchblutungsstörungen verursacht. Gefäße im Gehirn "verkalken", es kommt zu kleinen Schlaganfällen, die die Funktion des Gehirns zunehmend beeinträchtigen. Diese vaskuläre Demenz gilt nach Alzheimer als die zweithäufigste Demenzform. Bluthochdruck, Rauchen oder Diabetes erhöhen das Risiko für die Erkrankung. Fortschritte bei der Therapie von Bluthochdruck und Diabetes und der Rückgang beim Rauchen dürften also dazu beigetragen haben, dass das Demenzrisiko gesunken ist.

Ein weiterer wichtiger Faktor sei vermutlich die Bildung, sagt Brayne. Studien zeigen, dass Menschen mit einem höheren Bildungsgrad im Schnitt später an Demenz erkranken und auch kürzer darunter leiden. Dabei schreiten die krankhaften Veränderungen im Gehirn bei diesen Menschen offenbar genauso voran wie bei Menschen mit niedrigem Bildungsgrad. "Sie sind nur besser darin, die Krankheit zu kompensieren", sagt Brayne.

Da der Bildungsstandard in den letzten Jahrzehnten im Schnitt gestiegen ist, könnte das einen Teil des Trends erklären. In jedem Fall sei es wichtig, die Gründe genauer zu untersuchen, sagt Brayne. Aber für diese Art der Forschung gebe es weit weniger Geld als etwa für die Suche nach Medikamenten. "Wir haben fünf Anläufe gebraucht, bis wir das Geld für diese Studie zusammenhatten", sagt die Forscherin.

Eine große Untersuchung soll nun die Situation in Deutschland aufklären

Eine große Untersuchung in Deutschland soll nun helfen, Antworten zu finden. Monique Breteler baut eine Mammut-Studie auf, um die Veränderungen im Demenzrisiko in Deutschland und vor allem auch die Gründe dafür zu untersuchen. "Ich glaube, wir müssen früher ansetzen, als wir das bisher getan haben", sagt sie. "Wenn Leute in ihren Sechzigern krank werden, dann finden vermutlich schon in ihren Vierzigern Veränderungen im Gehirn statt."

In der "Rheinlandstudie" sollen 30 000 Menschen von 30 Jahren an begleitet und alle vier bis fünf Jahre aufwendig untersucht werden. Das erste Studienzentrum in Bonn-Beuel wurde vor Kurzem eröffnet, sagt Breteler. Selbst ohne diese Studie sei es so gut wie sicher, dass das Demenzrisiko auch in Deutschland gesunken sei, sagt die Niederländerin. "Als Ausländerin kann ich sagen: Die Deutschen sind zwar manchmal speziell, aber nicht so speziell."

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