Alter und Beruf:Verfall vom ersten Arbeitstag an

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Während der Körper abbaut, nimmt die Erfahrung zu. Leistungsfähigkeit im Alter lässt sich nicht pauschal bestimmen. (Foto: dpa)

Wann ist man zum Arbeiten zu alt? Die Frage stellen sich nicht nur Piloten. Ob Augen, Herz oder Nervenfunktionen: Alles wird bereits in einem Alter schlechter, in dem die Menschen als Berufsanfänger gelten. Doch der organische Verschleiß sagt wenig über die Leistungsfähigkeit aus.

Von Werner Bartens

Wer älter als 40 ist und morgens ohne Schmerzen aufwacht, ist wahrscheinlich tot, lautet eine gängige Büroweisheit. Dabei weiß die Medizin, dass der körperliche Verfall schon viel früher beginnt. Insofern ist unklar, worum es den streikenden Piloten eigentlich geht, wenn sie darauf bestehen, auch weiterhin gut versorgt ihr Berufsleben zwischen 55 und 60 Jahren beenden zu können. Fürchten sie Einbußen der Sehkraft, der Stresstoleranz, der Reaktionsgeschwindigkeit oder an Strahlkraft?

Der Niedergang hat in den Fünfzigerjahren ja längst eingesetzt. Kaum ist das pubertäre Längenwachstum abgeschlossen, geht es bergab. Noch ist beruflich nichts vollbracht, da zeigt die Leistungskurve bereits nach unten. Zwar lässt sich der Absturz abbremsen - doch ob Augenlinse, Herzmuskel, Potenz oder Lungenfunktion: Fast alle Betriebssysteme im Körper erreichen ihr Optimum schon in einem Alter, in dem man aufgefordert werden würde, im Bus für Erwachsene aufzustehen.

Die Unterschiede in der optimalen Laufzeit der Körperteile und Organe sind enorm. Die Elastizität der Augenlinse lässt bereits mit 16, 17 Jahren kontinuierlich nach. Die Nervenleitgeschwindigkeit hat zwischen 28 und 30 Jahren ihren Höhepunkt. Das Gehirn verliert erst mit 65 Jahren an Gewicht, Intelligenzeinbußen treten sogar noch später ein - das Gewicht der Hoden bleibt hingegen das ganze Erwachsenenleben über konstant. Die Filterleistung der Nieren ist beim Kleinkind auf Höchstleistung ausgelegt und behält bis Ende 20 dieses Niveau bei. Der Knochen ist mit 25 am stabilsten, die Zahl der Abwehrzellen nimmt vom 40. Lebensjahr an deutlich ab.

"Für die Betrachtung der Organfunktion im Alter ist es allerdings schwierig, Veränderungen durch Alterungsprozesse von Veränderungen durch häufige Krankheiten zu unterscheiden", sagt Richard Warth, Professor für Physiologie an der Universität Regensburg. "Zudem haben Erkrankungen und der Lebensstil maßgeblichen Einfluss auf die meisten Organfunktionen."

Doch welchen Sinn könnte es haben, dass die Mindesthaltbarkeit der Organe so unterschiedlich ausfällt? Klar, bis zum Beginn des fortpflanzungsfähigen Alters sollten alle Körperteile optimal funktionieren. Und in seiner evolutionären Frühzeit pflanzte sich der Menschen eben schon mit 14 oder 15 Jahren fort - und musste mit scharf gestellter Linse den richtigen Partner erspähen. Damals konnte niemand ahnen, dass die derzeitige Entwicklungsstufe des Homo sapiens sich oft erst als Thirtysomething paart. In diesem Alter hauchten unsere Steinzeitahnen ihr Leben meist schon wieder aus.

Warum manche Menschen mit 65 Jahren locker einen Marathon bewältigen, während andere kaum die Treppe ins nächste Stockwerk schaffen, können Forscher nicht genau sagen. Gene, Stoffwechsel und Enzyme spielen eine Rolle. Lange Telomere, wie die Chromosomen-Enden genannt werden, sprechen für die Chance auf ein hohes Alter und viele gesunde Jahre. Mittlerweile sind mehr als 150 Genvarianten bekannt, die über die Lebensspanne mitentscheiden. Genauso wichtig sind aber Umweltfaktoren, Speiseplan und Lebensführung.

Aus medizinischer Sicht ist es daher ein willkürlicher Trennstrich, das Arbeitsleben mit 50, 60 oder 67 Jahren zu beenden, obwohl die Leistungskraft bei vielen Menschen immer länger auf hohem Niveau bestehen bleibt. "Die 75-Jährigen heute sind wahrscheinlich so leistungsfähig wie die 65-Jährigen vor 30 Jahren", sagt Martin Halle, Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmedizin der Technischen Universität München. "Das macht bestimmt zehn Jahre aus."

Andererseits gibt es genügend Gründe, die Erwerbstätigkeit früher einzustellen. Die Augenlinse kann nie so scharf gestellt werden wie mit 16 Jahren - sollten deshalb Elektriker, Mikrochirurgen und Kosmetikerinnen mit 30 besser umschulen? Kaum ein Lehrer schafft es ohne Visite in der Burn-out-Klinik bis in den Ruhestand, das Nervenkostüm scheint mit 45 oder 50 am fragilsten zu sein.

Muskelkraft und Ausdauer gehen ab 35 nach unten, Herz und Kreislauf können mit 20 am stärksten belastet werden. Spricht das für eine Maurer-Bauern-Tischler-Rente ab 40?

Die Filterleistung der Nierenkanälchen, die Elastizität der Venenklappen - alles wird bereits in einem Alter schlechter, in dem die Menschen als Berufsanfänger gelten. Die Produktionskraft der Industrieländer beruht auf Arbeitskräften, die vom Verfall gezeichnet sind.

Das richtige Maß an Bewegung und Ruhe verhindert vorzeitiges Altern. "Durch Sport bleiben die Telomere länger lang, Stress verkürzt sie", sagt Martin Halle. Die Telomere sind Altersfäden in den Chromosomen. Mit zunehmendem Alter werden sie kürzer, daher gelten sie als Zündschnur des Lebens.

Die Medizin versteht den genauen Mechanismus des Alterns noch nicht und hat sich auf die Beschreibung verlegt. Wird ein Patient untersucht, zielt der erste Punkt darauf ab, ob der "altersgemäße Allgemein- und Ernährungszustand" vorliegt. Ist das nicht der Fall, gilt der Patient als "vorgealtert" - oder wird anerkennend als "biologisch jünger" bewertet. Der äußere Schein kann trügen. Mancher Mittfünfziger mag passabel aussehen, wird von Ärzten aber wenig mitfühlend als "Gefäßwrack" eingestuft, weil seine Koronararterien verkalkt und die Hirnschlagadern kaum durchblutet sind. Der Patient sieht sich als Mann in den besten Jahren, der Arzt sieht drohenden Infarkt und Schlaganfall.

"Ein guter Maßstab für die Leistungsfähigkeit ist die maximale Sauerstoffaufnahme", sagt Sportmediziner Halle. "Davon leitet sich das biologische Alter ab." Die Sauerstoffaufnahme ist mit 20 Jahren am höchsten und erfasst eine Kaskade körperlicher Funktionen. Zunächst ist sie dadurch begrenzt, wie viel Sauerstoff in die Lunge passt und in die Äderchen des Lungenbaums gelangt. Dann kommt es auf die Sauerstoffbindung in den Roten Blutkörperchen an, die optimale Pumpbewegung der linken Herzkammer und die Dichte des Kapillarnetzes in Armen und Beinen, wo der Energiestoffwechsel möglichst viel körpereigenen Kraftstoff ATP herstellen muss.

Der Testosteronspiegel sinkt übrigens kontinuierlich zwischen dem 25. und dem 90. Lebensjahr ab. Samenmenge und -qualität werden weniger. Doch weder für Männer noch für Frauen gibt es einen "biologischen Endpunkt für sexuelles Interesse und Kompetenz" wie ein Standardlehrbuch der Physiologie nicht nur für Piloten tröstlich vermerkt.

© SZ vom 02.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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