Süddeutsche Zeitung

Zwangsräumung und Gentrifizierung in Berlin:"In Kreuzberg haben wir das immer so gemacht"

Seit fast 20 Jahren wohnt Familie Gülbol in ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Jetzt wird sie rausgeschmissen. Die Räumung ist ein Großeinsatz der Polizei, Hunderte Demonstranten stemmen sich dagegen. Wo die Mieten stark steigen, nehmen Zwangsräumungen zu. Aber auch der Protest.

Von Artur Lebedew

Es erinnert an eine Protestszene gegen den Castor-Transport. Menschen skandieren Parolen, Polizisten sprühen mit Pfefferspray, ein Hubschrauber kreist über den Köpfen der Menschen. Hier rollt aber kein Zug mit atomarem Abfall. Hier wird Familie Gülbol aus ihrer Wohnung geworfen.

Nach fast 20 Jahren sollen Ali Gülbol und seine Familie aus ihrer Wohnung in Berlin-Kreuzberg ausziehen, so hat es ein Gericht entschieden. Doch der 41-jährige Malermeister will sie behalten, und Hunderte von Freiwilligen unterstützen ihn dabei. Im Oktober 2012 haben sie so schon die erste Zwangsräumung verhindert - ein Novum in Berlin. Doch an diesem Donnerstag können die Demonstranten diesen Erfolg nicht wiederholen.

Seit sechs Uhr morgens blockieren die ersten den Hauseingang, der Gerichtsvollzieher soll nicht in die Wohnung kommen. Auf Twitter beschreiben die Demonstranten die Stimmung.

Gegen halb zehn ist das Chaos vorbei. Über einen Seiteneingang kommt eine Gerichtsvollzieherin in die Wohnung, die Schlösser werden ausgetauscht. Familie Gülbol steht auf der Straße.

Immer mehr Menschen können die Mieten nicht bezahlen

Die Protestler zeigen sich enttäuscht. Sie wollen jetzt durch die Straßen ziehen und gegen Zwangsräumungen demonstrieren. "Die wollen uns hier raushaben", sagt Sara Walther, vom "Bündnis gegen Zwangsräumung": "Aber wir machen da nicht mehr mit!"

Die Berliner Protestgruppe stemmt sich seit Jahren gegen erzwungene Räumungen. Zwar ist unbekannt, wie viele Menschen aus Wohnungen raus müssen, weil ein Gericht es so entschieden hat. Aber wegen steigender Mietpreise in größeren Städten, sei es vor allem in sozial schwächeren Ballungsgebieten anzunehmen, dass immer mehr Menschen die Mieten nicht bezahlen können und ihre Wohnungen verlassen müssten, sagt Anja Franz vom Mieterverein München. "Es werden Vorwände gesucht, die Mieter aus der Wohnung zu drängen".

Walter Gietmann, Vorsitzender des Bundes Deutscher Gerichtsvollzieher, sagt dagegen: "Bei 95 Prozent der Zwangräumungen haben die Menschen die Miete nicht rechtzeitig gezahlt." Wieso die Miete zu spät oder gar nicht gezahlt werde, habe verschiedene Gründe. Arbeitslosigkeit oder Krankheit spielten eine Rolle. Ganz sicher aber auch Mieterhöhungen, die vor allem die sozial Schwachen in bestimmten Stadtteilen träfen.

Gentrifizierung. Das aus dem Englischen eingedeutschte Wort steht für steigende Mieten und Menschengruppen, die deshalb aus einem bestimmten Stadtteil wegzieht. Für besser Verdienende, die ärmere Einwohner aus einer Wohngegend verdrängen. Die Gruppe "Bündnis gegen Zwangsräumungen" kämpft dagegen, auf ihrer Internetseite nennen die Mitglieder Zwangsräumungen die "gewalttätigste Form der Gentrifizierung".

"Immer mehr Menschen ziehen nach Kreuzberg, die vorher hier nicht waren", sagt Protestlerin Walther, da parkten Sportwagen oder Jeeps vor der Haustür, wo früher Fahrräder stünden. Zwar habe sie nichts gegen die Neuen, aber man dürfe die alten Mieter nicht "systematisch aus ihren Wohnungen drängen".

Ali Gülbol sieht sich als Opfer der Justiz. "Nicht ich habe den Rechtsrahmen verlassen", sagt er, "sondern das Recht hat mich verlassen".

Er erzählt die Geschichte so: Nachdem der alte Vermieter das Haus im Jahr 2006 zwangsversetigert hatte, erwarb es der Beliner Immobilieninvestor André Franell. Der neue Vermieter wollte kurz danach 93 Euro mehr Miete, dabei berief er sich auf den örtlichen Mietspiegel. Gülbol wollte das nicht akzeptieren, habe er doch erst vor wenigen Jahren die Wohnung für 20.000 Euro renoviert und mit dem alten Vermieter vereinbahrt, die Miete deswegen nicht zu erhöhen. Schriftlich hatte er den Deal nicht, der alte Vermieter habe es ihm aber mündlich fest zugesagt - "in Kreuzberg haben wir das immer so gemacht", sagt er.

2008 sahen sich beide vor Gericht. Gülbol verlor (PDF). Er legte Revision ein, verlor erneut. Im September 2011 verpflichtete ihn das Landgericht Berlin, die 40 aufgestauten Monatsmieten von zusammen etwa 3700 Euro zu zahlen (PDF). Gülbol zahlte, aber zu spät. "Weder mein Anwalt, noch das Gericht haben mir gesagt, dass ich das Geld innerhalb einer Frist von zwei Monaten überweisen muss", sagt er.

Der neue Vermieter Franell kündigte Gülbol darauf die Wohnung. Wieder begann ein jahrelanger Rechtsstreit, dieses Mal um die Kündigung. Das Landgericht gab Franell Recht. Auch die Revision vor dem Bundesgericht im August 2012 verlor Gülbol. Seither möchte der Immobilieninvestor die Familie aus der Wohnung zwangsräumen. Das hat er an diesem Donnerstag geschafft.

"Die Protestler ärgern zwar mit ihrem Aufstand die Vermieter", sagt Rechtsanwalt Dominik Schüller, eine Zwangsräumung werde aber so auf Dauer nicht verhindert. Früher oder später müssten die Menschen ihre alte Wohnung verlassen. Schüller kennt den Konflikt zwischen Mietern und Vermietern, er hat schon beide Seiten in Prozessen vertreten.

Es gibt zwei Gründe, warum Mieter aus ihrer Wohnung raus müssen: einen rechtlichen und einen wirtschaftlichen. Von der rechtlichen Seite gesehen, seien die Mieter stärker als die Vermieter, sagt Schüller. "Wenn sie sich ordentlich verhalten, kann niemand sie aus der Wohnung drängen". Der Vermieter könne nur in die Wohnung, wenn er dafür Eigenbedarf anmeldet. Das Problem sei, dass die Mieter nicht gut genug über ihre Rechte informiert seien. So komme es vor, dass sie der Aufforderung des Vermieters, die Wohnung zu verlassen, folgten. Obwohl sie das gar nicht müssten.

Aus der wirtschaftlichen Perspektive aber seien vor allem Großinvestoren in der besseren Position, erklärt Anwalt Schüller. Dabei könne der Vermieter auf zwei Arten die Mieterhöhung rechtfertigen. Entweder er passe den monatlichen Wohnungspreis an den örtlichen Mietspiegel an. Dabei müsse eine maximal 20-prozentige Erhöhung auf drei Jahre umgelegt werden. Das gerade beschlossene Gesetz zur Mietrechtsänderung reduziert diesen Wert auf 15 Prozent. Dieses soll vom Frühjahr an gelten.

Oder der Vermieter begründet den höheren Preis mit Modernisierungen. Beliebt seien etwa teure Wärmedämmungen, sagt Schüller. Die Mieter könnten zwar gegen solche Modernisierungen klagen. Ab wann eine bauliche Maßnahme jedoch nötig und angemessen ist, lässt sich häufig erst in einem Gerichtsverfahren klären. Beide Seiten müssten prüfen, ob sie eine solche Klage finanziell durchhalten.

Gülbols hat nur noch eine Chance. Im Moment untersucht der Bundesgerichtshof, seinen Angaben zufolge, ob die Zwangsräumung verhältnismäßig ist. Experten räumen ihm aber geringe Chancen auf Erfolg ein. Für Sara Walther vom Bündnis ist der Protest trotzdem nicht sinnlos. Sie sagt: "Zwangsräumungen sind kein Tabu mehr in der Gesellschaft." Menschen, denen das passiere, würden nicht mehr abschätzig angeschaut. Es könne jeden treffen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1598840
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de/lie/jab
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.