Süddeutsche Zeitung

Wohnen in: Paris:Tut mir leid, Madame

Die Fenster kaputt, das Bad ohne Waschbecken, der Platz knapp, die Miete hoch: Wer in Paris wohnt, muss sich auf allerhand gefasst machen. Die Einwohner schimpfen über ihre Stadt - und lieben sie trotzdem.

Von Nadia Pantel

Der Wahnsinn des Pariser Wohnungsmarkts lässt sich auch an der satten Bräsigkeit der Makler ablesen. Eine kleine Familie bei der Suche nach einer Mietwohnung unterstützen? Fünf von sieben angefragten Maklerbüros sagen ab. Mieter lohnen nicht, Makler helfen nur noch Käufern. Der freundliche Herr, der schließlich eine Ausnahme macht, wirkt, als sei er nur deshalb so eifrig, weil er noch gar nicht richtig mitbekommen hat, dass um ihn herum alle Dämme gebrochen sind. Seit 30 Jahren sitzt er in demselben kleinen Büro, den Computer betätigt er nur im Notfall, in den Regalen um ihn herum parken die Aktenordner in doppelter Reihe. Er vermittelt auf Sympathiebasis. "Ah, tut mir leid, Madame, im Quartier hier bewegt sich leider gerade gar nichts" - es wird noch ein paar Minuten dauern, bis er irgendwann seinen Kugelschreiber aus der Jackentasche holt und anfängt, Notizen zu machen. "Aha, drei Zimmer, gerne sonnig, aha, aha." Dann noch eine weitere Viertelstunde, in der er das vor ihm aufgeführte Theaterstück begutachtet.

Der Titel des Kammerspiels: Familie sucht Herberge und ist sich für nichts zu schade. Unklar, in welchem Moment der Makler entscheidet, dass er darin eine Rolle übernehmen möchte. Aber irgendwann gesteht er die Wahrheit: In den vielen Papierhaufen auf seinem Schreibtisch versteckt sich das Paradies. Ein kleines Häuschen mit Apfelbaum vorm Fenster. Er hat einfach nur gewartet, wem er es wann anbietet. In Paris als Makler zu arbeiten bedeutet nicht, dass man Wohnraum vermittelt. Es bedeutet, dass man über einen geheimen Schatz verfügt, den alle suchen.

Es ist zu eng, zu kalt, zu teuer

Das Paradies, das wird noch vor dem Einzug klar, ist natürlich kein Paradies. Zu den Dingen, welche die Vermieterin bei der Besichtigung verspricht, gehören die Reparatur der Klingel, das Entfernen des Schimmels an den Schlafzimmerfenstern und das Anbringen von ein paar Brettern über der Waschmaschine. Dort befindet sich eine der wenigen Wandflächen, die in diesem Häuschen noch nicht genutzt sind. Wie in so vielen Pariser Wohnungen spiegelt sich auch in diesem Haus die gesamte Stadt: Es ist viel zu eng, und es ist auf genau die Art und Weise alt, die von außen schön aussieht und von innen zerfällt.

Wie kompliziert es ist, in Europas Lieblingsmuseum zu leben, merkt man nicht nur in den eigenen vier Wänden. Selbst für die Mächtigsten ist es nicht ganz einfach. Besucht man den Élysée-Palast, dann wird man zwar einerseits mit einer beeindruckenden Fülle an Blattgold konfrontiert. Doch andererseits braucht es keinen allzu kritischen Blick, um die Risse in den Wänden zu sehen und um zu bemerken, wie sich die Mitarbeiter um elektrische Heizlüfter sammeln, weil die Fenster genauso alt wie undicht sind. Bei einem Besuch im Außenministerium, es wurde wieder einmal die deutsch-französische Freundschaft gefeiert, hatten gerade alle den gemeinsamen Fototermin hinter sich gebracht, als die Berliner Beamten leise zu murren begannen. "Das sieht ja immer toll aus hier, aber am Ende sind wir wieder alle erkältet", sagte der eine zum anderen. Sie waren umringt von Marmor, meterhohen Spiegeln und Kristalllüstern. Doch was hilft all der Pomp, wenn man Angst vor Zugluft hat?

Zurück in das kleine Haus mit dem Apfelbaum. Ein Haus in Paris? Zur Miete? Zugegeben: großes Glück. Und doch sieht man noch viele dieser Häuser. Sie stehen in all den kleinen Nischen, die von Georges-Eugène Haussmann verschont blieben. Mitte des 19. Jahrhunderts begann Haussmann, die großen Boulevards anzulegen, die viele sofort vor sich sehen, wenn sie an Paris denken. Doch Paris besteht nicht nur aus Großbürgerwohnungen, aus mit imperialem Sendungsbewusstsein angelegten Sichtachsen und aus Trottoirs, die so breit sind, dass sie locker noch ein Straßencafé beherbergen können. Gerade an seinen Rändern haben sich kleine Dörfer erhalten. Das alte Paris der Arbeiter, mit Kopfsteinpflaster und manchmal sogar Gärtchen. Das besagte Haus mit dem Apfelbaum wurde vor 200 Jahren gebaut, bis vor 50 Jahren war die Toilette noch ein Bretterverschlag im Innenhof. "Meine Eltern haben hier ganz bescheiden gelebt", sagt die Vermieterin gern. Sie verlangt heute eine absolut unbescheidene Miete und will die alten Zeiten dennoch nicht ganz verloren geben: Das Klo hat sie zwar ins Haus hineinverlegt, doch für ein Waschbecken hat es nicht gereicht. Nur kein falscher Luxus, es gibt ja schließlich die Spüle in der Küche.

Es ist, als wolle die Vermieterin zwei aktuelle Studien belegen. Zum einen die des Wirtschaftsmagazins Economist, das Paris (gemeinsam mit Hongkong und Singapur) als teuerste Stadt der Welt listet. Zum anderen die Mercer-Studie zur Bewertung von Lebensqualität. Dort steht Paris auf Rang: tja. Man weiß es nicht. Online werden nur die ersten 25 Listenplätze angezeigt, und da stehen Orte wie Wien, Zürich und Auckland. Städte also, in denen schon einmal ein Baum gesehen wurde. Nach Paris hingegen kommt niemand wegen der Parks oder der Natur. Alles, was man hier lieben kann, ist aus Stein, Glas oder Gold. Oder aus Alkohol und Käse. Wobei es wichtig ist, dass man sich bei Letzterem am Riemen reißt. Nicht nur die Wohnungen sind klein, auch Metrositze und Cafétische sind schmal. Womit sich der Kreis zu den Mieten schließt: Die Selbstkontrolle wird dadurch unterstützt, dass spätestens am Monatsende kein Geld mehr bleibt, um wunderschön aussehende Törtchen für sieben Euro das Stück zu kaufen. Legt man die Economist- und die Mercer-Studie nebeneinander, könnte man über das Leben in Paris sagen: Man kann es sich kaum leisten, aber immerhin ist es mühsam.

Womit, ein letztes Mal, das Apfelbaum-Haus erwähnt werden muss. Denn die Enge in Paris führt zu zweierlei Wahnsinn. Zum einen das völlige Freidrehen des Immobilienmarkts. Es gehört zu gern gepflegten Pariser Hobbys, beim Sonntagsspaziergang vor den Vitrinen der Maklerbüros stehen zu bleiben und sich gegenseitig die Angebote vorzulesen. "Hast du das gesehen? 30 Quadratmeter für eine halbe Million." "Nein! Oh Gott. Wirklich." Die andere Form des Wahnsinns, der aus dem Platzmangel in dieser lückenlos bebauten Stadt entsteht, betrifft den Einzelnen. Paris kann einen verrückt machen. Es war ein warmer Sommertag, als die Vermieterin des Apfelbaumhauses feststellte, dass ein Gitter vors Fenster muss. Weil sie ein halbes Jahr nach Einzug nicht dazugekommen war, die Klingel zu reparieren, und das Fenster im Erdgeschoss zur Straße hin liegt und als Kontaktzentrale zur Außenwelt dient, sollte das Gitter nicht allzu massig werden, damit jeder Gast weiterhin an die Scheibe klopfen kann. Doch das Anbringen von ein paar Eisenstäben schien angemessen zu sein, seit der Nachbar die Scheibe eingeworfen hatte.

Der Realitätsverlust des Nachbarn hatte lange einen freundlich bis fröhlichen Verlauf genommen. Er saß, sobald die Sonne schien, auf dem Bürgersteig vor seinem Haus und sang vor sich hin. Die ersten Wochen leise, dann immer lauter. Aus dem Singen wurde ein Fluchen. Vor allen Dingen kleine Hunde, die arglos an ihm vorbeispazierten, lösten große Aggressionen in ihm aus. Eines Nachts - soweit man weiß, war kein Hund in der Nähe - warf er einen Stein. Die Scheibe, die dabei zu Bruch ging, war seine eigene. Er hatte vom Wohnzimmer aus Richtung Straße geworfen. Vielleicht hat es geholfen. Jedenfalls begann er bald darauf wieder freundlich zu grüßen. Und die Vermieterin kaufte ein Gitter.

Ein Wasserschaden? Damit lässt sich hier jede Verspätung rechtfertigen

Um Geld zu sparen, bat sie ihren Mann um die Montage. Allseits große Überraschung, als das Gitter fest verschraubt war und sich die zwischen Scheibe und Eisenstäben liegenden Fensterläden nicht mehr öffnen ließen. So ein Fenster ist ja nicht nur zum Dranklopfen wichtig, manchmal soll es auch Licht durchlassen. Der Vermieterinnengatte sagte viele Wörter, die man im Französischunterricht nicht lernt, und erklärte sich zu einem Zweitversuch bereit, diesmal mit geöffneten Fensterläden, damit es nicht so ins Gewicht fällt, falls wieder etwas mit dem Zollstock schiefläuft.

Für solche Situationen ist es nützlich, die vorletzte Lektion des Pariser Lebens gelernt zu haben: Man braucht Freunde, die einem gute Handwerker empfehlen. Letztere sind ähnlich knapp wie der Wohnraum. Daher ist es beinahe noch wichtiger, Freunde zu haben, mit denen man sich gemeinsam über schlechte Handwerker aufregen kann. Wobei es fairer wäre, über die Behörden zu schimpfen, die unter der Stadt prähistorische Rohre vor sich hinrotten lassen. Mit "tut mir leid, ich hatte einen Wasserschaden", kann man in Paris jede Verspätung rechtfertigen. Gern auch quartalsweise, das ist absolut im Rahmen des Glaubwürdigen.

Die letzte Lektion ist schließlich folgende: Man sollte das Leben in Paris so negativ darstellen wie möglich. Das verleiht einem zum einen im Alltag die Aura des Kämpfers gegen alle Widrigkeiten. Zum anderen kommt man dann nicht in die Verlegenheit, erklären zu müssen, warum man die Stadt trotz allem so sehr liebt. Man muss nur so viel jammern und nörgeln, dass niemand auf die Idee kommt, man könne glücklich sein. Und dann ist man es heimlich doch.

Die SZ berichtet in dieser Serie über das Thema Wohnen in wichtigen Städten der Welt. Bisher sind folgende Texte erschienen: Rom (17./18. 8. 2019), Madrid (7./8. 9. 2019), Tokio (21./22. 9. 2019), Istanbul (12./13. 10. 2019), Tel Aviv (2./3. 11. 2019), Bern (16./17. 11. 2019), Peking (30.11./1. 12. 2019), Kapstadt (21./22. 12. 2019) und Lissabon (11./12. 1. 2020).

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Quelle:
SZ vom 25.01.2020
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