Süddeutsche Zeitung

Wohin mit dem Abfall?:Feuer und Flamme

Alte Polystyrol-Dämmstoffe gelten künftig als Sondermüll. Das könnte Sanierungen deutlich teurer machen. Bund und Länder suchen eine Lösung.

Von Ralph Diermann

Styropor, Styropor, Styropor - wo immer auch Dachdeckermeister Christoph Meschede aus Recklinghausen Ende 2016 unterwegs war, ob auf Baustellen oder seinem Betriebsgelände: Überall türmten sich Kunststoffberge auf - allein bei ihm vor dem Büro mehr als dreihundert Kubikmeter. Das Polystyrol-Material stammte aus der Sanierung von Wohn-, Büro- und Gewerbegebäuden, wo es der Dämmung von Fassaden und Dächern diente. Jahrzehntelang wurden ausgediente Dämmplatten einfach in Hausmüll-Verbrennungsanlagen verfeuert. Doch im vergangenen Herbst weigerten sich deren Betreiber plötzlich, das Material anzunehmen. "Es war absolut chaotisch", erinnert sich Meschede. Die Baubranche rief den Entsorgungsnotstand aus, geplante Sanierungen wurden vertagt, Handwerker nahmen keine neuen Aufträge mehr an.

Was war geschehen? Der Bundesrat hat eine Novelle der Abfallverzeichnisverordnung beschlossen, mit der alle Chemikalien als gefährlich eingestuft werden, die von der EU auf die Liste der sogenannten persistenten organischen Schadstoffe gesetzt worden sind. Dazu zählt auch die Bromverbindung HBCD, die bis vor wenigen Jahren als Standard-Flammschutzmittel für Dämmmaterialien aus Polystyrol verwendet wurde. Die EU hat HBCD auf ihre Liste genommen, weil es sich in der Natur anreichert und dazu im Verdacht steht, die Gesundheit von Embryos und Säuglingen zu schädigen. Mit der Verknüpfung von Abfallverzeichnisverordnung und EU-Liste wurden Dämmstoffe mit HBCD automatisch zu Sondermüll, der nur noch in Anlagen mit besonderer Genehmigung verbrannt werden darf.

Fast 800 Millionen Quadratmeter HBCD-haltige Polystyrol-Platten kleben derzeit an deutschen Gebäuden, eine Fläche etwa eineinhalb Mal so groß wie der Bodensee. Dort dürfen sie auch bleiben - Immobilieneigentümer sind nicht verpflichtet, belastete Dämmstoffe auszutauschen, da sie an Dach oder Fassade keinen Schaden anrichten. "Das HBCD ist im Polystyrol so fest gebunden, dass es beispielsweise nicht durch Regen freigesetzt werden kann", erklärt Joachim Wuttke vom Umweltbundesamt (UBA).

Weil das Dämmmaterial sehr langlebig ist, sind die Abfallmengen mit bundesweit wenigen Tausend Tonnen derzeit noch relativ gering. Einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik zufolge steigen sie in den nächsten Jahren jedoch kontinuierlich an. So muss Mitte des nächsten Jahrzehnts bereits drei bis fünf Mal mehr Material entsorgt werden als heute - der überwiegende Teil davon mit HBCD belastet, denn die letzten Hersteller sind erst 2015 auf andere, unproblematische Stoffe ausgewichen.

Baubranche und Immobilienwirtschaft halten die Entscheidung des Bundesrats für fatal. "Der Beschluss ist eine Katastrophe, weil es kaum Anlagen gibt, die HBCD-haltiges Polystyrol als gefährlichen Abfall entsorgen dürfen", erklärt Michael Heide, Geschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes (ZDB). Neben dem logistischen Problem bei der Entsorgung ausrangierter Dämmplatten bereitet die Regelung der Branche aber auch in finanzieller Hinsicht Kopfschmerzen. "Früher kostete die Entsorgung einer Tonne Polystyrol-Dämmung etwa 130 Euro. Mit der Klassifizierung als gefährlicher Abfall sind die Preise auf bis zu 8000 Euro in die Höhe geschnellt", sagt Heide. Für Eigentümer sanierungsbedürftiger Einfamilienhäuser mit Flachdach zum Beispiel bedeute das Mehrkosten von mehreren Tausend Euro. "Wir klagen in Deutschland, dass die Sanierungsrate so gering ist. Warum verursacht die Politik dann solche unnötigen Zusatzkosten?", fragt der ZDB-Geschäftsführer. Der Immobilienverband GdW spricht in einer Erklärung zur Deklaration der HBCD-belasteten Dämmstoffe als Sondermüll von einem "unnötigen Hindernis für das bezahlbare Wohnen".

"Der etablierte Entsorgungsweg ist unproblematisch und sicher", heißt es beim Bundesumweltamt

Gute Gründe also für Immobilienwirtschaft, Baubranche und Handwerkerverbände, die Politik zu einer Rücknahme der Regelung aufzufordern. Einen ersten Erfolg haben sie bereits erzielt: Seit Anfang Januar gilt ein einjähriges Moratorium, während dessen die HBCD-haltigen Dämmplatten wie gewohnt in konventionellen Müllverbrennungsanlagen entsorgt werden dürfen. Damit hat sich die Lage erst einmal entspannt. "Wir werden das Material momentan relativ problemlos los", berichtet Dachdecker Meschede. Auch die Preise für die Entsorgung seien deutlich zurückgegangen.

Bund und Länder wollen die Atempause nun nutzen, um gemeinsam nach einer dauerhaften Lösung zu suchen. Auf der letzten Sitzung der gemeinsamen Arbeitsgruppe Ende März zeichnete sich allerdings noch keine Einigung ab. Die Branchenverbände fordern, die Entsorgung so zu regeln, wie es vor der Novelle der Fall war. "Die Temperatur in den Hausmüll-Verbrennungsanlagen ist so hoch, dass das in den Dämmstoffen gebundene HBCD vollständig zerstört wird. Aus Sicht des Gesundheitsschutzes gibt es daher keinen Anlass, von der bewährten Praxis Abstand zu nehmen", sagt Heide. Diese Position teilt er mit dem Umweltbundesamt. "Der etablierte Entsorgungsweg ist unproblematisch und sicher", sagt UBA-Experte Joachim Wuttke. "Wie eine Studie in Würzburg gezeigt hat, ist die Entsorgung von HBCD-belasteten Dämmstoffen in Müllverbrennungsanlagen problemlos möglich."

Die Deutsche Umwelthilfe und der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring fordern dagegen, die Einstufung als Sondermüll beizubehalten. Das soll der Entsorgungswirtschaft einen Anreiz geben, Kapazitäten für das Recycling von HBCD-belastetem Material aufzubauen. Bisher gibt es nämlich noch keine Anlagen, die größere Mengen ausrangierter Dämmplatten aufbereiten könnten. Denn die EU verlangt, dass neue Produkte weitgehend HBCD-frei sein müssen. Es wäre jedoch sehr aufwendig und teuer, das Flammschutzmittel aus altem Polystyrol zu lösen.

Wenn schon Recycling keine Option ist, dann bleibt Hausbesitzern, denen ihre alte Dämmung nicht mehr genügt, noch eine andere Möglichkeit: einfach eine weitere Dämmschicht auf das alte Material zu packen. Gelöst ist das Entsorgungsproblem mit diesem sogenannten Aufdoppeln zwar nicht, aber immerhin erst einmal auf lange Sicht vertagt. Und wer weiß, vielleicht ist es bis dahin dann auch möglich, den giftigen Kunststoffschaum wiederzuverwerten.

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Quelle:
SZ vom 28.04.2017
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