Süddeutsche Zeitung

Welt in der Schuldenkrise:Die Angstwirtschaft

An den Börsen grassiert eine neue Angst: Die drakonischen Sparprogramme in nahezu allen Industrieländern könnten den zarten Aufschwung der Weltwirtschaft abwürgen.

M. Hesse, C. Hoffmann und N. Piper

Die Furcht vor einem "Double Dip", dem Rückfall in eine neue Rezession, führte am Freitag zu einem weiteren Kursrutsch an den Weltbörsen. An der Wall Street ist der Dow-Jones-Index unter die Marke von 10.000 Punkten gesunken.

Bereits am Donnerstag hatte der Index sämtliche Gewinne dieses Jahres wieder abgeben müssen. Anleger fürchten, dass Europa die Griechenland-Krise nicht in den Griff bekommt. Darunter leiden auch die Rohstoffpreise. Die Notierungen für Rohöl fielen seit Anfang Mai von 87 auf 69 Dollar, weil der Aufschwung in Europa und den USA auf wackeligen Beinen steht.

Erstmals seit Beginn der Wirtschaftskrise melden zwar alle großen Volkswirtschaften wieder Wachstum - aber viel zu wenig, um die Krise hinter sich zu lassen.

Erwartungen gegen Null

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte schon im April seine Wachstumsprognose für den Euro-Raum leicht um 0,1 Punkte auf 1,5 Prozent gesenkt; jetzt gehen die Erwartungen gegen Null. In Deutschland nahm die Wirtschaftsleistung im ersten Quartal im Vergleich zum Vorquartal nur um 0,2 Prozent zu. Die Zweifel sind groß, ob der von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) in Aussicht gestellte "selbsttragende Aufschwung" kommt, ob die Wirtschaft also ohne Staatshilfe wächst.

Die Zweifel plagen auch Dominique Strauss-Kahn. Der IWF-Chef warnte Deutschland und Frankreich davor, das Wachstum abzuwürgen, indem sie ihre Haushaltsdefizite allzu beherzt senken.

"Wir müssen die Defizite reduzieren, dürfen aber keinen zu großen Druck ausüben", sagte Strauss- Kahn. Ein Defizit von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wie es der Stabilitätspakt vorsieht, sei nicht in Stein gemeißelt. Griechenland, Portugal und Spanien müssten indes ihre Schulden zurückführen.

Wo das Wachstum herkommen soll, weiß niemand

Der synchrone Schuldenabbau in den Euro-Staaten könnte die Weltwirtschaft weiteres Wachstum kosten. "Es besteht das echte Risiko, dass das Problem größer und schlimmer wird," sagte Arnab Das, Analyst bei der Researchfirma Roubini Global Economics.

"Wenn diese Budgetkürzungen durchkommen, wird dies möglicherweise einen scharfen Rückgang in den Volkswirtschaften der Eurozone auslösen." Andere Volkswirte teilen seine Skepsis. "Wenn nahezu alle Industrienationen drakonisch sparen, bleibt das Wachstum auf der Strecke," glaubt auch Andreas Rees, Volkswirt bei Unicredit.

Zudem bestünde die Gefahr, dass einige Länder die Steuern erhöhten. Die Belastung könnte für einige Länder zu hoch sein, deren Wirtschaftsmodell in Scherben liegt, fürchten die Ökonomen.

Spanien beispielsweise steht in den Ruinen eines schuldenfinanzierten Baubooms und beklagt 20 Prozent Arbeitslosigkeit. Wo das Wachstum künftig herkommen soll, weiß niemand so genau.

Doch erst einmal genehmigt sich Europa noch mehr Schulden. Mit knapper Koalitionsmehrheit beschloss der Bundestag am Freitag Kreditgarantien für notleidende Euro-Staaten. Vorausgegangen war eine emotionale Debatte. Das Parlament billigte den deutschen Anteil an dem 750-Milliarden-Rettungspaket. "Ein unkalkulierbares Abenteuer und eine sichere Wachstumsbremse" sei der Rettungsschirm für Deutschland, warnte Ifo-Chef Hans-Werner Sinn.

An der Börse, so scheint es, wird seine Einschätzung geteilt. Nicht nur das Gezerre um die Hilfspakte macht die Anleger nervös. Nach Meinung vieler Marktteilnehmer in New York verschärfen die Deutschen mit dem Verbot ungedeckter Leerverkäufe und der geplanten Transaktionssteuer die Lage noch. Die Aktionen gelten als unprofessionell und Zeichen, dafür, dass Berlin mit der Krise überfordert ist.

Getrübte Stimmung

Die Stimmung trübt sich auch in den Chefetagen der Unternehmen ein, wenn auch nur leicht. Der Ifo-Geschäftsklimaindex sank im Mai erstmals seit 16 Monaten.

Deutlicher noch ging in der Eurozone der Einkaufsmanager-Index zurück, ein Barometer für das Wirtschaftsklima. Es sind jenseits der aufgewühlten Finanzmärkte die ersten Anzeichen für ein Ende des Aufschwungs. 2011 könnte für die exportorientierte deutsche Wirtschaft ein schwieriges Jahr werden.

Auch in den Vereinigten Staaten mehren sich die Hinweise auf eine Schwächung der Konjunktur. Die Kerninflationsrate, also der Anstieg der Verbraucherpreise unter Ausschluss von Energie- und Lebensmittelkosten, lag im April bei 0,4 Prozent und war damit so niedrig wie seit 44 Jahren nicht mehr.

Schlimmes Vorbild Japan

Für Ökonomen ist dies kein Grund zur Freude, sondern zur Sorge. Sie sehen die Gefahr, dass Amerika in eine Phase der Stagnation und der Deflation geraten könnte. Als alarmierend gilt besonders die Tatsache, dass die Preise noch deutlich langsamer steigen als am Tiefpunkt der Rezession.

Damals, im ersten Quartal 2009, lag die Kerninflation bei 1,8 Prozent. Als schlimmes Vorbild gilt dabei das "verlorene Jahrzehnt" Japans. Nach einer schweren Finanzkrise hatte die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde während der gesamten neunziger Jahre in der Deflationsfalle gesteckt.

Zu den Sorgen passt, dass sich der US-Arbeitsmarkt langsamer erholt als erhofft. Vorige Wochen stiegen die Neuanträge auf Arbeitslosenunterstützung in den USA überraschend um 25.000 auf 471.000.

Zwei Geschwindigkeiten

Das Grundproblem liegt darin, dass die Weltwirtschaft derzeit mit zwei Geschwindigkeiten wächst. Die Konjunktur wird noch angetrieben von den Entwicklungs- und Schwellenländern; in China wächst die Wirtschaft mit einer Jahresrate von 10,0 Prozent, in Indien von 8,8 Prozent und in Brasilien von 5,5 Prozent.

In den meisten Industrieländern war das Wachstum dagegen schon vor Ausbruch der Euro-Krise schwach, weil die Banken ihre Schulden abbauen müssen und die Wirkung der vielen Konjunkturprogramme langsam ausläuft.

In den meisten Schwellenländern droht das Gegenteil: Inflation. So rechnet Indien in diesem Jahr mit einer Preissteigerung von nicht weniger als 13,2 Prozent und muss gegensteuern.

Die chinesische Regierung hat bereits konjunkturdämpfende Maßnahmen eingeleitet. Daher dürften die Wachstumsraten dort zurückgehen. Die Importnachfrage aus den Schwellenländern werde nachlassen und die Dynamik des Welthandels dämpfen, heißt es in einem Bericht von Roubini Global Economics.

In China sei "die rasante Entwicklung zu schön, um wahr zu sein, oder zumindest zu schön, um noch lange anzuhalten", meint Marco Annunziata, Chefanalyst bei Unicredit. Besonders die deutsche Exportwirtschaft hatte zuletzt von der Erholung des Welthandels profitiert.

Massive Finanzierungsprobleme

Ein möglicher Rückfall in die Rezession könnte noch die durch europäischen Banken beschleunigt werden. Der Präsident des Bundesverbands Mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, hat soeben erklärt, die Hälfte von 1300 zu dem Thema befragten Unternehmen beklagten massive Finanzierungsprobleme.

Vieles spricht aber dafür, dass sich die Finanzierungssituation der Unternehmen weiter verschlechtern könnte. "In den nächsten drei bis vier Monaten wird man vermutlich wieder von mehr Unternehmen hören, die Finanzierungsprobleme haben", sagt Michael Baur von der Unternehmensberatung Alix Partners.

Die Banken hätten Angst, dass es wieder Probleme am Interbankenmarkt gibt. Außerdem stießen mehr und mehr Firmen an ihre Grenzen, sich aus eigenen Reserven und Gewinnen zu finanzieren.

Wie mit dem Wetter

Es könnte künftig noch schwieriger werden, Geld zu verleihen. Die Aufsichtsbehörden arbeiten an neuen Vorschriften, die dazu führen werden, dass Banken weit mehr Kapital vorhalten müssen als bisher. Die Investmentbank Morgan Stanley schätzt, dass europäische Banken aufgrund der zu erwartenden Regeln mehr als 80 Milliarden Euro zusätzliches Kapital brauchen oder ihr Kreditvolumen eben entsprechend reduzieren müssen.

Weil sich Banken schon im vergangenen Jahr scheuten, große Kredite auszureichen, wichen viele Unternehmen auf den Anleihemarkt aus, um ihren Kapitalbedarf zu decken. Doch dort wird es zunehmend schwierig ist, Käufer für Firmenanleihen zu finden. Nach Zahlen von Thomson Reuters wurden Anfang Mai so wenige Unternehmensanleihen ausgegeben, wie seit 1990 nicht mehr.

Die Zeichen stehen nicht gut für die Weltwirtschaft, auch wenn die Zahlen der Konjunkturforscher noch keine Absturz erkennen lassen. Doch mit der Wirtschaft verhält es sich wie mit dem Wetter. Wenn ein frischer Wind an den Börsen weht, fühlt sich der Frühling gleich viel kälter an.

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Quelle:
SZ vom 22.05.2010/pak
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