Süddeutsche Zeitung

Wachsende Ungleichheit:Armut ist teuer

  • Die Nettoprivatvermögen in Deutschland wachsen rasch.
  • Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen fünf Billionen Euro.
  • Die sich selbst verstärkende Armut ist in Anlehnung an ein Zitat aus den Evangelien als der Matthäus-Effekt bekannt.

Von Lea Hampel und Pia Ratzesberger

Jede Sekunde nimmt der Reichtum zu. Wer auf die Internetseite der Nationalen Armutskonferenz geht, kann sehen, wie schnell das Nettoprivatvermögen in Deutschland wächst. Ein einziges Flimmern, nie stehen die Ziffern still. Viel wichtiger noch als diese Summe sind aber die beiden Angaben darunter. Sie zeigen, wie viel die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen, etwa fünf Billionen Euro - und wie wenig das untere Zehntel hat, nämlich Schulden von 16 bis 17 Milliarden Euro. Die schlichte Botschaft: Wer reich ist, wird reicher. Wer arm ist, muss sich sehr anstrengen, nicht noch ärmer zu werden. Denn hohe Kosten für Grundbedürfnisse wie Energie und Ernährung treffen diejenigen besonders hart, die ohnehin Mangel leiden.

"Menschen, die wenig Geld haben, leben immer von der Hand in den Mund", sagt der Armutsforscher Ernst-Ulrich Huster. Weil am Ende des Monats kein Geld übrig ist, besteht keine Möglichkeit, nachhaltig zu investieren. "Wenn man in einer Knappheits-Ökonomie lebt, bleibt wenig Autonomie", sagt Huster. Das Leben sei eher ein permanentes Löcherstopfen: Hat man gerade erst mit Mühe ein Loch gestopft, tut sich schon das nächste auf.

Geht zum Beispiel die Waschmaschine kaputt, gibt es mehrere Möglichkeiten. Die alte durch eine hochwertige aber möglicherweise auch hochpreisige zu ersetzen, die länger hält. Oder eine neue, günstige zu kaufen, die bald wieder kaputtgeht. Oder in den Waschsalon zu gehen. Die Varianten zwei und drei sind zwar langfristig teurer - doch für manche Menschen die einzige Option.

Denn ihnen mangelt es oft nicht nur an Geld, sondern auch an Zeit. Wer permanent mit der kurzfristigen Lösung von Problemen beschäftigt ist, hat keine Kapazitäten zur Planung und zur Information. Wer kostenlose oder geförderte Angebote aber nicht kennt, kann diese auch nicht nutzen - und zahlt wieder drauf.

Außerdem ist Geld Vertrauenssache: Wer weniger hat, dem wird weniger Vertrauen entgegengebracht. Sei es von Banken, die von einkommensschwachen Schuldnern höhere Zinsen verlangen, oder von Verkäufern, die den Kunden im schicken Anzug besser behandeln als denjenigen mit abgetragener Kleidung.

Nun ist sich selbst verstärkende Armut keine neue Tendenz. Aus gutem Grund ist das Gegenteil als "Matthäus-Effekt" bekannt: Wo sich Ruhm, Aufmerksamkeit und Reichtum bündeln, wachsen diese exponentiell aufgrund der besseren Ausgangsbedingungen; das viel zitierte "wer hat, dem wird gegeben" stammt aus dem Matthäus-Evangelium. Und weiter: "Wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat." Denn wo die Ausgangsbedingungen schlecht sind, dort vermehren sich die Probleme. So hat die Ungleichheit in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren erheblich zugenommen. In keinem Land der Euro-Zone war das Vermögen laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 2013 so ungleich verteilt wie hier.

Das ist auch aus ökonomischer Sicht problematisch, denn Ungleichheit hemmt Wachstum. In den Jahren von 1990 bis 2010 zum Beispiel ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um etwa 26 Prozent gestiegen. Bei konstanter Einkommenungleichheit hätte es der OECD zufolge um etwa sechs Prozentpunkte höher liegen können. Das Argument, Ungleichheit führe zu mehr Wettbewerb und so zu mehr Wachstum, lässt sich demnach kaum halten. Die Wissenschaftler Kate Pickett und Richard Wilkinson argumentieren zudem, dass gerade in reichen Ländern Ungleichheit soziale Probleme befördere, sie korreliere unter anderem mit Krankheit und Kriminalität. Das wiederum verursacht hohe Folgekosten, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden müssen. Armut ist also nicht nur für den Armen teuer - sondern für alle.

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SZ vom 14.03.2015/hgn
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