Vor allem bei psychischen Krankheiten:Wenn Versicherer bei Berufsunfähigkeit nicht zahlen

Rund 17 Millionen Deutsche haben eine solche Police abgeschlossen. Doch es häufen sich die Fälle, in denen die Versicherungen nicht zahlen wollen. Vor allem psychisch Kranke sind betroffen.

Andreas Jalsovec

Am Tiefpunkt ihrer Krankheit war Sylvia H. wie gelähmt: "Ich konnte gar nichts mehr machen", sagt sie. "Nicht mehr arbeiten, nichts im Haushalt tun, nicht einmal Autofahren." Das war im Sommer vergangenen Jahres. Alles war ihr zu viel geworden: Der tägliche Druck in der Arbeit als Krankenschwester, die Pflege der Großeltern, die schwere Krankheit ihres Mannes. "Ich konnte nicht loslassen, wollte alles besonders gut machen", berichtet die 37-Jährige, die ihren vollständigen Namen nicht nennen möchte.

Dann kam der Zusammenbruch: Eine "posttraumatische Belastungsstörung" und mittelschwere Depressionen bescheinigten die Ärzte der Niederbayerin. Arbeiten ging nicht mehr. Ihre Sozialstation kündigte ihr. Das Geld der Familie wurde knapp. Sylvia H. beantragte Leistungen aus ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung, die sie vor gut zehn Jahren bei der Nürnberger Versicherung abgeschlossen hatte. "Dann ist man im Notfall abgesichert - so dachte ich damals", erzählt sie. Doch jetzt, da der Fall eingetreten ist, will die Versicherung nicht zahlen.

Sylvia H. ist nicht die einzige, der ein Versicherungsunternehmen Zahlungen aus der Berufsunfähigkeitspolice verweigert. "Solche Fälle häufen sich", berichtet Sascha Straub von der Verbraucherzentrale Bayern. Vor allem die Anträge psychisch Kranker würden abgelehnt. Für Verbraucherschützer kein Zufall: Der Anteil derer, die wegen psychischer Probleme berufsunfähig werden, wächst seit Jahren. Laut Analysehaus Morgen & Morgen liegt er derzeit bei gut einem Viertel - Tendenz weiter steigend.

"Die Branche fürchtet, dass psychische Erkrankungen zum Massenproblem werden", meint Michael Ratzmann. Der unabhängige Versicherungsberater aus dem fränkischen Rattelsdorf berät etliche Klienten, die mit ihrer Versicherung wegen der Zahlungen bei Berufsunfähigkeit im Clinch liegen. Er ist sicher, dass solche Streitigkeiten künftig zunehmen werden.

Der Hintergrund: Im Jahr 2001 entfiel der gesetzliche Berufsunfähigkeitsschutz. Seitdem haben 17 Millionen Menschen eine private Versicherung abgeschlossen. Viele von ihnen kommen nun in ein Alter, in dem gesundheitliche Probleme zunehmen - und damit auch die Zahl der Berufsunfähigkeitsfälle. "Da rollt eine Welle auf die Versicherer zu", so Experte Ratzmann. Sie kann für die Firmen teuer werden. Denn die fälligen Renten laufen oft über einen langen Zeitraum. Die Firmen reagieren darauf offenbar mit einer härteren Gangart gegenüber den Versicherten. "Ansprüche auf Zahlungen werden abgeschmettert - egal, welche Gutachten die Versicherten beibringen", berichtet Verbraucherschützer Straub.

Drei Ärzte sagen, sie könne nicht mehr arbeiten. Doch die Versicherung zahlt nicht

Auch Sylvia H. hat diese Erfahrung gemacht. Bescheinigungen von drei Ärzten habe sie ihrer Versicherung vorgelegt. Aus allen geht hervor, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann. Die Nürnberger Versicherung zahlt dennoch nicht. Begründung: Gerade bei psychischen Beschwerden müssten die gestellten Diagnosen "kritisch hinterfragt" werden. Bei Sylvia H. bestehe nur eine "leichtgradige depressive Episode mit geringfügigen beruflichen Einschränkungen". Im Übrigen sei Arbeitsunfähigkeit nicht mit Berufsunfähigkeit gleichzusetzen.

Die Versicherung stützt ihr Urteil auf ein Gutachten, das sie selbst in Auftrag gegeben hat. Erstellt hat es ein Institut, das für verschiedene Versicherer solche Fälle prüft. An Objektivität und Qualität der Gutachten gibt es jedoch Zweifel. Verbraucherschützer Straub und Versicherungsberater Ratzmann berichten übereinstimmend: In den ihnen bekannten Fällen hätten die Gutachter stets zugunsten der Versicherung entschieden. Der Grad der Berufsunfähigkeit wurde zumeist auf 20 Prozent taxiert. Zum Teil seien Textpassagen aus einem Gutachten in anderen aufgetaucht. "Da heißt dann ein Patient auf einmal beispielsweise Huber statt Müller", so Ratzmann.

Verbraucherschützer Straub fordert deshalb eine gesetzliche Regelung, wann Versicherungen ein eigenes Gutachten in Auftrag geben dürfen: "Nur so lässt sich verhindern, dass Expertisen zum Nachteil der Versicherten missbraucht werden." Beim Gesamtverband der Versicherer weist man das zurück. Die Unternehmen müssten zu jeder Zeit feststellen können, ob ein Leistungsfall vorliegt und dafür auch Gutachten in Auftrag geben: "Nicht zuletzt um das Versicherungskollektiv durch ungerechtfertigte Auszahlungen nicht zu schädigen."

Versicherten bleibt einstweilen oft nur der Gang vors Gericht - sofern sie nach den langen und zermürbenden Monaten des Streits mit dem Versicherer noch Kraft dazu haben. Viele geben vorher auf. "Darauf hoffen einige Versicherer ja", sagt Sascha Straub. Auch Sylvia H. setzte diese Zeit sehr zu. "Die Versicherung hat dazu beigetragen, dass ich noch tiefer in die Depression gerutscht bin", sagt sie. Doch aufgeben wird sie nicht. Sie hat sich einen Anwalt genommen und will klagen: "Auch, damit andere erfahren: Auf die Versprechen der Versicherer ist kein Verlass."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: