Vom Finanzdebakel zur Weltwirtschaftskrise:Wall Street im Notverkauf

Mit dramatischen Aktionen versucht Amerikas Notenbank Fed eine Weltwirtschaftskrise abzuwenden - die Angst vor einem Bankencrash ist riesig. Dass der amerikanischen Realwirtschaft eine lange Rezession droht, daran zweifelt niemand mehr.

Nikolaus Piper

Es begann vor über einer Woche mit Gerüchten: Bear Stearns, die fünftgrößte Investmentbank der Vereinigten Staaten, werde bald zahlungsunfähig sein, hieß es unter Händlern an der Wall Street. Verzweifelt hielt der Chef der Bank, Alan Schwartz, dagegen. An den Gerüchten sei "absolut nichts dran", erklärte er : "Bear Stearns' Bilanz, Liquidität und Kapital sind stark."

Vom Finanzdebakel zur Weltwirtschaftskrise: Gut möglich, dass die Weltwirtschaft am Wochenende einer Katastrophe entgangen ist.

Gut möglich, dass die Weltwirtschaft am Wochenende einer Katastrophe entgangen ist.

(Foto: Foto: AP)

Die Gerüchte aber verstummten nicht. Ob sie von Beginn an stimmten oder sich letztlich selbst bewahrheiteten, ist unklar. Am vergangenen Donnerstag jedenfalls war Bear Stearns am Ende. Geschäftspartner der Bank hatten zusätzliche Sicherheiten verlangt - Geld, das die Bank nicht besaß. Gegen Abend teilte Alan Schwartz der Börsenaufsicht SEC dann mit, er werde Gläubigerschutz beantragen müssen, falls nichts geschehe.

In einer dramatischen Nachtaktion verschafften Behörden und Banker dem bedrängten Institut daraufhin eine Atempause: Die Großbank JP Morgan Chase gewährte Bear Stearns eine Kreditlinie, und die Notenbank Federal Reserve stand dafür gerade. Am Sonntagabend New Yorker Zeit, rechtzeitig vor Öffnung der Aktienbörsen in Asien, kam schließlich die Nachricht von der Rettung der Bank - eine Rettung, die gleichzeitig das Ende des Geretteten bedeutet. JP Morgan kauft Bear Stearns für 235 Millionen Dollar.

Gut möglich, dass die Weltwirtschaft am Wochenende einer Katastrophe entgangen ist. Dass es bei der Aktion ums Ganze ging, zeigt jedenfalls der Preis, für den die 85 Jahre alte Investmentbank den Besitzer wechselte. Vor einer Woche hatte eine Bear-Stearns-Aktie noch 70 Dollar gekostet, jetzt zahlt JP Morgan ganze zwei Dollar. Manche Beobachter in New York sagen, allein das Hochhaus von Bear Stearns sei mehr wert, als die Summe, die JP Morgan gezahlt hat.

So etwas nennt man in Amerika einen "fire sale", einen Notverkauf. Besonders wichtig ist die Beteiligung der Notenbank Fed an der Aktion: Sie stellt JP Morgan einen Kredit über 30 Milliarden Dollar zur Verfügung; besichert wird er durch Wertpapiere von Bear Stearns, und zwar solche, deren Preis in der jetzigen Krise schwer ermittelbar ist und die daher kaum verkäuflich sind. Sollte der Wert niedriger sein als erhofft, müssten die amerikanischen Steuerzahler einspringen - ein klarer Tabubruch für die Fed.

Auf der nächsten Seite: Ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte: die Fed ergreift Maßnahmen, die mehrere Grenzen überschreiten.

Wall Street im Notverkauf

Mit einer zweiten Maßnahme überschritt die Notenbank gleich mehrere Grenzen. Sie senkte die Zinsen, außer Plan, an einem Sonntag: Der Diskontsatz, zu dem sich Banken direkt bei der Fed Geld leihen können, geht um einen Viertelpunkt auf 3,25 Prozent zurück. Und, am wichtigsten: Künftig dürfen sich nicht nur regulierte Geschäftsbanken, sondern auch "primary dealer", also Investmentbanken, direkt bei der Fed verschulden. Der Präsident der Notenbank, Ben Bernanke, nutzte damit eine kaum bekannte Ausnahmeregelung aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise.

"Liquide, gut funktionierende Finanzmärkte" seien eine "Voraussetzung für die Förderung des Wirtschaftswachstums," erklärte die Fed zu Begründung. Was bedeutet, dass diese Voraussetzung jetzt gefährdet ist. Am Dienstag dürfte die Notenbank ihren Leitzins nochmals senken. Nach den jüngsten Ereignissen rechnen Experten damit, dass sie dies um einen ganzen Prozentpunkt auf dann 2,0 Prozent tun wird. Auch das wäre ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte.

Was Politiker und Banker fürchten, ist ein Bankenkrach - im Stile des 19., aber mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts. Zu so einem Krach kommt es immer dann, wenn das Publikum fürchtet, ein Kreditinstitut könne die Einlagen seiner Kunden nicht zurückzahlen. In früheren Zeiten bildeten sich dann lange Schlangen verzweifelter Sparer an den Bankschaltern.

Heute ziehen Hedgefonds und andere Investoren ihr Geld von dem bedrängten Institut ab; beim Zusammenbruch der britischen Bank Northern Rock im vergangenen Jahr allerdings hatten die Kunden nochmals im alten Stil die Bank gestürmt. Den letzten großen Bankenkrach erlebten die Vereinigten Staaten 1907. Damals rettete der Stahlmagnat John Pierpont Morgan das US-Finanzsystem; er gründete eine Bank, die, Ironie der Geschichte, zu den Vorläufern jener JP Morgan Chase gehört, die jetzt Bear Stearns für einen Spottpreis erwirbt.

Ein Bankenkrach ist deshalb so gefährlich, weil dabei auch völlig gesunde Institute in den Strudel der Vertrauenskrise geraten können. Deshalb warten die Experten an der Wall Street jetzt besorgt auf die nächsten Geschäftszahlen anderer Banken. Besonders im Blick steht die Investmentbank Lehman Brothers, deren Ergebnisse am Dienstag veröffentlicht werden.

Die Ratingagentur Moody's bestätigte am Montag zwar die hohe Kreditwürdigkeit von Lehman, äußerte sich aber besorgt über die Zukunft, weil die Bank viel Geld in Immobilienwerte investiert hat. Der Aktienkurs von Lehman ist seit Jahresbeginn um 40 Prozent eingebrochen; am Montag verlor die Aktie bei Handelseröffnung an der Wall Street nochmals mehr als 14 Prozent.

Auch der Star der Wall Street, Goldman Sachs, dürfte am Dienstag deutlich schlechtere Zahlen veröffentlichen. Die Bank ist jedoch so gut mit Kapital ausgestattet, dass sich um deren Zukunft niemand Sorgen macht. Dagegen verlor UBS, die größte Bank Europas, am Dienstag 14 Prozent an Wert.

Die dramatische Verschärfung der Finanzkrise wird auch Folgen für die Realwirtschaft haben: Niemand zweifelt mehr, dass sich die Vereinigten Staaten in einer Rezession befinden; die Rezession dürfte auch länger dauern und tiefer werden als viele Experten bisher gehofft hatten. Ob Europa von dieser Rezession verschont werden wird, ist noch offen.

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