Versicherungen:Widersprechen statt kündigen

Viele alte Lebens- und Rentenversicherungen lassen sich rückabwickeln - auch wenn sie schon lang gekündigt sind. Ein Onlinerechner hilft beim Abschätzen der Ansprüche.

Von Berrit Gräber

Wer aus einer privaten Lebens- oder Rentenversicherung aussteigen will, kann sich eine verlustreiche Kündigung in vielen Fällen sparen. Denn Millionen Versicherte wurden bei Vertragsabschluss nicht korrekt über ihr Widerspruchsrecht informiert - und haben deshalb Anspruch auf die Rückabwicklung der kompletten Police. Das bringt viel mehr Geld, als zu kündigen. Wie schon beim Widerruf von Immobilienkrediten bilden auch hier Urteile des Bundesgerichtshofs (BGH) die Grundlage für die neue Möglichkeit zum Aussteigen. Mit einem Online-Rechner der Verbraucherzentrale Hamburg können Versicherte zudem erstmals selbst abschätzen, wie viel Erstattung für sie drin ist.

Das ist die Rechtslage

Seit einem BGH-Grundsatzurteil 2014 ist es möglich, privaten Kapitallebens- und Rentenverträgen rückwirkend zu widersprechen (Az. IV ZR 76/11). Betroffen sind Policen aus der Zeit zwischen dem 21. Juli 1994 und dem Ende 2007, Riester- oder Rürup-Verträge eingeschlossen. Voraussetzung ist, dass der Versicherer nicht ordnungsgemäß über das Widerspruchsrecht belehrt und informiert hat. Dann kann der Kunde jederzeit zurücktreten. Das gilt auch, wenn die schriftliche Belehrung ganz fehlte, wenn Fristen missverständlich formuliert oder andere Formalien nicht korrekt sind. "Wir halten über 60 Prozent der Widerspruchsbelehrungen im fraglichen Zeitraum für unwirksam", sagt Kerstin Becker-Eiselen, Versicherungsexpertin der Verbraucherzentrale Hamburg.

Vater mit Kind

Wer seine Kapitallebensversicherung rückabwickelt, verliert auch andere Teile der Police, etwa den Schutz im Todesfall oder bei Berufsunfähigkeit.

(Foto: Beth Berr)

Das galt bisher

Etwa jeder zweite der aktuell 91 Millionen Lebensversicherungsverträge wird vorzeitig beendet. Viele Kunden halten das lange Sparen nicht durch, haben oft mehrere Policen und Mühe, die Prämien aufzubringen. Andere sind unzufrieden, weil die fondsgebundene Lebensversicherung kein gutes Geschäft ist oder der Ertrag der Rentenpolice allzu mager ausfällt. Wer vorzeitig raus will, muss normalerweise kündigen und hohe Einbußen in Kauf nehmen. Je jünger der Vertrag ist, desto größer der Verlust. Durch die BGH-Rechtsprechung kann es deutlich lukrativer sein, auf Rückabwicklung der Police zu dringen.

So viel gibt es zurück

Kündigt der Kunde, erhält er nur den Rückkaufswert der Police, beim Widerspruch lassen sich dagegen viele hundert bis tausend Euro mehr zurückholen. Denn neben den Prämien muss der Versicherer auch die Abschluss- und Verwaltungskosten erstatten, wie der BGH 2015 urteilte (Az. IV ZR 384/14). Obendrauf kommt noch eine Verzinsung, die zwischen drei und sieben Prozent pro Jahr ausmachen kann. Abgezogen wird nur ein relativ geringer Betrag für den Risikoschutz. Im Fall eines Ehepaars aus Sachsen hieß das beispielsweise: 10 000 Euro mehr Rückzahlung als mit der regulären Kündigung.

Nachfragen

Konkrete Hilfe erhalten Versicherte unter anderem bei der Verbraucherzentrale Hamburg unter vzhh.de oder per E-Mail unter versicherungen@vzhh.de. Die Prüfung einer Police kostet dort 70 Euro. Unterstützung bietet außerdem der Bund der Versicherten, die Jahresmitgliedschaft inklusive kostet 60 Euro. Möglich ist auch, sich von Fachanwälten für Kapitalmarktrecht beraten zu lassen. Eine kostenfreie Ersteinschätzung gibt es unter anderem durch die Kanzlei Gansel unter www.gansel-rechtsanwaelte.de. Berrit Gräber

Wer wissen will, mit wie viel er in etwa rechnen darf, kann seine Police über den kostenfreien Schnellrechner unter vzhh.de prüfen. Auf Basis der Vertragsunterlagen ermittelt er in zwölf Schritten eine erste Einschätzung. "Die Summe, die dabei herauskommt, ist ein durchschnittlicher Branchenwert und zur Orientierung gedacht", betont Becker-Eiselen. Abweichungen nach oben oder unten seien später wahrscheinlich. Ob sich eine Rückabwicklung rechnet, speziell bei älteren Verträgen, konnten bislang aber nur Experten bei sorgfältiger Prüfung einschätzen. Die Materie ist kompliziert.

Das ist zu tun

Betroffene können entweder selbst beim Versicherer widersprechen - egal ob der Vertrag noch läuft, beitragsfrei gestellt oder schon abgelaufen ist. Oder sie lassen sich von Anfang an vom Anwalt dabei helfen. Die Hamburger Verbraucherschützer planen zudem eine Sammelaktion gegen ausgewählte Versicherer, um Betroffenen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche zu helfen. Selbst wer vor Jahren gekündigt hat, mit null oder viel zu geringen Rückkaufswerten abgespeist wurde, kann nun nochmals aktiv werden. In solchen Altfällen über den Widerspruch noch etwas herauszuholen sei "der gangbarste Weg", sagt Nils Rotermund, Fachanwalt der Kanzlei Gansel für Bank- und Kapitalmarktrecht in Berlin. Die Chancen stünden gut. Das Widerspruchsrecht selbst ist zeitlich unbefristet, der Anspruch auf Rückabwicklung verjährt erst drei Jahre, nachdem der Widerspruch erklärt wurde, hat der BGH entschieden (Az. IV ZR 103/15).

Das sind die Hürden

Der Weg bis zur Erstattung ist steinig. Denn infolge der BGH-Rechtsprechung geht es für die Lebensversicherungsbranche laut Allianz um insgesamt etwa 400 Milliarden Euro, die potenziell an die Kunden zurückgezahlt werden müssen. Viele Versicherer wehren sich deshalb und lehnen eine Rückabwicklung trotz eindeutiger Rechtslage erst einmal ab. Andere Anbieter zeigen sich zwar zunächst kulant, rücken dann aber viel weniger Geld heraus, als sie eigentlich müssten. Wer nicht genau weiß was ihm zusteht, muss dann nehmen was er kriegt. Aussteigewillige sollten sich deshalb beim Durchsetzen ihrer Ansprüche fachkundig unterstützen lassen. Und wer den Vertrag durch Widerspruch ungeschehen macht, sollte wissen, dass er damit auch den Versicherungsschutz im Todesfall oder den oft mitversicherten Schutz vor Berufsunfähigkeit verliert.

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