SZ-Serie: Wohnungssuche:Die Wohnung kündigen? Nie im Leben!

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Wer in Stockholm eine Unterkunft hat, gibt sie nicht mehr her. Ist sie zu klein, wird getauscht - der Handel mit Mietverträgen boomt. Auch der Kauf verläuft oft sonderbar.

Von Silke Bigalke

Es ist eine gute Gegend, zentral, trotzdem grün, ein Park um die Ecke, der Hauptbahnhof ist nur zwei U-Bahn-Stationen entfernt. Astrid Lindgren hat den größten Teil ihres Lebens ein paar Blocks weiter gewohnt. Vor der Tür stapeln sich die Schuhe, Wohnungen in Schweden betritt man auf Socken. Drinnen schieben sich die Interessenten schweigend durch die fünf Zimmer.

132 Quadratmeter zum Startpreis von 8,7 Millionen Kronen, etwa 920 000 Euro, ein Schnäppchen. Die Wohnung liegt in einer alten Fabrik und hat einen besonderen Charme. Wohnzimmer und Schlafzimmer trennt eine Glaswand, es gibt Oberlichter, zwei kleine Hinterhofterrassen, Weinranken. Doch sie liegt im Erdgeschoss, ist renovierungsbedürftig, und eines der ziemlich kleinen Kinderzimmer hat kein Fenster. Deswegen ist sie so günstig. Eine Wohnung in dieser Größe finde man nicht so leicht unter zehn Millionen Kronen, sagt Henrik Ostergren und hält die beiden Kinder unter Kontrolle. Ihre alte Wohnung wird der Familie zu klein. Die Mutter misst eilig Schritte durch jeden Raum.

Nach einer halben Stunde ist die Besichtigung vorbei. Die Interessenten tragen sich beim Rausgehen in eine Liste ein. Etwa 40 Namen, Makler Nermin Kuljanin ist zufrieden. "Ist schon seltsam", sagt er. "Wenn sie ein Sofa kaufen, denken die Leute zwei Monate darüber nach. Hier schauen sie für 20 Minuten und entscheiden über Millionen."

Wer in Stockholm eine Wohnung sucht, hat ein Problem. Einen Mietmarkt gibt es quasi nicht, Kaufen ist meist die einzige Möglichkeit. Wohnungen sind so knapp, dass die Preise allein im vergangenen Jahr um 19 Prozent gestiegen sind. Laut Svensk Mäklarstatistik zahlt man in der Innenstadt derzeit 87 500 Kronen pro Quadratmeter, etwa 9300 Euro - im Durchschnitt. In beliebteren Vierteln sind es 10 000 Euro.

Die Käufer stehen unter Zeitdruck: Besichtigung ist am Montagabend, Dienstagmorgen ruft der Makler alle auf der Liste an und fragt, ob sie das Geld beisammen- haben und mitbieten wollen. Geboten wird per SMS, Mittwochabend ist alles vorbei. Die Erdgeschosswohnung in Astrid Lindgrens Viertel geht für knapp 10 Millionen Kronen weg, mehr als eine Million Euro.

Das Amt für Wohnungswesen, Boverket, hat ausgerechnet, dass bis 2025 allein in Stockholm 261 600 neue Wohnungen gebaut werden müssten, um den Bedarf annähernd zu decken. Wer bei dieser Knappheit ein Dach über dem Kopf braucht, denkt nicht zuerst an den Preis. Das Geld kommt von der Bank, die Zinsen sind niedrig, die Darlehenskosten kann man teilweise von der Steuer absetzen. Den Kredit zu tilgen, ist nicht üblich. Viele Wohnungsbesitzer zahlen lediglich die Zinsen.

Diese Mischung von absurd hohen Preise, hastigen Entscheidungen und wachsenden Schulden führt zu der bangen Frage, wann die Blase platzt. Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman warnt Schweden seit Jahren davor. Die Kommission in Brüssel hat im vergangenen Jahr gewarnt, weil die Schulden in Schweden schneller und höher steigen als im Rest der EU. In den Städten Göteborg, Malmö und Stockholm liege die durchschnittliche Verschuldungsquote der Haushalte mit Wohnungskrediten bei über 400 Prozent, schreibt sie in ihrem Länderbericht. Auch Internationaler Währungsfonds und OECD äußerten sich bereits besorgt. Im Oktober hat dann auch erstmals das staatliche Konjunkturinstitut in Schweden eingeräumt, dass die steigenden Preise Gefahren bergen.

Blick vom Stadthaus auf Stockholm. Wer keine Chance auf eine Mietwohnung hat, kauft sich eine Immobilie. Den Kredit dafür zu tilgen, ist nicht üblich, man zahlt nur die Zinsen. (Foto: Andreas Teichmann/laif)

"In den vergangenen fünf Jahren haben wir jede Woche gesagt: Es kann nicht so weitergehen. Aber das tut es", sagt Makler Kuljanin. Er glaubt nicht, dass die Preise fallen, solange die Zinsen niedrig sind. Die Regierung will nun durchsetzen, dass Kredite teilweise abgezahlt werden müssen, wenn auch ganz langsam: Wo das Darlehen höher ist als 50 Prozent des Wohnungswerts, zahlen die Schuldner dann ein Prozent im Jahr zurück; zwei Prozent, wenn der Kredit mehr als 70 Prozent des Werts übersteigt.

Begehbarer Kleiderschrank zur Untermiete, für 210 Euro im Monat

Die neue Regel wird Wohnungssuchende kaum abhalten, sich weiter zu verschulden. Schuld daran ist vor allem der Mietmarkt, der nicht funktioniert. Mietwohnungen vergibt die Bostadsförmedling, die städtische Wohnungsvermittlung. Für 210 Kronen im Jahr kann man sich dort in die Schlange stellen, durchschnittliche Wartezeit in Stockholm: Zehn Jahre, in manchen Stadtteilen auch 16. Ende vergangenen Jahres standen 516 665 Interessenten in der Warteschlange. Inzwischen könnten es auch 10 000 mehr sein, die Zahl steige konstant, sagt Ronny Mattsson, Sprecher der Bostadsförmedling. Die meisten suchen nicht aktiv, sondern stehen nur sicherheitshalber in der Liste - falls sie in ein, zwei Jahrzehnten mal eine Wohnung in Stockholm brauchen. "Wir empfehlen, sich so früh wie möglich einzutragen", sagt Mattsson. "Es ist eine Investition in die Zukunft."

Wer einmal eine solche Mietwohnung aus erster Hand hat, zieht nie wieder aus. Selbst auf den Tod der Mieter dürfen die Menschen in der Warteschlange nicht hoffen, denn Großeltern geben den Mietvertrag oft an ihre Enkel weiter. Die müssten dafür nur ein halbes Jahr bei Oma und Opa einziehen, sagt Anna Granath Hansson, Expertin für Wohnungswirtschaft an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm. Selbst wem seine Wohnung nicht mehr passt, der zieht nicht einfach aus. Mietverträge aus erster Hand können in Stockholm getauscht werden, vier Zimmer gegen zwei, Vasastan gegen Östermalm. Auch hier vermittelt die Bostadförmedling. Wer selbst keine Mietwohnung in den Ring werfen kann, bleibt außen vor.

Dieses Klammern an den Mietvertrag wird dadurch verstärkt, dass die Mieten aus erster Hand oft unrealistisch niedrig sind. Sie richten sich nach den Kosten für das Haus, nicht nach der Lage. Das führt dazu, dass Wohnen im Neubau am Stadtrand teurer sein kann als im Altbau in bester Innenstadtlage. "Niemand wird so eine Wohnung kündigen, das wäre einfach idiotisch", sagt Anna Granath Hansson.

Die Mieten handelt der Mieterbund mit den Immobilieneigentümern aus. Diese vermitteln ihre Wohnungen teilweise auch über die städtische Bostadförmedling, teilweise haben sie eigene Warteschlangen. "Es ist ein sehr kompliziertes System mit zwei Parteien, die auf komplett unterschiedliche Dinge schauen", sagt Billy McCormac, der die Immobilienbesitzer in Stockholm vertritt. Der Mieterbund entscheide nach Kosten, die Immobilienbesitzer würden gerne auch die Lage bei der Miete berücksichtigen. 2015 habe er neun Monate lang verhandelt, um ein Prozent Mietsteigerung zu erreichen, sagt McCormac.

SZ-Serie, letzte Folge: Kapstadt (Foto: N/A)

Diese Mietpreisbremse führt zu drei Dingen: Erstens würden laut McCormac viele Investoren zwar gerne in Stockholmer Geld in Wohnungen anlegen, hielten dies aber aufgrund der Regulierungen für zu riskant. Zweitens würden weniger als ein Prozent der Wohnungen jedes Jahr frei. Drittens fördere dies einen Miet-Schwarzmarkt, der nun in Stockholms Randgebieten dazu führe, dass sich Neuankömmlinge in renovierungsbedürftigen Sechzigerjahrebauten stapelten.

Der Handel mit Mietverträgen auf dem Schwarzmarkt tarnt sich als legales Tauschgeschäft. Kriminelle nutzen die verzweifelte Lage der Suchenden aus, knüpfen ihnen viel Geld ab und halten oft nicht, was sie versprechen. 2,6 Milliarden Kronen würden so jährlich illegal umgesetzt, hat kürzlich ein Kollege von Wissenschaftlerin Anna Granath Hansson berechnet. "Das Tauschrecht müsste dringend abgeschafft werden", sagt sie.

Um die Sache noch schwieriger zu machen, hat man als Privatperson mit eigener Wohnung wenig Möglichkeiten, diese zu vermieten. Wer in Stockholm eine Wohnung kauft, erwirbt nur das Wohnrecht darin. Er ist dann Teil einer Eigentümergemeinschaft, der das gesamte Gebäude gehört, und die er um Erlaubnis fragen muss, wenn er "seine" Wohnung vermieten möchte. Diese Mietverträge aus zweiter Hand sind zeitlich begrenzt, viele Untermieter ziehen daher alle paar Monate um. Für Aufsehen sorgte ein Angebot aus einem Stockholmer Vorort: Begehbarer Kleiderschrank zur Untermiete, 3,5 Quadratmeter für 210 Euro im Monat. Interessenten gab es laut Anbieterin genug.

Die SZ berichtet in dieser Serie in loser Folge über den Wohnungsmarkt in den wichtigen Metropolen der Welt. Bisher erschienen: Madrid (23.10.), Peking (30.10.), Rio de Janeiro (6.11.), Sydney (13. 11.), London (20.11.), Tokio (27.11.), Wien (11.12.), Goma (2./3.1.), Tel Aviv (8.1.), Paris (15.1.), Brüssel (22.1.), New York (29.1.), Vancouver (5.2.), Zürich (12.2.), Rom (26.2.) und Moskau (4.3.).

© SZ vom 01.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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