SZ-Serie: Die großen Spekulanten (22):Der Finanz-Bonaparte

Nathan Rothschild stieg im London des 19. Jahrhunderts zum Bankier der Mächtigen auf. Dann stürzte ihn Napoleon fast in den Bankrott.

Alexander Mühlauer

Regungslos lehnt Nathan Rothschild an einer Säule im Handelssaal der Londoner Börse. Es ist der 18. Juni 1815. Keiner im Raum ahnt, dass er mehr weiß als alle anderen. Als Nathan plötzlich in großem Stil Staatsanleihen verkauft, flüstert man sich auf den Gängen der Börse hektisch zu: "Rothschild muss es wissen: Die Schlacht von Waterloo ist verloren."

SZ-Serie: Die großen Spekulanten (22): Nathan Mayer Rothschild (1777 - 1836)

Nathan Mayer Rothschild (1777 - 1836)

(Foto: Zeichnung: Getty)

Millionen an einem Tag verdient

Ist sie aber nicht. Nathan blufft. Er kauft auf einmal wieder Anleihen - zu dem niedrigen Preis, den er zuvor selbst bestimmt hat. Als die Siegesnachricht von Waterloo kurz darauf in London bekannt wird, schießt der Kurs der Papiere in die Höhe. Der Legende nach verdient Rothschild an diesem Tag Millionen und rettet seine Familie vor dem Ruin.

Es sind Mythen dieser Art, die den Aufstieg der Familie Rothschild begleiten. Bevor die Rothschilds zu den mächtigsten Bankiers Europas werden, müssen sie raus aus dem Ghetto am Main. Raus aus der engen Welt der Frankfurter Judengasse, in der sich Nathans Vater, der Münzsammler und Altwarenhändler Mayer Amschel Rothschild, Mitte des 18. Jahrhunderts niederlässt.

Damals ist ein Judenleben nicht viel wert. Die Judengasse, das ist ein Haufen Häuser zwischen der Bornheimer Straße und dem jüdischen Friedhof am nordöstlichen Stadtrand. Die Gasse ist 330 Meter lang und keine vier Meter breit, ohne frische Luft und sanitäre Anlagen. Ihre Bewohner sehen, wie ein Reisender 1795 notiert, "wie wandelnde Tote aus".

Zwölf Ehen im Jahr

Das Ghetto ist mit Mauern umschlossen. Die Tore werden nachts, an Sonntagen und zu christlichen Festen verriegelt. Nicht mehr als 500 Familien dürfen hier wohnen, die Zahl der Eheschließungen ist auf zwölf im Jahr beschränkt. Am Nordturm der Alten Brücke prangt ein Fresko der "Judensau", an deren Milch und Kot sich drei Rabbiner laben. Goethe schreibt über die Gasse: "Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah."

Vielleicht ist das Leben in der Frankfurter Judengasse der Antrieb, der hinter dem Aufstieg der Familie Rothschild steckt: Sie wurde reich, um zu überleben. Vielleicht häuften, so mutmaßen Historiker, die Rothschilds all ihr Geld an, um sich das kaufen zu können, was sie umsonst einfach nicht bekamen: Toleranz.

Oft ist Geld das einzige Mittel zum Ausbruch. Zum Ausbruch aus der Demütigung, der Würdelosigkeit, der Angst. Mayer Amschel schickt seine fünf Söhne in die Welt hinaus. James geht nach Frankreich, Carl nach Italien, Salomon nach Österreich, Nathan nach England; nur Amschel, der Älteste, bleibt in Frankfurt. Der grobe, bescheidene Nathan verlässt die Reichsstadt am Main mit dem Vorsatz, "kein Luxus zu machen", da "sonst die Zeitungen können anfangen zu schreiben gegen mir".

Zunächst macht der 23-Jährige seinem Vater vor allem Sorgen. Ständig muss ihn Mayer Amschel ermahnen, bei der Verschiffung der Waren genauer aufzupassen. Als die militärisch und politisch dominierenden Franzosen 1806 das Festland für englische Waren sperren, ist Nathans Markt weg. Also fälscht er Schiffspapiere, lässt seine Waren in Schweden umladen und schmuggelt sie nach Deutschland. Das macht er solange, bis im Sommer 1810 eine Ladung Stoffe von den Franzosen in Frankfurt beschlagnahmt wird. Seitdem steht Nathan unter besonderer Beobachtung.

Das wichtigste Kapital: Informationen

Er entschließt sich, mit dem Handel aufzuhören und sich als Banker in der aufstrebenden Londoner City zu etablieren. Im Oktober 1806 heiratet er Levi Barent Cohen, die Tochter eines mächtigen Londoner Kaufmanns. Fünf Jahre später kündigt er an, dass er unter dem Namen N. M. Rothschild Geldgeschäfte in London tätigen werde.

Im Januar 1814 beauftragt ihn die englische Regierung, Herzog Wellingtons Marsch durch Frankreich zu finanzieren. Nathans Aufgabe ist es, die englische Armee mit Gold und Silber zu versorgen. Damit bezahlt der Herzog seine Soldaten und kauft Proviant. Die Rothschilds schaffen es nicht nur, große Mengen an Gold- und Silberbarren auf den Kontinent und an die Front zu bringen, sie sind außerdem in der Lage, das gesamte Geld vorzustrecken. Im Mai 1814 schuldet die englische Regierung Nathan Rothschild 1.167.000 Pfund.

Das wichtigste Kapital der Rothschilds sind Informationen. Die blau-gelb uniformierten Boten der Familie, ihre Schiffe, ihre Kutschen - sie eilen durch die Welt, bringen Berichte von Siegen und Niederlagen, Regierungskrisen und diplomatischen Kabalen. Verwandte, Händler und Journalisten sitzen als Korrespondenten in Rom, Turin, Florenz, Mailand, Odessa und Petersburg, New York, Baltimore und San Francisco.

Habichte gegen Rothschilds Brieftauben

Brieftauben aus eigener Zucht in der englischen Grafschaft Kent und in Hemsbach an der Bergstraße überfliegen alle Hindernisse, tragen vor allen Zeitungen die Meldung vom Ausbruch der Pariser Juli-Revolution nach London. Die Gegner der Rothschilds versuchen verzweifelt, Falken und Habichte an der Kanalküste zu stationieren, um die flatternden Boten abzufangen.

Aber woher hatte Nathan Rothschild das Geld, um Wellingtons Armee zu finanzieren? Es ist das Geld eines anderen Mannes, das er seit 1809 verwaltet: Kurfürst Wilhelm von Hessen, dessen Vater bereits Amschel Mayer Rothschild zum Hofagenten gemacht hatte. Nachdem Napoleon den Hessen 1806 aus Kassel vertrieben hat, verlässt er sich auf die Rothschilds. Sie sollen sein in London angelegtes Geld verwalten, und die Zinsen neu investieren.

Nathan ist sein Vermögensverwalter und benutzt das Geld des im dänischen Exil lebenden Kurfürsten für seine eigenen waghalsigen Geldgeschäfte. Er kauft dreiprozentige britische Staatsanleihen im Wert von 600.000 Pfund. Diese Anleihen werden in Nathans Namen eingetragen, bis Kurfürst Wilhelm dafür zahlt. Von den Gewinnen aus den Finanzgeschäften bekommen die Rothschilds eine ordentliche Provision. Bei Verlusten hätten sie allerdings auch persönlich haften müssen. Das alles ist äußerst riskant, aber auch äußerst profitabel. Als Napoleon 1814 das erste Mal kapituliert, haben die Rothschilds bereits Zehntausende, wahrscheinlich Hunderttausende Pfund verdient.

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Der Finanz-Bonaparte

Der Krieg ist für die Rothschilds lukrativer als der Frieden. Als Nathan von Napoleons Rückkehr von Elba im März 1815 hört, kauft er Goldbarren und verkauft sie an seinen Vertrauten im britischen Schatzamt weiter. Seinen Brüdern trägt er auf, soviel Gold zu erstehen wie möglich und es ihm nach London zu schicken. Bis Ende Oktober hat Nathan Goldmünzen im Wert von 2.136.916 Pfund zusammen, genug um damit 884 Kisten und 55 Truhen zu füllen.

Ein zu kurzer Krieg

Das Gold soll an die britischen Alliierten verteilt werden. 1815 hat Nathan Rothschild über neun Millionen Pfund gesammelt. Jetzt kann er nur hoffen, dass der Krieg möglichst lange dauert und die britische Regierung sein Gold benötigen wird. Doch er verspekuliert sich.

Der Krieg dauert nicht so lange wie erhofft. Die erste schlechte Nachricht kommt von seinem Bruder James. Er ist gerade nach Hamburg gereist, um noch mehr Goldbarren zu kaufen. Da stellt er fest, dass er den Sterling-Wechselkurs nicht halten kann. Kurz darauf kommt die Nachricht aus Amsterdam, dass Wellington mehr Gold hat, als er brauchen, geschweige denn ausgeben kann. Am 5. Mai erhält Nathan Rothschild von der englischen Regierung den Auftrag, die Operation abzubrechen. Der Kunde ist abgesprungen.

Dann kommt der 18. Juni 1815, der Tag, an dem Nathan regungslos an einer Säule im Handelsraum der Londoner Börse steht. Der Mythos, dass er an der Schlacht von Waterloo unglaublich reich wird, stimmt nicht. In Wahrheit steht er kurz vor dem Ruin.

Die Millionen sind verschwunden

Der nachlässige Nathan hat überhaupt nur eine vage Idee davon, wie hoch seine Verluste tatsächlich sind. Die nie besonders gründliche Buchhaltung der Brüder ist wertlos. "Lieber Nathan", schreibt Salomon, "unser Bruder Amschel ist pleite. Wir sind pleite. Carl ist pleite. Also einer von uns muss das Geld doch haben."

Doch die Millionen sind weg. Nathan Rothschild will ein letztes Mal spekulieren. Gegen den Willen seiner Brüder kauft er Ende 1815 eine große Zahl von dreiprozentigen konsolidierten Staatsanleihen zu 61,1 und 61,5 Prozent des Nominalwerts und sogenannte Omnium-Aktien im Wert von 450.000 Pfund. Seine Erwartung ist richtig. Die Kurswerte der Papiere steigen.

Ein Jahr lang flehen ihn seine Brüder an, diese verdammten Papiere endlich wieder zu verkaufen. Nathan hört nicht. Erst im Mai 1817 erlöst er seine Familie und verkauft für 600.000 Pfund. Sofort investiert er den Erlös und kauft noch mehr von denselben Anleihen - und sie steigen weiter. Im Juli erreichen sie 82 Prozent des Nominalwerts. Salomon muss zugeben, dass sein Bruder ein "Meisterstück" geschafft hat. Nathan verkauft, und kann so die Verluste aus den letzten Kriegsgeschäften wettmachen.

Nathan hat es geschafft. In der Londoner City nennen sie ihn "Finanz-Bonaparte". Keiner der Finanzjongleure in der englischen Hauptstadt ahnt, dass er fast sein eigenes Waterloo erlebt hatte.

Nathan Rothschild vererbt 1836 ein Vermögen, das 0,62 Prozent des damaligen Bruttoinlandsproduktes (BIP) Großbritanniens entspricht. Und Nathan hat noch vier Brüder, die fast genauso reich sind. Microsoft-Gründer Bill Gates kommt heute auf ein Vermögen, das 0,52 Prozent des amerikanischen BIP entspricht. Dass Bill Gates reiche Brüder hat, davon ist nichts bekannt.

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