SZ-Serie: Die großen Spekulanten (15):Tänzer auf dem Börsenparkett

Mit enormem Fleiß arbeitete sich der geborene Ungar Nicolas Darvas ins Börsengeschehen ein - und entwickelte an der Wall Street eine eigene Theorie, mit der er Millionen verdiente.

Bernadette Calonego

Man schreibt das Jahr 1959. Im New Yorker Nachtclub Latin Quarter richten sich alle Augen auf die Bühne. Eines der bekanntesten Tanzpaare Amerikas wird angekündigt: "Darvas und Julia". Die beiden sind schon mit dem US-Komiker Bob Hope und der Sängerin Judy Garland aufgetreten. Der schmalhüftige, breitschultrige Tänzer in weißer Krawatte und Frack wirbelt mit seiner rothaarigen Partnerin übers Parkett, ihre schönen Beine in schwarzen Strümpfen.

SZ-Serie: Die großen Spekulanten (15): Die Börse als Tanzboden: Der Ungar Nicolas Darvas machte sich seine Erfahrungen als Tänzer an der Börse zu Nutze.

Die Börse als Tanzboden: Der Ungar Nicolas Darvas machte sich seine Erfahrungen als Tänzer an der Börse zu Nutze.

(Foto: Foto: Getty)

"Die müden Geschäftsleute, die sich die Vorstellung ansehen, realisieren nicht, dass der in Ungarn geborene Nicolas Darvas, 39, ein besserer Gelderzeuger ist als die meisten von ihnen", schrieb die amerikanische Zeitschrift Time damals, "er ist ein Spitzenbörsenspekulant, der sein beträchtliches wöchentliches Einkommen (derzeit 3500 Dollar) in ein Vermögen von mehr als zwei Millionen Dollar ausgebaut hat". Der Tanzprofi Nicolas Darvas besaß fürwahr erstaunliche Talente: Er verfasste Kreuzworträtsel, war ein Tischtennis-Meister, er verstand sich auf Immobiliengeschäfte - und als ehemaliger Sportreporter auch aufs Schreiben: 1960 veröffentlichte er sein Buch "Wie ich zwei Millionen an der Börse verdiente", von dem im ersten Jahr rund 400.000 Stück verkauft wurden.

Spekulation als Zubrot

Seine spektakulären Aktiengewinne erzielte er, während er gleichzeitig eine internationale Karriere als Nachtclub-Tänzer zusammen mit seiner Halbschwester Julia machte. Das Tanzen hielt der 1920 geborene Darvas immer für seinen eigentlichen Beruf. Die Börsenspekulation war einfach das Zubrot. Kein Wunder, dass es ihm Scharen von Investoren nachmachen wollten.

Darvas' Methode "The Box Theory" findet bis heute ihre Anhänger. Auch sein Buch wird immer noch gelesen. Darin erklärt er anschaulich, worauf seine Spekulation beruht: Er kaufte Aktien, wenn sie anfingen zu steigen. Er brauchte weder Anlegerbriefe noch Finanzberater noch Tipps oder ein Büro - was für ihn zählte, waren die Preisbewegungen und das Volumen. "Was gute und schlechte Aktien betrifft, das gab es nicht", erklärte er nach seinem Rückzug von der Börse: "Es gab nur Aktien, deren Kurs stieg, und Aktien mit fallendem Kurs." Er beobachtete genau, wie Anleger auf das Geschehen an der Börse reagierten.

"Beim Tanzen weiß ich, wie man ein Publikum einschätzt", sagte er Time, "es ist instinktiv. Dasselbe mit der Börse. Man muss herausfinden, was das Publikum will und mitgehen." In der Mitte seines Lebens residierte er im Hotel Plaza in New York und besaß Häuser in London, Paris und Südfrankreich. Aber Darvas Anfänge waren nicht leicht.

Alles begann mit einem Zufall

Mit 23 Jahren floh er aus Angst vor den Nazis und den Russen aus Ungarn in die Türkei. Obwohl Darvas an der Universität Budapest Wirtschaft und Soziologie studiert hatte, begann er als Tänzer täglich acht Stunden zu trainieren - mit derselben Beharrlichkeit, mit der er später die Aktienbewegungen beobachtete und aus seinen Fehlern an der Börse lernte. In den USA, wohin er 1951 emigrierte, gab er sich erst mit dem Artikel öffentlich als Spekulant zu erkennen.

Da hatte er seine Lehrjahre schon hinter sich. Alles begann mit einem Zufall: Ein Nachtclubbesitzer in der kanadischen Stadt Toronto hatte Darvas 1952 das Tanz-Honorar in Form von Aktien einer unbekannten Bergbaufirma namens Brilund angeboten. Obwohl Darvas das Engagement schließlich ablehnte, kaufte er aus Goodwill die Aktien für 3000 Dollar. Dann vergaß er sie eine Weile, und als er eher beiläufig ihren Wert kontrollierte, stellte er fest, dass sich der Kurs verdreifacht hatte. Er verkaufte die Titel und strich einen Gewinn von fast 8000 Dollar ein.

Lesen Sie weiter, mit welchem Trick Darvas den Großteil seines Gewinns innerhalb von nur 18 Monaten erwirtschaftete.

Tänzer auf dem Börsenparkett

Diese leichte Art des Geldverdienens an der Börse nahm ihn von da an völlig ein. Er stürzte sich gleich auf weitere Börsengeschäfte. Seine Aktien behandelte er wie Schoßtiere. Aber in den kommenden Jahren musste er immer wieder Verluste einstecken. Er versuchte es mit Tipps von Freunden, mit dem Studieren von Gewinn-Kurs-Verhältnissen, mit der Hilfe von Brokern - nichts bewährte sich als Schlüssel zum Knacken des Börsengeheimnisses, an das er anfänglich glaubte.

Darvas las in jenen Jahren rund 200 Bücher über Aktiengeschäfte und Finanzen, wie er schrieb. Er war begierig zu lernen. Aber letztlich waren es seine genauen und monatelangen Notierungen der Aktiensprünge und die Einsichten aus seinen Irrtümern, die ihn zum Erfolg brachten. Darvas handelte von 1952 bis in die frühen sechziger Jahre aktiv an der amerikanischen Börse. "Er verdiente 2,45 Millionen Dollar von seinem Start mit Brilund an", schrieb John Boik in seinem Buch "Lektionen der größten Aktienhändler aller Zeiten".

Kurse wie Gummibälle

"Er machte den Löwenanteil davon in 18 Monaten - insgesamt 2,25 Millionen Dollar." Darvas war laut Boik so erfolgreich und bekannt, dass die American Stock Exchange den Gebrauch von sogenannten Stop-Loss-Verkaufsaufträgen aufhob, mit denen Darvas seine Verluste nach unten begrenzte. Der Berufstänzer hatte beobachtet, dass sich Aktien, bevor sie steigen, in einer gewissen Bandbreite auf- und abbewegen. Er verglich es mit einem Tänzer, der zuerst in die Hocke geht, um zum Luftsprung anzusetzen.

Die obere und untere Grenze dieser Bandbreite verglich er mit Glaskästen, in denen der Kurs wie ein Gummiball herumhüpft. Deshalb nannte er seine Methode "The Box Theory" (auf Deutsch: Die Kastentheorie). Nach einem Kurssprung setzten die Aktien oft wieder zum Sprung auf das nächsthöhere Niveau an. So stapelten sich bildhaft die Kästen pyramidenförmig aufeinander. Wenn der Aktienkurs die untere Marke, also den Boden eines solchen Kastens durchschlug, verkaufte Darvas.

Er vermied allzu große Risiken: Darvas setzte den Preis vorher fest, bei dem er im Falle eines Kursrückgangs verkaufen wollte. In einem Fall räumte er später ein, dass es auch hätte schiefgehen können: Er war gerade auf Tournee in Kalkutta, als er mit fast seinen gesamten Ersparnissen 2500 Aktien der unbekannten Firma E.L. Bruce kaufte, die Parkettböden herstellte. Er verkaufte die Titel sechs Wochen später mit einem Gewinn von 295.000 Dollar. Darvas gestand aber offen, er liege in etwa in 50 Prozent der Fälle falsch.

Einfach Glück gehabt?

Er versuchte auch vorauszusehen, welche künftigen Bedürfnisse sich am stärksten auf gewisse Titel und Wirtschaftszweige auswirken. So kaufte Darvas Aktien von Texas Instruments, die die erste elektronische Rechenmaschine entwickelten. "Der Zukunftstraum ist es, was Menschen packt, nicht die Realität", sagte er. Seine Börsengeschäfte erledigte Darvas mit einer minimalen Infrastruktur. Da er monatelang auf Tourneen rund um die Welt war, las er lediglich die Wochenzeitschrift Barron's und schickte die Aufträge per Telegramm an seinen Broker. Seine Gewinne investierte Darvas in Immobilien rund um die Welt.

Manche Kritiker behaupteten, Darvas habe einfach Glück gehabt, da er in einem sehr starken Markt gehandelt habe. Allerdings wusste Darvas genau, wann er sich zurückziehen musste, um Verluste zu vermeiden. "Ich schaue einfach die wöchentlichen Charts mit den Durchschnittswerten der vergangenen sechs Monate an", erklärte er 1974 in einem Interview, das der britische Börsenguru Mark Crisp auf seiner Webseite veröffentlichte: "Wenn sie allgemein zurückgehen, dann ist es eine Börsenflaute." Das war zweimal der Fall. Im Jahre 1957 fand er keine Aktien mehr, die seinen Kriterien genügt hätten. Tatsächlich folgte darauf eine kurze Börsenbaisse.

Abschied im Zorn

In den sechziger Jahren zog sich Darvas von der Börse zurück. Der Justizminister des Staates New York mag dazu beigetragen haben. Laut Time warfen die Behörden dem Showman vor, er habe möglicherweise die riesigen Börsengewinne in seinem Buch falsch dargestellt. Darvas bezeichnete das Vorgehen gegen ihn als "zynisch" und "unverantwortlich". Die Untersuchung wurde 1961 von einem Richter abgeblockt, der darin einen unbefugten Angriff auf die freie Presse sah.

Als wahre Spielernaturen kritisierte Darvas die langfristigen Investoren, weil sie an Aktien festhielten, obwohl deren Kurs immer weiter fiel, in der Hoffnung, dass er eines Tages wieder steigen werde. In seinem zweiten Buch "Das andere Las Vegas" verärgerte Darvas die Börse von Wall Street, die er als "riesiges Spielkasino, bevölkert von Dealern, Croupiers und Tipgebern" bezeichnete. Er starb 1977 und liegt in Paris begraben.

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