Studie:Jeder fegt vor seiner Tür

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Auch Jahrzehnte nach der Abschaffung der Kehrwoche halten die Stuttgarter an dieser Regelung fest. Sie säubern den öffentlichen Raum, ganz freiwillig. Oder weil der Nachbar sonst nervt.

Von Dagmar Deckstein

Dass vermeintlich kaum auf Krawall gebürstete Stuttgarter sozusagen über Nacht zu protestbereiten Wutbürgern mutieren können, nahm der Rest der Republik 2010 mit Erstaunen zur Kenntnis. Das Projekt Stuttgart 21 mit geplanter Tieferlegung des ehrwürdigen Bonatz-Bahnhofs brachte Tausende auf die Palme. Doch wie das häufig so ist, mit jeder Aktualitäten-Aufgeregtheit verblasst die Erinnerung an länger zurückliegende Ereignisse. Der Stuttgarter geriet nämlich schon im Dezember 1988 schwer in Rage, als der damalige Oberbürgermeister Manfred Rommel, CDU, ein Sakrileg beging; er und der Gemeinderat dekretierten seinerzeit, dass ab sofort die regelmäßige Kehrwochenpflicht für öffentliche Wege aufgehoben sei und nur noch "nach Bedarf" erfolgen sollte.

Man muss dazu wissen, dass die Stuttgarter Kehrwochenverordnung bis auf das Jahr 1492 ("Damit die Stadt rein erhalten wird, soll jeder seinen Mist alle Wochen hinausführen") zurückgeht und über die 1714 verordnete "Gassensäuberungsverordnung" bis zur Straßen-Polizei-Ordnung von 1811 reicht, in der festgelegt wurde, dass "niemand von der Verbindlichkeit, vor seinem Haus kehren zu lassen" ausgenommen sei. Das führte bis 1988 dazu, dass jeder turnusmäßig kehrwochenverpflichtete Mieter oder Eigentümer die Auflage hatte, "mindestens einmal wöchentlich" zu fegen. Und das, ob da nun Dreck auf dem Bürgersteig lag oder nicht. Wer sich nicht daran hielt, dem wurde von der Stadt ein Ordnungsgeld zwischen fünf und tausend Mark angedroht. Ob es jemals zum Äußersten, zum beherzten städtischen Griff in schwäbische Geldbeutel kam, ist allerdings nicht überliefert.

Die Regel betraf natürlich nicht die Kehrwochenregelungen im Privathaus, wöchentlich vor der Wohnungstür, die Treppen hinunter bis in die Kellerräume aufs Säuberlichste zu kehren und zu wischen. Diese eherne, interne Kehrwochensitte wird heute noch in vielen schwäbischen Häusern per Vermietervorgabe gepflegt, es sei denn, eine Eigentümergemeinschaft hätte sich auf die kostenträchtige Bestellung eines Reinigungsdienstes verständigt.

Aber der öffentliche und von den Nachbarn einsehbare Raum ungekehrt? Die Stuttgarter sahen öffentliche Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit der Landeshauptstadt aufs Höchste gefährdet. Gut, man ging natürlich nicht mit Besen und Kehrschaufel jeden Montag demonstrieren, aber die Empörung schlug hohe Wellen. Etwa so, wie eine erboste Stuttgarterin im Januar 1968 in einem Leserbrief an die Stuttgarter Zeitung schrieb: "Die Zugereisten wollen schon lange die altbewährte Kehrwoche abschaffen, weil sie nicht arbeiten wollen, diese jungen Weiber, und im Nest liegen bleiben wollen. Aber wenn die Miete sich um fünf Mark erhöhen sollte, dann stehen sie zusammen wie eine Dutschke-Gesellschaft." Wobei "Nest" im Schwäbischen "Bett" bedeutet, und die Dame mit den Zugereisten Rheinländer, Niedersachsen oder sonstwie "Neigschmeckte" meinte.

Von der Pflicht zur Kür: Die Stuttgarter Kehrwochenverordnung galt offiziell bis 1988. Seitdem putzen viele Bürger die Straßen freiwillig weiter. (Foto: dpa)

Heute sollte das Kehrwochenthema eigentlich keines mehr sein. Aber von wegen. Putzen ist nach wie vor in und fördert den Gemeinschaftssinn. So lauten die ersten Ergebnisse einer Studie der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Daniel Rölle lehrt dort Soziologie der Organisation, und er gibt durchaus zu, dass die Idee zur Studie aus einer Art Bierlaune heraus entstand, als er mit Studierenden über ein Thema nachsann, das sich für eine Übung in empirischer Sozialforschung eignen könnte. Heraus kam der schmissige Titel "Who kehrs?".

5000 Stuttgarter wurden angeschrieben, um sie über ihre Kehrwochengepflogenheiten zu befragen, und 627 Personen antworteten zwischen Ende September und 3. Oktober geflissentlich - quer durch alle Altersstufen, Stadtteile und Geschlechter hinweg. Auch wenn Frauen mit 59 Prozent der Antwortenden leicht in der Überzahl waren und die von der seinerzeitigen Leserbriefschreiberin gescholtenen Zugezogenen mit 17 Prozent in der Minderheit.

Doch siehe da, auch fast 30 Jahre nach Aufhebung der Kehrwochenpflicht ist selbige in Stuttgart nach wie vor hoch im Kurs. So bewerten 58 Prozent die Kehrwoche als sehr gut beziehungsweise überwiegend gut, nur knapp 18 Prozent negativ (Zugezogene?). Entsprechend gaben knapp 50 Prozent der Befragten an, sich immer oder meistens an der großen Kehrwoche zu beteiligen. Fast 60 Prozent kehren höchstens 30 Minuten, nur zehn Prozent widmen sich hingebungsvoll der Straßenreinigung - länger als eine Stunde. Aber 72 Prozent der Befragten meinen, die Kehrwoche gründlich bis sehr gründlich auszuführen.

Aufschlussreiche Erkenntnisse lieferte die Frage, warum die befragten Personen die große Kehrwoche einhalten. Knapp 47 Prozent gaben an, die Kehrwoche aus Gründen der Routine durchzuführen, 30 Prozent gaben an, weil dies die Nachbarschaft ebenfalls macht. So gab auch rund jeder Vierte der Befragten an, dass in der Nachbarschaft darüber gesprochen wird, wenn jemand die große Kehrwoche nicht gründlich genug erfüllt. Die persönlichen Kommentare - zum Teil auch noch garniert mit Fotos von ungekehrten Dreckecken, die Nachbarn hinterließen - sprechen Bände - siehe Zitate links.

Auch die weitere Feinauswertung der Speyerer Studie dürfte untermauern, wie sehr Stuttgart die Kehrwoche braucht. Zwei Studenten wollen ihre Master-Arbeit darüber anfertigen, und der Rölle-Lehrstuhl will zum schrägen Thema einen Artikel in der renommierten Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie vorlegen. Apropos Sozialpsychologie: Ein erstes Fazit hat Rölle schon gezogen: "Eine positive Einstellung zur Sauberkeit vermittelt Sicherheit." Ein nicht zu unterschätzender Umstand in diesen volatilen Zeiten.

Dass schwäbische Kehrwochenfreunde über die reine Besenschwingerei hinaus zusätzlich Zeit und Geld zu opfern bereit wären, offenbarte übrigens ein Aprilscherz der Volkshochschule Calw aus dem Jahr 1998. Als die VHS spaßeshalber einen Kurs fürs Kehrwochenreinigen anbot, meldeten sich 100 Interessenten an, um sich über die theoretischen Grundlagen zu informieren und die richtige Kehrtechnik zu erlernen.

© SZ vom 18.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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