Straßen in München:Olympiadorf

Betonwüste, Trabantenstadt, Plattenbau - so urteilen viele Münchner über das Olympiadorf. Wer aber hinter die 19-stöckige Fassade schaut, kann was erleben.

Eike Schrimm

Die Nadistraße sei die Schönste, sagen die Bewohner der Nadistraße. Sie ist eine von drei Parallelstraßen im Olympiadorf, die im 90-Grad-Winkel vom Helene-Mayer-Ring abzweigen - und eine sieht aus wie die andere: 14-stöckige Hochhäuser, davor die Flachbauten mit maximal vier Etagen, Fußwege aus gelb-roten Klinkersteinen führen durch die Anlage, in großen Bottichen wurzeln Bäume und Sträucher. Wo ist also der Unterschied zwischen Connolly-, Nadi- und Straßbergerstraße?

Eine Anwohnerin überlegt: "Die Connollystraße mit dem Studentenwohnheim im Hochhaus und in den Bungalows hebt sich hervor." Dort haben zu den Olympischen Spielen 1972 die Frauen gewohnt, im Rest des Dorfs waren die Männer untergebracht. "Sonst fällt mir kein wesentlicher Unterschied auf, denn die Gemeinsamkeiten sind einfach zu stark. Da ist zum Beispiel die Ruhe. Es ist wie in einer großen Ferienanlage. Weil hier keine Autos fahren, ist es immer beschaulich. Man spürt gar nicht, ob gerade Sonntag oder Montag ist", sagt die Architektin, die vor zehn Jahren von der Maxvorstadt hierher gezogen ist.

Von der autofreien Zone profitieren vor allem die Kinder. "Mein vierjähriger Sohn darf ganz allein zum Spielen auf die Straße", sagt eine zweifache Mutter aus einem Hochhaus in der Straßbergerstraße. Tür auf, raus, sehen wer schon da ist. Radfahren, verstecken spielen, kicken oder klettern? Die Eltern haben Bänke vors Haus gestellt, andere Erwachsene kommen vorbei, halten an und erzählen sich Neuigkeiten. Manchmal bringen sie auch schlechte Nachrichten: Die Nachbarn hätten sich schon wieder beschwert, die Kinder seien zu laut. Bei der Ruhe im Olympiadorf klingen fremde Stimmen umso lauter.

Aber selbst in diesen sensiblen Hausgemeinschaften werden gemeinsam Feste gefeiert. Und die Kinder suchen nicht das Weite, wenn aus ihnen Erwachsene geworden sind. Wer sich zum Beispiel als neuer Nachbar im Haus vorstellen will, wird dann eben von einem 21-Jährigen begrüßt: "Ach, Sie wollen zu meinen Eltern! Ich wohne gar nicht mehr hier, ich bin in mein eigenes Apartment gezogen." Er zeigt auf das gegenüberliegende Gebäude.

Wie die anderen Dorfbewohner schätzen die groß gewordenen Kinder Infrastruktur und Lage, nicht nur wegen der Oly-Disco im Keller des Studenten-Hochhauses: Direkt an das Dorf grenzt der 85 Hektar große Olympiapark mit Stadion, Halle und Schwimmbad mit 50-Meter-Becken und 10-Meter-Turm, auch der Marienplatz liegt nur fünf Kilometer entfernt, und U-Bahn-Anschluss wie Ladenzentrum mit Supermarkt, Drogerie, Apotheken, Bäcker, Post oder Ärzten sind in wenigen Gehminuten zu erreichen.

Olympiadorf

Selbst die Schwächen teilen sich die Straßen im Olympiadorf: Betonwüste, Trabantenstadt, Plattenbau - so urteilen viele Münchner. Nach außen präsentiert sich das Olympiadorf mit 3800 Wohnungen und 6100 Bewohnern tatsächlich abweisend. Bis zu 19 Etagen hohe Häuserrücken schotten die Siedlung zur Lerchenauer und Moosacher Straße ab. Und wenn man mit dem Auto ins Dorf kommt, wird es sogar etwas gruselig. Da durch die Siedlung selbst kein Verkehr fließt, wird man unterirdisch wie in einer riesigen Tiefgarage durch die Anlage geleitet und muss dort sein Auto abstellen.

Straßen in München: Im Norden glatt und steil, im Süden blühende Landschaften: Die unterschiedlichen Seiten des Olympiadorfes.

Im Norden glatt und steil, im Süden blühende Landschaften: Die unterschiedlichen Seiten des Olympiadorfes.

(Foto: Fotos: sueddeutsche.de)

Doch wenn man dann auf einen der vielen verschlungen Wege zur Oberfläche gefunden hat, ist die Überraschung groß: Nicht der graue Beton fällt auf, sondern das üppige Grün. Egal ob Hochhäuser, dreigeschossige Wohnbauten, Reihen- oder Atriumhäuser, bei allen Gebäudetypen sind die Terrassen wie Treppen übereinander gestapelt, riesige Pflanzenkübel dienen als Brüstung. Deshalb fällt der Regen direkt in die Kübel mit dem Effekt, dass Wachholder, Forsythien oder Tannen ohne menschliche Hilfe zurecht kommen. Selbst bei den Bewohnern, die keinen grünen Daumen haben, wächst und gedeiht es prächtig. Ein weiterer Vorteil dieser Bauweise: Jeder hat über seiner Terrasse ein eigenes Stück Himmel.

Aber weil sich die Straßen so ähneln, verliert der Ortsfremde leicht die Orientierung. Gut, dass der Grafiker und Designer Otl Aicher damals für die gesamte Olympiaanlage ein Farbkonzept entwickelt hat. So wurden auch die Straßen des Olympiadorfs bestimmten Farben zugeordnet. Als Wegweiser durchziehen Rohre in dreieinhalb Meter Höhe das Dorf. Das blaue Rohr führt zur Connolly-, das grüne zur Nadi- und das orangefarbene zur Straßbergerstraße.

Die Bewohner haben auch ihre Fenster, Türen und Fassadenelement in der Connolly- und Nadistraße blau beziehungsweise grün gestrichen. Nur in der Straßbergerstraße schaffte das Orange nicht den Sprung vom wegweisenden Rohr auf die Häuser; statt dessen finden sich dort Braun, Beige und farbliche Ausreißer ins Blau, Weiß oder Grün.

Aber langsam blitzt das Orange durch. Auch die Tür der Architektin Aidelsburger ist zart orange gestrichen und schokobraun gerahmt. Oft klingeln fremde Menschen, weil sie zwar die Straßbergerstraße gefunden haben, aber nicht die gewünschte Hausnummer: "Wo ist bloß die 79?" Die Nummerierung der einzelnen Gebäude ist chaotisch; dazu kommt, dass zwischen den Häuserreihen Gassen abzweigen, die zu Seitenarmen der drei Straßen führen. Selbst die Dorfbewohner blicken nicht immer durch. Deshalb haben findige einen Plan zur Hand. Er war 1997 in der Jubiläumszeitschrift "25 Jahre Olympisches Dorf" abgedruckt und zeigt das Dorf aus der Vogelperspektive, Haus für Haus, Nummer für Nummer. Mit ihm kommt jeder an sein Ziel.

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