Stadtplanung:Groß, größer, Grand Paris

Stadtplanung: Keine Metropole Europas ist so dicht bebaut wie Paris. Entlastung erhofft sich die Regierung von den Vororten, die mit neuen U-Bahn-Linien angeschlossen werden.

Keine Metropole Europas ist so dicht bebaut wie Paris. Entlastung erhofft sich die Regierung von den Vororten, die mit neuen U-Bahn-Linien angeschlossen werden.

(Foto: Philippe Lopez / AFP)

Frankreichs Hauptstadt hat akute Platznot. Deshalb soll sie mit ihren Vororten zusammenwachsen. Das Jahrhundertprojekt könnte viele Probleme lindern - aber auch neue schaffen.

Von Leo Klimm

Überall um die Stadt klaffen die Krater. In Aubervilliers wird schon länger gegraben. Bei Sèvres gibt es seit Anfang 2018 eine Großbaustelle für die künftige Métrolinie 15. In Clamart ist die Tunneldecke bereits geschlossen. Aubervilliers, Sèvres, Clamart - Städtenamen, die außerhalb Frankreichs kaum jemand kennt. Sie stehen auch nur für drei von insgesamt 300 Baustellen, auf denen in den nächsten Jahren rund um Paris daran gearbeitet wird, die Schöne von der Seine in einem Jahrhundertprojekt als "Grand Paris" neu zu erfinden.

Da es bei dem Vorhaben mit den 300 Baustellen um nicht weniger geht als um Europas größtes Infrastrukturprojekt, bei dem viel neuer Raum zum Wohnen und zum Arbeiten entstehen soll, hat es ebenso folgerichtig wie unbescheiden einen hochtrabenden Namen. Grandeur und Prestige machen sich immer gut. Paris indes mag eine großartige Stadt sein - von der Fläche her ist sie klein. Zu klein: Mit 21 000 Einwohnern je Quadratkilometer platzt die Stadt aus allen Nähten.

Dank Grand Paris soll sie sich nun wandeln und weiten. Sie soll ausgreifen in die Vorstädte, von denen sie bisher durch eine Ringautobahn abgekapselt ist. Die Grundidee von Grand Paris ist, die Stadt mit ihrer Region zusammenwachsen zu lassen. Und die fast zehn Millionen Bewohner der Peripherie untereinander besser zu verbinden, damit die Verkehrsnetze und der Immobilienmarkt des Zentrums entlastet werden. "Grand Paris wurde entworfen, um zu befreien, Trennlinien zu verwischen und um ein verstädtertes Gebiet fortzuentwickeln, das in seiner heutigen Infrastruktur regelrecht eingezwängt ist" - so sagt es Frankreichs Premierminister Édouard Philippe, der dem Projekt zu Anfang des Jahres neuen Schwung gegeben hat, indem er nötige Milliarden aus der Staatskasse zusagte.

Da auch einige Neubauten auf Pariser Stadtgebiet entstehen, wird sich die französische Hauptstadt zwar weiter verdichten. Der wichtigste Effekt, den sich die Grand-Paris-Macher erhoffen, besteht aber in der besseren Verteilung der Verkehrsströme: Millionen Pendler sollen nicht mehr jeden Tag nach Paris hinein- oder durch die Stadt durchmüssen wie durch ein Nadelöhr. Paris soll auch nicht mehr die ganze wirtschaftliche Aktivität auf sich ziehen wie ein Magnet, denn das treibt - kombiniert mit dem knappen Angebot - Büro- und Wohnungspreise immer weiter hoch. Der verschriene Standort Banlieue wird aufgewertet. Die Vorstädte sollen zu Neben-Wirtschaftszentren werden.

Triste Schlafstädte, die zu Ghettos werden - so etwas soll es nie mehr geben

Schon die nackten Zahlen zum Ausbau des Nahverkehrs machen die Dimension des Projekts deutlich: Bis 2030 entstehen 200 neue Streckenkilometer U-Bahn, das entspricht einer Verdopplung des bisherigen Netzes. Die neuen Métrolinien bilden dann zusammen eine Ringbahn um Paris. Nicht nur die Fahrzeiten zwischen den Vororten werden so verkürzt, sondern auch die vom Umland zu den Pariser Fernbahnhöfen und zu den Flughäfen. Daneben entstehen 68 neue Métro-Bahnhöfe - um die herum, so die Hoffnung der Regionalpolitiker, viele Wohn-, Büro- und Gewerbeimmobilien gebaut werden.

Groß sind beim Projekt Grand Paris entsprechend auch die Kosten: Allein für die neuen U-Bahn-Strecken müssen Frankreichs Steuerzahler mindestens 35 Milliarden Euro aufbringen, so der nationale Rechnungshof. Rechnet man weitere Investitionen hinzu, besonders die privater Immobilienentwickler, könnte Grand Paris ein Gesamtvolumen von 70 bis 80 Milliarden Euro erreichen. Die ersten Planungen liefen schon vor mehr als zehn Jahren unter dem damaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy an. Dessen Nachfolger François Hollande zögerte vor allem wegen der Kosten, die Sache voranzutreiben.

Der heutige Staatschef Präsident Emmanuel Macron und sein Premier Philippe griffen das Vorhaben dann wieder auf - nicht zuletzt, weil zwei Faktoren neuen Schub geben: Zum einen gewinnt Paris als Wirtschaftsstandort an Anziehungskraft; einer Studie der Wirtschaftsprüfungsfirma EY zufolge ist die Stadt für internationale Führungskräfte heute attraktiver als London, das unter dem EU-Austritt Großbritanniens leidet. Wegen des Brexit dürften Schätzungen zufolge 50 000 Gutverdiener-Familien von der Themse an die Seine umsiedeln. Die wollen angemessen untergebracht werden. Zum anderen befördert die Vergabe der Olympischen Sommerspiele 2024 an Paris das Riesenprojekt: In sechs Jahren soll im Norden der Stadt - wo viele Wettkämpfe ausgetragen und die Athleten untergebracht werden - alles fertig sein. "Uns bleiben zwölf Jahre, alle Bauarbeiten zu schaffen", sagt Thierry Dallard, der Chef der Projektgesellschaft Société du Grand Paris. "Das ist knapp, aber es ist machbar."

Auch ohne Brexit-Effekt ist die Bevölkerungsentwicklung im Großraum Paris dynamisch. Im Rahmen von Grand Paris sind auf einer Fläche von 140 Quadratkilometern neue Quartiere vorgesehen; zwischen 250 000 und 400 000 neue Wohnungen entstehen in den nächsten Jahren. Und die Planer beteuern, sie wiederholten nicht die Baufehler der 60er-Jahre. Triste Schlafstädte, die sich zu Ghettos abnutzen - so etwas soll nicht mehr passieren. Die Vorgaben der Politik lauten, gemischte Viertel zu bauen, in denen es sowohl Sozialwohnungen als auch Objekte zu Marktpreisen gibt. Diversity ist die Devise.

Auch die bisher präsentierten Vorhaben für Büroimmobilien folgen den gängigen Trends der Gegenwart. So planen die Architekten von Pflanzen umrankte Fassaden, Gebäude mit Platz für urbane Landwirtschaft oder Büros, die sich leicht zu Wohnungen umnutzen lassen. An einer Stelle soll ein Holz-Glas-Kubus über die Stadtautobahn gebaut werden, gleichsam als Symbol für die Überbrückung des Grabens zwischen Paris und den ungeliebten Vorstädten.

Neue Hochhäuser sind umstritten, besonders wenn sie nah am historischen Kern entstehen sollen

Schon jetzt ist eine Ausweichbewegung von Unternehmen Richtung Vorstädte zu beobachten: Anders als früher nehmen es immer mehr Firmen hin, sich jenseits der Hauptstadtgrenzen einzumieten. Wobei die Bewegung in die besseren Vorstädte geht. In den begehrten Lagen im Pariser Westen - zwischen dem zweiten Arrondissement und dem Hochhausviertel La Défense - ist der Mangel an guten Arbeitsräumen zu groß. Und: Auszuweichen kann Vorteile haben. "Von 50 Millionen Quadratmetern Büros im Raum Paris sind 20 Millionen vor mehr als 25 Jahren gebaut worden", sagt Daniel While vom Immobilienfonds-Anbieter Primonial. Entsprechend schlecht falle die Energiebilanz der alten Gebäude aus.

Viele Immobilienprojekte im Zusammenhang mit Grand Paris sind noch im frühen Planungsstadium. Das hat nicht nur damit zu tun, dass neue Hochhäuser in der Bevölkerung umstritten sind, besonders wenn sie nah am historischen Paris entstehen sollen. Der Bau der pyramidenförmigen "Tour Triangle", die die Architekten Herzog und de Meuron an den Südrand der Stadt setzen wollen, verzögert sich deshalb schon um Jahre. Private Immobilieninvestoren zeigen sich auch grundsätzlich vorsichtig: Sie konzentrieren ihr Geld auf die neu entstehenden Knotenpunkte um die Stadt. "Der Baukalender für die Métro entscheidet über den Wert der Objekte", sagt While, dessen Unternehmen etwa am künftigen Verkehrsknoten Saint-Denis bauen lässt. Eine Banlieue, die als nördliche Problemzone von Paris bekannt ist und in die auch die britische Versicherung Aviva investiert. Insgesamt warten nicht französische Akteure bei Grand Paris noch ab - selbst wenn etwa die Deutsche Hypothekenbank in einer Studie "ein hohes Potenzial an Investitionsmöglichkeiten" erkennt.

Kritik bleibt bei einem Megaprojekt wie Grand Paris natürlich nicht aus. Fahrgast-vertreter monieren, wegen des Métro-Neubaus werde die Modernisierung der schon existierenden und ziemlich pannenanfälligen U-Bahnen vernachlässigt. Vor allem jedoch droht durch Grand Paris - allen Diversity-Wünschen zum Trotz - nach der Gentrifizierung der Stadt auch die der Vororte. Für Mittelschichtfamilien wird Wohnen in der Nähe von Paris unerschwinglich. In Clamart etwa, wo die Tunneldecke für die Métro schon geschlossen ist, macht sich die Spekulation auf Bestandsimmobilien bemerkbar; die Preise für Wohnungen erreichen dort mit bis zu 8000 Euro je Quadratmeter fast Pariser Niveau. Zugleich könnte Grand Paris nicht genügen, um wirklich Druck vom Innenstadtmarkt zu nehmen. "Wir gehen nach wie vor von einer sehr hohen Nachfrage im Stadtkern mit unverändertem Preisniveau aus", prognostiziert die Deutsche Hypo.

Bei der Realisierungsgesellschaft Société du Grand Paris bestreitet man die Risiken zumindest nicht, die mit dem Jahrhundertplan zur Ausweitung der Seine-Metropole verbunden sind. Grand Paris sei eine "gesellschaftliche Herausforderung", sagt Projektchef Thierry Dallard. "Um nachhaltig zu sein, muss die Stadt fair sein, in all ihren Dimensionen." Problem erkannt. Aber längst nicht gebannt.

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