Sortiment in Supermärkten:Von allem zu viel

Bundeskartellamt zu Lebensmittelhandel

Im Supermarkt gibt es nicht mehr einfach nur Joghurt - sondern sehr viele Sorten.

(Foto: dpa)
  • Das Sortiment im Supermarkt wächst und wächst, es hat sich seit 1988 fast verdreifacht. Das überfordert viele Kunden.
  • Studien zeigen: Unser Gehirn ist dafür nicht ausgelegt. Psychologen sprechen von "Entscheidungsüberlastung".
  • Der Handel legt es darauf an, den Kunden ständig in Alarmbereitschaft zu halten. Deshalb gibt es womöglich bald: Schokolade für den Vormittag.

Von Malte Conradi

Steht ein hungriger Esel zwischen zwei Heuhaufen. Kann sich nicht entscheiden. Verhungert. Das Gleichnis von Buridans Esel kommt einem in den Sinn, hier am Eingang der Drogerie, vor dem Deo-Regal. Für Männer, für Frauen, für 24 Stunden Schutz, für 48 Stunden Schutz, sensitiv oder normal, Spray oder Roller: Fast 300 Deos stehen da. Auf wie viele unterschiedliche Arten können Menschen eigentlich schwitzen?

Stress? Weil zu viele Deos oder Joghurts im Regal stehen? Im Einzelnen mag das lächerlich erscheinen. Aber jeder Besuch in einem Supermarkt mit seinen bis zu 25 000 verschiedenen Produkten verlangt dem Kunden Hunderte solcher Entscheidungen ab. Um bis zu einem Drittel ist das durchschnittliche Sortiment seit dem Jahr 2000 gewachsen, seit 1988 hat es sich sogar fast verdreifacht. Hinzu kommen die ständigen "Neuerungen", die meistens bald wieder ersetzt werden. Und jedes Mal muss eine Antwort her: Kaufen oder nicht kaufen? Dieses oder jenes?

"Das kommt ganz auf Ihre Bedürfnisse an"

Im Supermarkt läuft die Entscheidung meist unbewusst ab, richtig anstrengend wird es bei größeren Anschaffungen. Bei der Waschmaschine etwa. Wer sich nicht für solche Geräte interessiert, könnte auf die Idee kommen, auf dem Heimweg schnell in einem großen Elektronikmarkt vorbeizuschauen - eine halbe Stunde, und die Sache ist erledigt. Aber so geht das nicht. Der Verkäufer führt zu einem ganzen Bataillon von Geräten. Welches das beste ist? Der Verkäufer atmet tief ein. "Das kommt ganz auf Ihre Bedürfnisse an." Jetzt zu sagen, das Gerät solle waschen und nicht so teuer sein, wäre zu einfach. Es gibt Maschinen für Allergiker, für sportliche Menschen, für Leute, die oft Tischdecken waschen, und für solche, die gerne Hemden tragen. Es gibt leise Maschinen und sparsame, kleine, große, schicke, schnelle und welche mit "Nachlegefunktion", was immer das ist.

Es gibt vor allem: zu viel.

Die fast grenzenlose Auswahl mag Freiheit und Selbstverwirklichung verheißen. Oft genug führt sie aber zu Frustration und Überforderung. Psychologen sprechen von "Entscheidungsüberlastung". Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass das Steinzeithirn, auf das der moderne Konsument leider nach wie vor angewiesen ist, bereits mit der Auswahl eines mittleren Supermarkts überfordert ist. Das Ergebnis: Stress und diffuses Unwohlsein.

Egal wen man fragt, warum es so kommen musste - Ökonomen, Soziologen oder Marketing-Leute - eine Wendung hört man immer wieder: die vom gesättigten Markt. Dabei wäre es passender, vom gesättigten Verbraucher zu sprechen. Schließlich müsste in Westeuropa niemand nackt auf die Straße gehen, wenn er in den nächsten Jahren nicht mehr shoppen könnte, in jedem Haushalt gibt es weit mehr Elektrogeräte, als die Menschen brauchen, die allermeisten Autos werden schon noch ein paar Jahre durchhalten, und Grundnahrungsmittel sind für Cent-Beträge zu haben. Um es deutlich zu sagen: Wir sind nicht nur ein bisschen gesättigt. Wir sind alle so richtig satt.

Der Kapitalismus sorge dafür, dass die Bedürfnisse der Menschen effektiv erfüllt werden, so steht es in jedem Lehrbuch. Aber was macht der Kapitalismus eigentlich, wenn alle Bedürfnisse erfüllt sind?

Für diese Aufgabe gibt es Menschen wie Kerstin Lehmann vom Düsseldorfer Beratungsunternehmen OC&C. "Natürlich kaufen wir meistens nicht, weil wir etwas wirklich brauchen, sondern weil es Spaß macht", erklärt sie. "Und damit es Spaß macht, muss es immer Neues geben, das uns zum Einkaufen verführt." Der Satte isst also womöglich weiter, wenn er etwas Neues probieren kann.

Unterschiedliche Schokoladen für morgens, vormittags, abends

Längst beschäftigt der Handel Psychologen, und die wissen, dass jede Veränderung in seinem Umfeld den Menschen in Alarmbereitschaft versetzt. Das geschieht unbewusst; lange bevor der Kunde den neuen Joghurt bewusst wahrnimmt, hat sein Körper schon reagiert. Allein das Wort "neu" auf der Verpackung genügt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Kein Wunder, dass es einem ständig entgegenschreit.

Wenn aber alle Hersteller Neuerungen auf den Markt werfen, um sich abzuheben, dann werden die Nischen immer kleiner. Das Einzelprodukt geht unter im enormen Angebot. Umso schneller muss der Hersteller einen Grund finden, wieder "neu" auf sein Produkt zu drucken. Der Erneuerungszyklus dreht sich immer schneller, das Angebot wird immer größer.

Zum Beispiel der Schokoladenhersteller Milka. Für jede Zielgruppe soll etwas angeboten werden, und innerhalb dieser Gruppen auch etwas für jede Jahres- und Tageszeit und für jede Situation. Denn im Sommer wird andere Schokolade gegessen als im Winter, morgens andere als abends. "Derzeit sehen wir noch Potenzial beim Vormittag", sagt Milka-Marketing-Managerin Merle Meier-Holsten.

Fünf Forschungszentren betreibt der Milka-Mutterkonzern Mondelez, um neue Keksformen, neue Verpackungen und vielleicht auch mal neue Geschmacksrichtungen zu erfinden. Mehr als hundert Produkte sind inzwischen auf dem Markt. "Mit einem relevanten Produktangebot entwickeln wir unsere Marke zeitgemäß weiter, denn Innovation ist der Motor für unser Wachstum", sagt Meier-Holsten.

Verrückter Anspruch, die beste Wahl zu treffen

Lange war Vielfalt auch der Garant für Wohlstand und Wohlbefinden. "Die Evolution hat in uns Menschen angelegt, dass eine große Auswahl Freiheit und Sicherheit suggeriert", sagt der Marketing-Psychologe Josef Sawetz. Und es muss ja tatsächlich eine Bereicherung bedeutet haben, als in den Sechzigern fremde Nahrungsmittel in Deutschland auftauchten - Spaghetti, Pizza, Dosenobst, solche Sachen. Auch Sawetz, 52, erinnert sich daran, dass der Bäcker seiner Kindheit zwei Sorten Brötchen hatte. Aber wer will schon zurück in die Zeit, als man bei der Post zwischen zwei Telefonen wählen konnte - die sich nur in der Farbe unterschieden?

Aber irgendwann überdrehte die Sache. "Die Wahrscheinlichkeit einer Fehlentscheidung wächst und mit ihr die Gefahr, dass die Entscheidung später bereut wird", sagt Sawetz. Sogar einen Forschungsbereich gibt es zu dem Thema: Die sogenannte Regret-Forschung. Sie zeigt, dass tief im Menschen der verrückte Anspruch angelegt ist, immer die beste Wahl zu treffen. Dieser Anspruch ist es, der die Sache so anstrengend macht.

Vor einigen Jahren unterzogen US-Forscher Kunden in der Elektronik-Abteilung eines Kaufhauses einem Experiment: Konfrontiert mit einer Sony-Anlage weit unter Listenpreis entschieden sich 66 Prozent der Menschen auf der Suche nach einer Musikanlage sofort für dieses unschlagbare Angebot. Als die Forscher jedoch ein zweites Modell, ebenfalls weit unter Listenpreis danebenstellten, kauften nur noch 54 Prozent eine der beiden Anlagen. Ein paradoxes Ergebnis, denn die zweite Option macht den Deal nicht ungünstiger. Mehr noch, sie erhöht sogar die Auswahl.

Die Erklärung ist, dass die zweite Option einen Konflikt im Kunden hervorruft: Eine der beiden Anlagen könnte besser sein als die andere. Ich könnte meine Entscheidung später bereuen, also denke ich lieber noch ein bisschen drüber nach.

Es gibt nun: "Smartsocks"

Wer heutzutage eine Musikanlage oder eine Waschmaschine kaufen muss, der wird höchstwahrscheinlich nicht die Auswahl genießen, sondern unter ihr leiden, wenn auch unterbewusst. Die vielfältigen Optionen zwingen den Kunden, sich mit der Funktionsweise der Geräte zu beschäftigen - dabei wollte er doch nur saubere Wäsche und ein bisschen Musik.

Wollte man philosophisch werden, könnte man sagen: Die Ware dient nicht mehr nur dem Konsumenten. Heute verlangt die Ware Aufmerksamkeit und Zeit.

Und das gilt für immer mehr Produkte. Kaffee zum Beispiel. Es ist nicht lange her, dass Kaffee einfach Kaffee war. Vielleicht hatte man sich an eine Marke gewöhnt, aber kaum jemand verschwendete einen Gedanken beim Einkauf. Und heute? Gibt es milden Kaffee und kräftigen, feinen und groben, als Pulver, Bohnen, Kapseln, Pads, das Ganze in Fair und in Bio.

Kaffee verlangt jetzt Aufmerksamkeit.

Die "Tyrannei der kleinen Entscheidungen" nannte das der britische Ökonom Fred Hirsch. In den Kaffeehaus-Ketten mit all ihrem Macchiato, Iced, Flavored, Semi-Skimmed hört man immer wieder vor allem ältere Kunden stammeln: "Ich möchte doch einfach nur einen Kaffee, bitte."

Es sehnt sich wohl kaum jemand nach den zwei Telefonen von der Post. Andererseits fänden es viele wohl auch angenehm, sich nicht mit dem Betriebssystem ihres Smartphones und den Feinheiten ihres Telefonvertrags beschäftigen zu müssen.

Dieses Bedürfnis nach Einfachheit ruft neue Anbieter auf den Plan. Zahlreiche Abo-Modelle im Internet nehmen dem Kunden den Stress beim Einkauf ab. Outfittery etwa schickt persönlich zusammengestellte Kleiderpakete nach Hause. Der Versandhändler Manufactum feiert schon seit Jahren auch wegen seines verständlichen Angebots Erfolge: Ein Staubsauger, ein Bügeleisen, jeweils für die Ewigkeit.

Oder Blacksocks: Das Unternehmen schickt Abonnenten in regelmäßigen Abständen schwarze Socken. Das Versprechen, sich nie wieder um Socken Gedanken machen zu müssen, reichte zum Erfolg. Doch vor zwei Jahren kam es, wie es kommen musste. Dem Blacksocks-Gründer Samy Liechti dämmerte es: "Mit Socken haben wir das langweiligste Produkt, das es gibt." Und er suchte nach einer Neuerung, die Aufmerksamkeit erregen würde.

Nun gibt es: "Smartsocks". Die kommunizieren mit dem Smartphone und einem Lesegerät, um dem Träger mitzuteilen . . . Aber ganz ehrlich: Wer will sich schon so genau mit Socken beschäftigen?

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