Serie "Wie wir wohnen":Das heiße Herz des Hauses

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Die Küche ist zum Lieblingsort der Deutschen aufgestiegen, auch bei den Männern.

Von Oliver Herwig

Die Gäste sitzen am Tisch, der Aperitif hat Lust auf mehr gemacht, aber nach der Vorspeise verschwindet der Hausherr. Nein, nicht in den Hobbykeller, sondern in die Küche. Die Sauce muss erst reduziert werden. Und das kann dauern. Wer guten Geschmack liebt, muss manchmal leidensfähig sein. Die Hausherrin ist nicht untätig, sie schenkt nach, erkundigt sich nach den Kindern und seufzt schließlich: Ihr kennt ihn ja.

Offenbar liegt die Küche genau an der Schnittlinie der Geschlechter. Während die Frau unter der Woche neben dem Job den Laden schmeißt, greift der Mann an Feiertagen oder am Wochenende ein. Kein Wunder, dass die Küchenausstattung dann zur Chefsache gerät und in ihrer Mischung aus Hightech (Induktionsherd, Fleischthermometer, Sous-vide-Technologie und Präzisionswaage) und Basics (Kupfertöpfe, Gasherd) inzwischen dem Auto als Spielwiese ebenbürtig sein dürfte.

Nicht nur gestressten Managern bietet der Herd Entspannung, ohne dass sie auf Kontrolle verzichten müssten. Der Braten kommt à point, Pardon, just in time auf den Tisch, Zutaten sind auf das Zehntelgramm abgewogen, wie es im Rezeptbuch steht, oder genial improvisiert. Solche Präzision findet sich sonst nur bei Uhrenliebhabern und spiegelt sich zunehmend in einer ausgefeilten Küchenplanung, die Funktion und Lebenslust verbindet und keine Ecke dem Zufall überlässt.

In den Fünfzigerjahren war die Arbeit am Herd ausschließlich Frauensache. (Foto: Scherl)

Kochen und Wohnen verschmelzen, dabei kann es ruhig etwas teurer werden. Der frei stehende Küchenblock mit fakultativ ausfahrbarer Dunsthaube könnte schon bald Standard werden, ob hier nun gekocht wird - oder nicht. Etwa 17 Jahre hält im Durchschnitt eine Küchenausstattung, und immer mehr Käufer entscheiden sich für etwas mehr Luxus beim Kochen. Seit Jahren wächst das Segment der gehobenen Küche. Für alle anderen bleibt wohl nur der Griff zum Telefon, um mal schnell eine Pizza zu bestellen.

An der Küche scheiden sich eben Geister und Geldbeutel: Hier Wellness am Herd für Lohas, dort Speed-Cooking für alle, die sich keine Zeit nehmen können oder wollen. Hier die exklusive Wohnküche, dort die raumoptimierte Kochzeile.

Gekocht wird in Deutschland mit Leidenschaft - vor allem im Fernsehen. Küche bringt Quote. Kaum ein Tag vergeht ohne Kochshow, Promidinner oder Küchenschlacht. Einfache Sättigungsbeilage war gestern. Heute ist der Kochlöffel eher Teil einer Wissenschaft, wenn nicht gar Kunst. Wir sind konditioniert auf Hochleistung in den eigenen vier Töpfen, uns wird eingeredet, dass ein einfaches, womöglich sogar liebevoll zubereitetes Gericht nicht mehr reicht. Es muss schon irgendein Kniff dabei sein, ein besonderes Gewürz, eine außergewöhnliche Kombination oder zumindest der passende Wein. Das hat Folgen: Zeige mir deine Geräte, und ich sage dir, was dir schmeckt. Die Ausstattung privater Haushalte beweist, dass Wachstum oft nur noch in der Ersatzbeschaffung liegt. Wir haben alles, und das oft zweifach, dreifach. All die Sedimente der Küchenmoden - Wok, Fonduetopf, Raclette und Co. - verstauben in irgendwelchen Schubfächern.

(Foto: SZ)

Sagenhafte 99,9 Prozent der Haushalte verfügten 2015 laut Statistischem Bundesamt über einen Kühlschrank, 84,6 Prozent über eine Kaffeemaschine und 73,3 Prozent über eine Mikrowelle. In manchen Küchen finden sich einzigartige Nudelmaschinen oder eine Art Wäscheständer für die eigene Pasta, die dann zu eigens gezogenen Kräutern und wallonischer Bio-Butter serviert wird. Geschmacksfortschritte dieser Art verlangen aber Platz. Wohin mit all den Geräten, Updates und Aufrüstsätzen? Schon in den Fünfzigerjahren bot Walt Disney in seinen Experimentalhäusern rotierende Oberschränke, die elektrisch betrieben wurden. Seither kämpft jede Küche mit Stauraum, auch, weil eine Speisekammer (die manchmal sogar einen kleinen Kühlschrank ersetzt) Luxus geworden ist, sprich: im regulären Grundriss nicht mehr vorkommt. So sehr die Wohnküche der neue gewünschte Standard ist, bleibt die Einbauwinzküche, jene jämmerliche Schrumpfform der legendären Frankfurter Küche, präsent.

Der Ort, an dem jede gute Party beginnt und meist auch endet, ist eigentlich gar kein Raum, sondern eher ein Zustand. Hier leben wir, checken Mails und versammeln uns um das (virtuelle) Herdfeuer. Trendsetter und Kreative bekennen sich offensiv zur Küche, und viele sind sich einig: Der Ort rund um Herd und Tisch ist der wichtigste überhaupt. Daher ist die Wohnküche Inkarnation einer besseren Welt des Zusammenlebens. Töpfe klappern, Musik und Worte schwirren durch den Raum, es duftet nach frisch gezupftem Basilikum, und für einen Augenblick kommt die Sippe als Schar der Freunde wieder zu sich. Der Alltag ist vergessen. Wir haben ein Ziel. Die Küche, das heiße Herz des Hauses, ist ein Zauberreich. Sie verbindet Präzision und Prestige, Genuss und Genie, Energie und Expertentum. Sie bietet zudem eine wunderbare Bühne, in der, wie in der klassischen Dramaturgie, Zeit, Ort und Raum zusammenfallen und oft alle Gattungen zugleich aufgeführt werden. Von der Komödie zur Tragödie und zurück liegen oft nur wenige Minuten - und schon ist das Kalbsschnitzel well done, erledigt.

Heute betätigen sich auch Männer in der Küche, wenn auch meist nur am Wochenende. Der Sinneswandel hat auch mit der Hightech-Küchenausstattung zu tun. (Foto: imago)

Der Aufstieg der Küche zum Lieblingsort der Deutschen war wohl unvermeidlich. Der leere Magen ist schließlich immer und überall. Die Ansprüche steigen, und mit ihnen die Ausstattung der eigenen Kochwerkstatt. 35 Millionen Deutsche geben an, regelmäßig zum Kochlöffel zu greifen, eine Zahl, die in den vergangenen Jahren sogar leicht gestiegen ist. 35 Millionen, man könnte annehmen, damit wäre die Republik flächendeckend versorgt. Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Während immer mehr Spitzengastronomie in der eigenen Küche ankommt, steigt zugleich die Zahl der Convenience-Produkte, Instant-Reis und Mikrowellenkost. In keinem europäischen Land, heißt es, geben die Einwohner weniger Geld für Produkte aus. Es muss schnell gehen, gelingen, satt machen und vor allem preiswert sein, wenn nicht gar billig. Wir sind schließlich nicht Frankreich, wären es aber gerne.

Nun kommen zwei Trends zusammen: Die voll automatisierte E-Kitchen lockt mit leichter Küche und immer neuen Online-Rezepten (gewissermaßen dem Kochwissen der ganzen Welt), und die neue Küchenordnung setzt auf Offenheit und Mitmachen. Eine Umfrage zeigt, dass 24 Prozent der über Sechzigjährigen meinen, Gäste hätten in ihrer Küche nichts verloren, aber nur ein Prozent der Dreißigjährigen. Transparenz zieht in die Küche ein, Trennwände verschwinden per Knopfdruck - zumindest optisch. Hochleistungskeramik verspricht kratzfeste Oberflächen, und Möbel aus Corian erlauben fugenlose Verbindungen. Wenn wir die perfekte Welt schon so schwer im Büro finden, hier kann sie entstehen. Natürlich werden wir in Zukunft noch kochen, aber die Mittel verändern sich. Bald heißt es flächendeckend: App in die Küche!

Die Küche holt nach, was Telefon und Auto teils schon hinter sich haben: Assistenzsysteme greifen uns unter die Arme. Die "intelligente", vernetzte Küche will uns auf Schritt und Tritt begleiten. Beim Einkaufen macht das Food-Management-System einen Vorschlag für das Hauptgericht und sorgt dafür, dass wir ja auch keine Zutat vergessen. Den Backofen können wir schon mal per Mail vorheizen. Und auch sonst stimmen sich die verschiedenen Geräte untereinander immer besser ab. Ob uns das nun gefällt oder nicht, in einem "Smart Home" läuft eben vieles unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle ab. Dann braucht es eigentlich nur noch neue Räume, die an der Schnittstelle zwischen cleaner Internetwelt, in der wir Schmutz und Dreck einfach wegwischen, und realer Maloche eine gute Figur machen.

Eigentlich bräuchte es ein Update der genialen Frankfurter Küche, die uns die große Architektin Margarete Schütte-Lihotzky schenkte, ein ultramodernes Kochlabor mit genialen Schütten und Fächern, die wahlweise Lebensmittel aufnahmen und Küchenabfälle. Um sie herum: Viel Raum und eine lange Tafel, an der die Gäste mitschnippeln und mitmachen, damit sich der Hausherr auch mal dazusetzen kann und nicht nur an seine geniale Sauce denken muss.

© SZ vom 02.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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