Süddeutsche Zeitung

Schulden bei Jugendlichen:Alles nur auf Pump

Das Handy auf Raten, das Auto auf Kredit: Die Zahl der überschuldeten Jugendlichen wächst rasant. Manche haben 30.000 Euro Schulden angehäuft. Gerade junge Menschen erliegen der Illusion, sich alles leisten zu können - auch wenn die Gläubiger ihnen längst im Nacken sitzen.

Von Ines Alwardt

Da steht ein Mädchen, höchstens 18, in einem dieser Einkaufstempel einer bekannten Modehauskette, sie trägt eine Abercrombie-&-Fitch-Tüte, die langen Haare zu einer Art Vogelnest zusammengesteckt, neue Doc Martens an den Füßen. Zum urbanen Outfit fehlt lediglich die schwarze Lederjacke aus dem Schaufenster. Neue Kollektion, 299 Euro. Aber der Preis wird hier kein Thema sein, die Entscheidung fällt binnen Sekunden. Die junge Frau marschiert zur Kasse, sie zückt ihre Karte. Ob sie das Geld wirklich hat, spielt jetzt keine Rolle.

Es ist eine einzelne Szene und trotzdem steht sie für den Trend innerhalb einer ganzen Generation: Zahlen auf Pump, unbezahlte Rechnungen und ein Schuldenberg, der immer weiter wächst - die Zahl der überschuldeten Jugendlichen nimmt rasant zu. Glaubt man dem Schuldneratlas, den die Auskunftei Creditreform jedes Jahr herausbringt, hat sich die Zahl der Schuldner unter 20 seit 2004 mehr als vervierfacht. Keine andere Altersgruppe zeigt einen derart hohen Anstieg. Jeder Achte unter den 18- bis 20-Jährigen ist nicht in der Lage, seine laufenden Kosten zu decken. Und auch die Älteren sind keine Vorbilder: Die Zahl der 20- bis 29-jährigen Schuldner ist um knapp 60 Prozent gewachsen.

Heute funktioniert alles auf Pump

Aber wie kommt es dazu, dass immer mehr junge Menschen in die Schuldenfalle geraten? Michael Bretz von der Auskunftei ist ein Mann, der einfach ausspricht, was er denkt. "Alles, was früher bar über den Tresen ging, funktioniert heute auf Pump", sagt er. Der Verkauf über Ratenzahlung sei inzwischen eines der wichtigsten Verkaufsargumente, gerade für Jugendliche gebe es viel mehr Möglichkeiten, sich zu überschulden.

Die Waschmaschine oder das neueste Smartphone in 24 Monatsraten, gerade im Internet lockten verführerische Angebote, nur einen schnellen Klick entfernt. Und auch die Geldhäuser nutzen ihre Chancen bei jungen Kunden. "Die Banken sprechen diese Zielgruppe mit ihren Angeboten direkt an", sagt Bretz, etwa mit Dispo-Krediten für Auszubildende. Die Illusion, die entsteht, ist ebenso trügerisch wie perfekt - sie lautet: Ich kann mir alles leisten, auch ohne Geld.

Bis zu 30.000 Euro Schulden

Fünftes Stockwerk, ein großes wuchtiges Gewerkschaftshaus in der Münchner Innenstadt. Carolin Tschapka, eine junge Frau mit freundlichen blauen Augen und rötlichem Haar, sitzt hinter einem Schreibtisch, in den Regalen quetschen sich Aktenordner. Seit drei Jahren arbeitet die Soziologin für die Jugendschuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Die meisten ihrer Klienten sind Anfang zwanzig, gerade in der Ausbildung, viele bekommen Arbeitslosengeld II. Carolin Tschapka weiß: Konsumwünsche und Kontostand klaffen bei vielen weit auseinander. "Gerade der Übergang in die Lebensselbständigkeit ist für die meisten eine echte Klippe." Die Jugendlichen wollen unabhängig sein, von Zuhause ausziehen, sich eine Wohnung leisten und ein eigenes Leben aufbauen. "Aber das erste Ausbildungsgehalt reicht zum Teil noch nicht mal für ein WG-Zimmer", sagt Tschapka.

Wer den Weg zu ihr findet, kommt spät. 7000 Euro Schulden haben ihre Klienten im Durchschnitt, die Fälle reichen bis zu 30.000 Euro. Fast immer kommen die Klienten wegen einer scheinbaren Kleinigkeit: einer offenen Handyrechnung, die sie nicht zahlen können oder einem Bußgeldbescheid wegen Schwarzfahrens. Erst allmählich, im Beratungsgespräch, stellt sich heraus, dass das Problem viel größer ist. Dass sich hinter einer kleinen Rechnung ein großer Schuldenberg verbirgt. Und viel Verzweiflung.

Oft sitzen den Jugendlichen schon sechs bis sieben Gläubiger im Nacken, öffentliche Verkehrsbetriebe, Gerichte und Sozialbehörden gehören zu den häufigsten. Bei einer Branche aber steht die junge Käuferschicht besonders oft in der Kreide. "Fast immer gehören Telefongesellschaften zu den Gläubigern", sagt Tschapka.

Im vergangenen Jahr schuldeten die unter 25-jährigen Schuldner den Telefongesellschaften laut Statistischem Bundesamt im Durchschnitt 1400 Euro. Das Handy gilt als eines der häufigsten Konsumgüter, für das sich Jugendliche zum ersten Mal verschulden, aus einem verständlichen Grund: "Das soziale Leben findet im Internet statt", sagt Carolin Tschapka, für sie sei es eine Art Zugang zur Gesellschaft.

Jugendliche kommunizierten heute ganz anders miteinander als noch vor zehn Jahren. Wer kein Handy hat, gehört nicht dazu, ist nicht online in den sozialen Netzwerken. Und kann nicht mitreden.

"Was ist denn eine Mindestlaufzeit?"

Besuch in der Städtischen Berufsschule zur Berufsvorbereitung in München. "Rauch- und handyfreie Zone" steht an der Glastür am Haupteingang. Um Zigaretten und Mobilfunkverträge, auch darum geht es an diesem Vormittag im dritten Stock. Eine Gruppe Jugendlicher sitzt in der Klasse. Von der Gefahr, die in Verträgen lauert, haben sie noch keine Ahnung: "Was ist denn eine Mindestlaufzeit?", fragt ein Schüler. Ihm ist nicht klar, dass er gerade - wenn auch nur zum Test im Unterricht - einen Kontrakt unterschrieben hat, der ihn dazu verpflichtet, in den nächsten 24 Monaten zu zahlen. Auch seine Zigaretten könne er sich bei dem Taschengeld von 30 Euro eigentlich nicht mehr leisten.

Eva Hering, die an der Tafel steht, mahnt: "Ich muss mir immer überlegen, ob ich das Geld wirklich habe, das ich ausgebe". Hering arbeitet für das Münchner Präventionsprojekt Cashless gegen Jugendschulden, sie sensibilisiert Jugendliche für dieses Thema. Dabei geht es ihr nicht nur darum, ihnen beizubringen, richtig mit Geld umzugehen und die Risiken zu erkennen. Es ist auch ein Kampf, den Hering und ihre Kollegin Ruth Pfeffer führen. Ein Kampf gegen die Prägungen der Konsumgesellschaft.

Werbung beeinflusst Jugendliche besonders stark

"Konsum wird heute ausschließlich als Erlebnis vermittelt", sagt Projektleiterin Pfeffer. "Man geht gemeinsam shoppen und nicht mehr spazieren." Sie weiß, wie stark Werbung die Jugendlichen beeinflusst, vor allem im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren. Wenn Marken anfangen, eine Rolle zu spielen - und damit der Wunsch, anerkannt zu werden. "Marke ist immer auch ein Statement", sagt sie. Das neueste Smartphone verleiht, scheinbar, Status in der Gruppe. Viele Jugendliche seien stark abhängig von ihrem Freundeskreis, stünden unter enormem Druck dazuzugehören - und seien deshalb leicht beeinflussbar und anfällig für die Meinung von außen. Wissenschaftler nennen sie deshalb "verletzliche Verbraucher". Für Werbestrategen sind sie eine lukrative Zielgruppe. "Viele von ihnen wissen nicht, was es heißt, einen Vertrag zu unterschreiben", so Pfeffer. Deshalb müsse man aufklären.

Steckt ein Jugendlicher erst in der finanziellen Klemme, braucht er mehr als nur Verhaltenstipps. "Jeder von meinen Klienten hat seine eigene Geschichte", sagt Carolin Tschapka. Manche Jugendliche berät sie bis zu drei Jahre lang, sie fassen Vertrauen. Tschapka merkt das an kleinen Dingen und freut sich darüber, auch wenn das Handy dabei eine Rolle spielt: "Eine Klientin hat mich neulich gefragt, ob unsere Beratungsstelle bei Facebook ist. Sie würde uns gerne als Freund hinzufügen", sagt Tschapka, sie lacht. Wer Schulden hat, braucht einen guten Freund.

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SZ vom 12.12.2013/jasch
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