Süddeutsche Zeitung

Ruhrgebiet:Lokale Helden gesucht

Vor allem in den Städten leben Menschen verschiedener Nationen, Altersgruppen und unterschiedlicher Bildung auf engem Raum zusammen. Dafür lassen sich Stadtplaner und Wohnungs­unternehmen einiges einfallen.

Von Stefan Weber

Bei uns im Veedel" - so heißt eines der bekanntesten Lieder der Kölner Mundart-Musikergruppe Bläck Fööss. Es handelt vom kleinen Glück vor der Haustür, vom Zusammenhalt unter Menschen, die sich schon lange kennen, vom Vertrautsein mit Nachbarn - kurz: von einer Idylle.

"Wat och passeht,

dat eine is doch klar,

dat schönste wat mer hann,

schon all die Lange Johr,

is unser Veedel,

denn he hällt ma zesamme,

ejaal wat och passet,

in unsrem Veedel."

Es ist mehr als 40 Jahre her, dass die Bläck Fööss dieses Lied zum ersten Mal gesungen haben. Seitdem hat sich vielerorts einiges verändert im Zusammenleben von Menschen. Die heile Welt im Veedel (berlinerisch: Kiez, wienerisch: Grätzel) gibt es immer weniger. Gute Nachbarschaften zerbröckeln oder entstehen erst gar nicht. Vieles ist flüchtiger, unverbindlicher geworden. Das hat mancherlei Ursachen.

Wie lässt sich das ändern? Können zum Beispiel Stadtplaner und Wohnungsunternehmen dazu beitragen, dass Menschen verschiedener Nationen und Altersgruppen, unterschiedlicher Bildung oder sozialer Herkunft gut, gerne und weltoffen zusammenleben? Mit dieser Frage haben sich das Wohnungsunternehmen Vivawest, das in Nordrhein-Westfalen mehr als 120 000 Wohnungen bewirtschaftet, und die RAG Montan-Immobilien, ein Spezialist für die Revitalisierung von industriell genutzten Arealen, beschäftigt. "Glückauf Nachbarn - Modellquartier Integration" haben sie ihr Projekt genannt.

Basis waren zwei Quartiere im Revier: Duisburg Vierlinden mit 2300 Wohneinheiten, gebaut für die nahe gelegene und 2008 geschlossene Zeche Walsum, und Kamp-Lintfort Friedrich Heinrich mit der noch zu entwickelnden Fläche des 2012 stillgelegten Bergwerks West. "Das Projekt soll auch eine Debatte anstoßen, wie man Quartiere neu und integriert denken kann - nicht nur, was das Bauen, sondern auch was das Quartiersmanagement und das Miteinander von Menschen angeht", erläutert Markus Masuth, Vorsitzender Geschäftsführung RAG Immobilien.

Auch wenn es zunächst vor allem um das Ruhrgebiet geht, das sich für die Zeit nach dem Bergbau (Ende dieses Jahres schließen in Bottrop und Ibbenbüren die letzten Steinkohlenbergwerke) als lebenswerte Region profilieren will, so will "Glückauf Nachbarn - Modellquartier Integration" Lösungsansätze und Ideen liefern, die überall dort anwendbar sind, wo Ballungsräume oder größere Städte im Umbruch stecken.

Wie sieht nun der Werkzeugkasten aus, aus dem sich Quartiers- und Flächenentwickler bedienen können, wenn sie dazu beitragen wollen, das Miteinander und den Zusammenhalt im Quartier zu stärken? Vivawest und RAG Immobilien haben gemeinsam mit der RAG-Stiftung einen zweistufigen Prozess gewählt, um Lösungen zu finden. In einer ersten Phase, der "Denkfabrik", entwickelten sechs Experten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen Thesen, wie Integration gelingen kann. In der darauffolgenden "Werkstattphase" erarbeiteten vier internationale und interdisziplinäre Planungsteams aus Architekten, Stadtplanern und Soziologen auf Basis dieser Thesen umfassende Konzepte mit Lösungsansätzen für eine integrationsfördernde Gestaltung von Quartieren. Dabei wurden die Bewohner regelmäßig miteingebunden.

Das Ergebnis ist eine Toolbox, wie die Projektverantwortlichen sagen, mit sechs großen - um im Bild zu bleiben - Schubladen: Wohnen +, Nahversorgung und Infrastruktur, lokale Ökonomie, Bildung, öffentlicher Raum und Mobilität. Jedes dieser Fächer ist gefüllt mit Lösungsansätzen (insgesamt 26) und Umsetzungsideen (insgesamt 52). "Die einzelnen Elemente sind vielfältig kombinierbar, ganz so, wie die Gegebenheiten und Notwendigkeiten im jeweiligen Quartier sind", betont Vivawest-Geschäftsführerin Claudia Goldenbeld. Schließlich stehe jedes Quartier vor eigenen Herausforderungen. Es gebe nicht die eine Lösung für alle.

Märkte, Kioske und Trinkhallen sollen zum Treffpunkt für die Bewohner werden

Was steckt zum Beispiel in der "Schublade Wohnen +"? "Wichtig sind hier vor allem zwei Dinge: zum einen, Wohnungsangebote zu schaffen, die unterschiedlichen Ansprüchen etwa an Größe, Zuschnitt und Preis genügen. Zum anderen, Orte und Räume zu entwickeln, an denen Kontakte und damit gelebte Nachbarschaft entstehen können", betont Rainer Fuchs, Bereichsleiter Strategie bei Vivawest. Umsetzungsideen aus der Toolbox dazu sind: Mietergärten oder gemeinschaftliche Dachgärten, durchlässige Wohnhöfe mit Platz für Aktivitäten im Hinterhof und, aus Sicht der Ideenentwickler besonders förderlich für die Kommunikation: multifunktional nutzbare Räume. Warum nicht Wohnungen im Erdgeschoss neu konzipieren, fragen die Projektverantwortlichen. Als Flächen für Läden, Treffs und Arbeiten, am besten offen oder großzügig verglast, damit keine Barrieren entstehen?

Beim Themenfeld Nahversorgung und Infrastruktur betonen die Entwickler der Toolbox, wie wichtig es ist, im Quartier ein sichtbares Zentrum des sozialen Lebens zu schaffen. Das gelinge zum Beispiel über die Etablierung oder Neuausrichtung eines Wochenmarktes, eines Kulturklubs oder eines Ortes, an dem Waren geliehen oder getauscht werden können. Auch Kioske und Trinkhallen sollten eine Aufwertung erfahren. Denn auch sie seien Plätze, die einen Anreiz zum Verweilen und damit zur Kommunikation bieten. Wohnen und arbeiten sollten, wenn möglich, in enger Nachbarschaft erfolgen, heißt es in der Gebrauchsanweisung der Toolbox. Dafür sei es erforderlich, dass ausreichend Flächen für Kleingewerbe, Werkstätten oder zum Experimentieren zur Verfügung stehen.

Beim Stichwort Mobilität geht es den Projektentwicklern zufolge nicht nur darum, ein Quartier möglichst gut anzubinden, etwa über ein gut funktionierendes öffentliches Verkehrssystem oder ein dichtes Straßennetz. "Wichtig ist auch die Verbesserung des Wegenetzes innerhalb des Quartiers, zum Beispiel über durchgehende, barrierefreie Fuß- und Radwege, eine Art Fahrrad-Rollator-Superhighway", sagt Bernd Lohse, Projektleiter RAG Montan-Immobilien. Weitere Ideen: Digital vernetzte Stationen für Car- und Bike-Sharing, Fahrradtaxen und Bürgerbusse, die das öffentliche Verkehrsangebot ergänzen.

Manchmal reicht Menschenkenntnis aus, um zu wissen, was wer braucht

Ein attraktiver öffentlicher Raum kann maßgeblich dazu beitragen, sich in einem Quartier wohlzufühlen. Dazu gehören laut Toolbox neben Grünflächen und Ruhezonen mit komfortablen Stadtmöbeln differenzierte Angebote für unterschiedliche Zielgruppen: zum Beispiel ein Aktivpark, ein Andachtsort, ein Streichelzoo, ein Jugendtreff, ein Werkhof oder ein Schreberpark.

Sprache und Bildung sind elementar für das Gelingen von Integration in einem Quartier - auch das hat das Projekt herausgearbeitet. Stadtplaner und Immobilienwirtschaft können ihren Teil dazu beitragen, indem sie Bildungseinrichtungen baulich einladender gestalten ("Betoneingänge zurückbauen") und eine Mehrfachnutzung von Gebäuden anstreben: Kindergärten, Schulen, Volkshochschulen, Bibliotheken sollen sich für sekundäre Nutzungen öffnen.

Die einzelnen Griffe in die Toolbox müssen koordiniert erfolgen. Es bedürfe einer Stelle, die das "große Ganze" im Blick behalte, betonen die Initiatoren. Es müsse deshalb Akteure vor Ort geben, die sich kümmerten. Engagierte Leute, "lokale Helden" möglichst, die gut vernetzt seien und bei der Realisierung der Projekte mitwirkten. "Die Lösungsansätze und Umsetzungsideen sind von uns auf Übertragbarkeit auf andere Quartiere überprüft worden und lassen sich in Abhängigkeit der Bedarfe eines Quartiers kombinieren und zu einem spezifischen ganzheitlichen Konzept zusammenfügen", betont Rainer Fuchs.

Natürlich, so räumt Vivawest-Geschäftsführerin Goldenbeld ein, verfolgten ihr Unternehmen und RAG Immobilien beim Projekt "Glückauf Nachbarn - Modellquartier Integration" auch eigene Interessen. Wenn Menschen sich in ihrem Quartier wohlfühlten, gebe es weniger Fluktuation und weniger Leerstand - Faktoren, die sich unmittelbar im Ergebnis des Wohnungsunternehmens niederschlagen.

Manchmal jedoch muss man als Quartierentwickler den Dingen gar nicht unbedingt wissenschaftlich auf den Grund gehen. Manchmal reichen Menschenkenntnis und ein paar Beobachtungen, um herauszufinden, was die Bewohner brauchen, um sich in ihrem Quartier wohlzufühlen. Zum Beispiel, wenn es um den Standort von Bänken geht: "Ältere Menschen wünschen sich einen Standort, von dem sie ins Grüne schauen können. Dagegen schätzen es jüngere, vor allem ausländische Familien, wenn Bänke um einen Tisch gruppiert sind. Denn das fördert die Kommunikation", sagt der Berliner Stadtplaner Uli Hellweg.

Und eine gute Kommunikation, das haben schon die Bläck Fööss in den Siebzigerjahren besungen, ist unverzichtbar, um sich im Veedel wohl zu fühlen.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2018
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