Ruhr-Metropole:Luft nach oben

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Vorne Golfplatz, hinten Stahlwerk: Der Strukturwandel im Ruhrgebiet bietet viele Chancen. Ein Vorteil: Wohnungen sind vergleichsweise günstig. (Foto: Rupert Oberhäuser/imago images)

Das Ruhrgebiet hofft auf einen Entwicklungsschub, doch große Akteure halten sich mit Investitionen zurück. Warum nur?

Von Stefan Weber

Die "Berlin-Story" nachschreiben - davon träumen Wirtschaftsförderer, Projektentwickler und Immobilieninvestoren im Ruhrgebiet. Um die Jahrtausendwende schien die Hauptstadt im Kräftemessen der Metropolen keine Chance zu haben gegen München, Hamburg oder Frankfurt. Die wirtschaftliche Dynamik an der Spree war gering, die Arbeitslosenquote hoch, die Perspektive unsicher. Doch das änderte sich in den folgenden Jahren rasant. Ob Büros, Wohnungen, Einzelhandel, Hotels oder Gewerbe - überall wurde der Platz auf einmal knapp. Projektentwickler legten sich mächtig ins Zeug, um das zu ändern. Und sie tun es nach wie vor. Flächen von etwa 16 Millionen Quadratmeter werden derzeit nach Schätzung von Bulwiengesa, einem der führenden Beratung- und Analyseunternehmen der Immobilienbranche, in Berlin entwickelt. Das ist etwa doppelt so viel wie in München oder Hamburg.

Lässt sich eine solche Städte-Karriere kopieren? "Der Metropole Ruhr ist eine ähnlich dynamische Entwicklung wie Berlin zuzutrauen. Denn die Mischung aus günstigen Wohnkosten, vielen jungen Menschen, einem großen Freizeit- und Kulturangebot sowie einer exzellenten Hochschullandschaft erinnert stark an die Situation in der Hauptstadt zu Beginn der Nuller-Jahre", meint Hanno Kempermann, Leiter Branchen und Regionen beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). In den vier Kreisen und elf Städten der selbsternannten Metropole Ruhr leben gut fünf Millionen Menschen. Vom Kreis Wesel im Osten bis Hamm im Westen und dem Ennepe-Ruhr-Kreis im Süden schließt diese Bezeichnung auch Städte wie Duisburg, Gelsenkirchen, Essen und Dortmund ein.

Wo früher Industrie war, tüfteln heute Start-ups an neuen Ideen

In keiner anderen großen deutschen Wirtschaftsregion kann man laut einer Studie von IW und Ruhr-Forschungsinstitut für Innovations- und Strukturpolitik so günstig Wohnraum mieten (im Durchschnitt für 6,26 Euro pro Quadratmeter) und Wohneigentum erwerben (für durchschnittlich 1796 Euro pro Quadratmeter) wie im Ruhrgebiet. Auch gemessen an der Zahl der Studierenden, der Forschungseinrichtungen sowie der Hochschulen und Universitäten rangiert die Region im Vergleich mit anderen Metropolen weit vorn. Die wirtschaftliche Situation dagegen ist mau: Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ist so niedrig wie nirgendwo sonst, und die Arbeitslosenquote ist überdurchschnittlich hoch. Ist das tatsächlich die Gemengelage, aus der eine zweite "Berlin-Story" entstehen kann? Andreas Schulten, Generalbevollmächtiger bei Bulwiengesa, meint: ja. "Die moderate Ausgangsbasis bei Preisen und Mieten ist der große Vorteil des Ruhrgebiets gegenüber den A-Städten, also gegenüber Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, München und Stuttgart. Dabei ist die Messlatte Berlin nicht weit hergeholt. Auch dort erinnert man sich noch an überwundene Arbeitslosenquoten von rund 18 Prozent."

Ob es an Rhein und Ruhr am Ende reichen wird für ein "neues Berlin" wird sich zeigen - zumindest ist eine Menge in Bewegung im Ruhrgebiet. Nach Recherchen von Bulwiengesa befinden sich dort derzeit Projekte mit einem Volumen von 11,1 Millionen Quadratmetern in der Entwicklung: Logistik- und Gewerbeimmobilien, Hotels, Einzelhandelsflächen, Büros sowie Wohnungen. Damit bewege sich die Region in etwa auf einem Niveau mit München und Hamburg, heißt es in einer vor Kurzem veröffentlichten Studie des Analyse- und Beratungsunternehmens. Fast die Hälfte des Bauvolumens entfällt auf die vier größten Städte Dortmund, Essen, Duisburg und Bochum. Dort werden zwei Drittel aller Büroflächen und gut die Hälfte aller Wohnflächen gebaut.

Die Region zählt zu den Top-Logistikstandorten in Deutschland

Dabei handelt es sich nicht nur um viel Klein-Klein. Es gibt auch Leuchtturmprojekte. Zum Beispiel das "Mark 51°7" auf dem ehemaligen Opel-Gelände in Bochum. Vor knapp sechs Jahren rollte hier das letzte Auto - ein Zafira - vom Band. Heute sind dort große Unternehmen wie die Deutsche Post zu Hause; der Logistiker hat dort für deutlich mehr als 100 Millionen Euro ein großes Paketzentrum errichtet. Zusätzlich haben sich im Mark 51°7 Start-ups aus der Bochumer Universität sowie Forschungseinrichtungen angesiedelt. Weitere Adressen folgen, denn die Entwicklung und Vermarktung der 70 Hektar großen Fläche ist noch nicht abgeschlossen.

Manche nennen es Redevelopment, andere sprechen von Flächenrecycling: Der Strukturwandel im Ruhrgebiet bietet viele Chancen, versiegelte Flächen zu aktivieren und Bestandsbauten neu zu nutzen. "Das Ruhrgebiet ist eine der spannendsten Metropolregionen Deutschlands. Ehemals hoch industriell genutzte Flächen sind heute Hot Spot für innovative junge Start-Ups genauso wie für etablierte Unternehmen", meint Stefan Dahlmanns, als Geschäftsführer der Instone Real Estate Development für das operative Entwicklungsgeschäft in Nordrhein-Westfalen zuständig.

Mehr als zwei Drittel der Projekte im Ruhrgebiet, so heißt es in der Studie von Bulwiengesa, werden von Investor-Developern entwickelt - also von Investoren, die für den eigenen Bedarf oder die Eigennutzung bauen und ihre Projekte nicht wie klassische Entwickler weiterverkaufen. Das gilt insbesondere für Büros. "Nur eine Minderheit der Projekte wird spekulativ, in der Hoffnung auf spätere Käufer, gebaut. Das wirkt einer möglichen Sorge vor Überhitzung oder potenziellem Leerstand entgegen", sagt Bulwiengesa-Manager Andreas Schulten. Hochburg im Büro-Segment ist Essen. Jeder fünfte im Ruhrgebiet projektierte Quadratmeter wird hier entwickelt. Hauptakteure sind der Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW (BLB), die Landmarken AG, die Soravia Group und Aurelis Real Estate.

Die Frage wird sein, wie viele dieser in den nächsten Jahren fertig werdenden Büros mittel- und langfristig tatsächlich benötigt werden. Schließlich hat die Corona-Pandemie vielen Personalverantwortlichen gezeigt, dass die Mitarbeiter auch im Homeoffice gut und effizient arbeiten. Warum also weiterhin für alle Beschäftigten einen Schreibtisch vorhalten, könnte sich mancher Raumplaner fragen.

Neue Einzelhandelsflächen werden im Ruhrgebiet - wie auch in zahlreichen anderen Regionen Deutschlands - bereits seit Jahren immer seltener entwickelt. Aktuell summieren sich die Projekte auf lediglich 800 000 Quadratmeter. Gestützt wird die Statistik durch großflächige Sanierungen und Umbaumaßnahmen. Oder auch durch neue nutzergemischte Projekte, bei denen Einzelhandel, Büros und Wohnungen eine Einheit bilden, wie zum Beispiel beim geplanten Forum in Herten.

Zahlreiche Projektentwicklungen insbesondere in den Kreisen Unna, Recklinghausen und Wesel, dürften dafür sorgen, dass die Region Rhein-Ruhr ihr Profil als einer der Top-Logistikstandorte in Deutschland in den nächsten Jahren weiter schärfen wird. Aktuell werden Projekte mit einem Volumen von 3,5 Millionen Quadratmetern entwickelt. Das ist mehr, als im Bereich Wohnen (3,4 Millionen Quadratmeter) geplant ist.

Ungeachtet des insgesamt großen Projektentwicklungsvolumens stellen die Fachleute von Bulwiengesa in ihrer Studie fest, "dass sich viele bekannte nationale Akteure im Ruhrgebiet zurückhalten." Den Grund vermutet Andreas Schulten in einer oftmals schwierigen Projektkalkulation: "Auf der einen Seite haben wir hohe Kosten bei Grundstücken und Bauleistungen, auf der anderen Seite relativ niedrige Erträge." Aber genau diese Konstellation habe es um die Jahrtausendwende auch in Berlin gegeben. Viele, die damals Mut besessen und investiert haben, wurden mit üppigen Renditen belohnt. Diese Geschichte, so wünschen es sich die Akteure im Ruhrgebiet, möge sich gerne noch einmal in ihrer Heimatregion wiederholen.

© SZ vom 31.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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