Rohstoffhandel:Tiefdruckgebiete und Terminkontrakte

Chicago, die weltgrößte Rohstoffbörse: Wie das Geschäft hier läuft, spürt die ganze Menschheit - die Broker fühlen sich unschuldig an den hohen Lebensmittelpreisen.

Nikolaus Piper

Im Herzen Chicagos steht die Börse. Der Wolkenkratzer des Chicago Board of Trade war lange der höchste der Stadt, und er ist heute noch einer der schönsten: Ein eleganter Art-Déco-Bau im alten Finanzdistrikt, fertiggestellt mitten in der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre. Oben auf dem Dach thront eine Bronze-Statue von Ceres, der römischen Fruchtbarkeitsgöttin, fast so, als handele es sich um einen Tempel und nicht um ein Gebäude, in dem Geschäfte gemacht werden.

Rohstoffhandel: Solche Verhältnisse gab es noch nie: Auch die Broker an den Rohstoffbörsen können ob der momentanen Preisentwicklung nur mit den Achseln zucken.

Solche Verhältnisse gab es noch nie: Auch die Broker an den Rohstoffbörsen können ob der momentanen Preisentwicklung nur mit den Achseln zucken.

(Foto: Foto: dpa)

An jedem Werktag zwischen 9.30 und 13.15 Uhr werden hier, an der Ecke La-Salle und Jackson Straße, die Rohstoffpreise für die ganze Welt gemacht. Zwar findet der Handel inzwischen meist elektronisch statt, der wichtigste Ort der Börse ist aber bis heute der "Grain Room". Und dieser Getreidesaal erschlägt jeden, der ihn zum ersten Mal betritt. Fast 800 Händler, Makler und Angestellte sind hier registriert. Im Vergleich dazu macht sich die Frankfurter Börse aus wie ein Wohnzimmer. "Open Outcry" heißt der Parketthandel, und man braucht keine Übersetzung, um zu wissen, was das bedeutet: Angebot und Nachfrage werden ausgerufen, und das mit voller Lautstärke.

Größte Rohstoffbörse der Welt

An einem "Pit", einem Börsenstand, hat sich an diesem Morgen eine Traube von Händlern gebildet. In ihren roten, grünen und blauen Jacken stecken Auftragsblocks und Kugelschreiber, einige haben Wasserflaschen eingepackt. Hier wird mit "Futures", also Terminkontrakten auf Sojabohnen gehandelt. Ein Händler dreht beide Handflächen nach außen und schreit: "Two thirty nine four". Das bedeutet: Er möchte zwei Kontrakte Soja zum Preis von 12 Dollar und 39,4 Cents verkaufen. Die "zwölf" muss der Händler gar nicht erst erwähnen - jeder am Pit weiß, wo der Preis für Soja derzeit liegt. Geliefert werden soll im November, was der Händler dadurch anzeigt, dass er zwei Finger an die Nase legt.

Zwischen 170.000 und 200.000 solcher Geschäfte werden in Chicago jeden Tag getätigt. Dazu kommen noch 600.000 Kontrakte aus dem Computerhandel. Im vergangenen Jahr ist CBOT, der Chicago Board of Trade, von seiner alten Rivalin übernommen worden, der Fleisch- und Viehbörse Chicago Mercantile Exchange (CME). Zusammen sind CME und CBOT jetzt die größte Rohstoff- und Terminbörse der Welt. Was in Chicago ausgehandelt wird, bestimmt das Leben von Farmern im Mittleren Westen der USA und von Reisbauern in Vietnam, von Bettlern in den Slums von Manila und von Bäckern in Deutschland.

Ein wilder Morgen

Und heute geht es dabei oft um Sein oder Nichtsein. In diesem Frühjahr war Mais zeitweise um 33 Prozent teuerer geworden, Soja um 31 Prozent, Weizen um 64 Prozent und Reis um 63 Prozent. Inzwischen haben sich die Verhältnisse etwas beruhigt, aber die Lage bleibt dramatisch. Das kleinste der Probleme dabei ist, dass plötzlich viele glauben, die Leute hier in Chicago seien schuld, wenn in Haiti, auf den Philippinen oder anderswo Menschen vom Hunger bedroht sind.

Um das Spiel mit den Rohstoffpreisen besser zu verstehen, sollte man vom lauten Grain Room hinauffahren in den 13.Stock des Börsen-Hochhauses und Jack Scoville in seinem Büro besuchen. "Es ist ziemlich wild heute", sagt der 51-Jährige. An diesem Morgen hat ihn ein Anruf um zwanzig Minuten nach fünf aus dem Bett geworfen. Ein Kunde aus Spanien wollte wissen, ob es denn stimme, dass sich die Regierung Argentiniens mit den streikenden Farmern geeinigt habe, und was das für den Preis von Sojabohnen bedeuten könne. Später trat er bei CNN auf und erklärte einem Reporter, wie falsch das Gerücht sei, bei Wal-Mart werde jetzt schon der Reis rationiert.

Noch nie Verhältnisse wie diese

Jetzt sitzt Scoville vor zwei Bildschirmen und geht seiner eigentlichen Arbeit nach: Er handelt mit Soja, Mais und Kaffee. Leise, ernsthaft, mit verwuscheltem Haar, die Krawatte gelockert, die rot-grüne Händlerjacke achtlos über den Stuhl geworfen, scheint Scoville alle gängigen Klischees vom Spekulanten zu widerlegen.

Er ist Broker, das heißt, dass er nicht auf eigene Rechnung handelt, sondern im Auftrag von Kunden aus aller Welt. Zu denen gehören Getreidehändler aus Europa, Farmer aus Iowa und North Dakota und eine Kaffee-Kooperative aus El Salvador. Gerade hält er zwei Telefonhörer in den Händen. In die eine Muschel spricht er Spanisch mit einem Kunden in São Paulo, in die andere Englisch mit einem Händler an der New Yorker Rohstoffbörse. Er bekommt einen Auftrag, notiert die Zahlen, stempelt den Zettel ab und wirft ihn in ein Fach.

Seit 27Jahren ist Scoville im Geschäft, aber Verhältnisse wie diese hat er noch nie erlebt. Jahrelang lag zum Beispiel der Preis für Weizen bei ungefähr drei Dollar pro Bushel. Das ist ein altes amerikanisches Schüttmaß, das dem deutschen Scheffel entspricht und sich im internationalen Getreidehandel gehalten hat. Das Gewicht ändert sich je nach Produkt; ein Bushel Weizen wiegt zum Beispiel 27 Kilo. Heute muss man für ein Bushel knapp acht Dollar bezahlen, wobei das Schlimmste schon wieder vorbei ist. Im März erreichte der Preis zeitweise 13,50 Dollar, die höchste Steigerung an einem Tag lag bei mehr als fünf Dollar. "Solche Schwankungen sind ohne Beispiel in der Geschichte", sagt Scoville. Sie sorgen für Verunsicherung.

Lesen Sie weiter, warum die Agrarhändler bei dem Gedanken an eine Missernte in Panik verfallen.

Tiefdruckgebiete und Terminkontrakte

Eigentlich wurde die Rohstoffbörse ja einst mit dem Ziel gegründet, Sicherheit zu schaffen. Als eine Gruppe von 83 Kaufleuten am 3.April 1848 den Chicago Board of Trade gründeten, wollten sie Ordnung in den Handel mit den Agrarprodukten des Mittleren Westens bringen. Damals waren dies Mehl, Gras-Samen und Heu.

Drei Jahre später konnten Farmer erstmals ihre Ernte "forward" verkaufen, also im Voraus. Damit sicherten sie sich gegen fallende Preise ab, die Händler gegen steigende. An diesem Prinzip hat sich nichts geändert. Mit einem der heute üblichen Terminkontrakte erwirbt ein Händler das Recht und die Pflicht, 5000 Bushel Mais, Weizen, Sojabohnen oder Reis zu einem festgesetzten Preis und Zeitpunkt zu liefern oder zu kaufen.

Je später die Aussaat desto schlechter die Ernte

Jack Scoville öffnet auf seinem Bildschirm die Internetseite des Wetterdienstes der Vereinigten Staaten und holt sich die Karte des Staates Illinois. Am Morgen hatte sich ein Unwetter der Region genähert, nun hat es plötzlich abgedreht und ist über dem Michigan-See niedergegangen. "Das erklärt, warum der Preis für Mais wieder um ein paar Cent gesunken ist."

Scoville erklärt: Das Frühjahr im Mittleren Westen war bisher sehr nass. Deshalb konnten die Farmer mit ihren schweren Maschinen noch nicht auf die Felder fahren und den neuen Mais aussäen. Je später aber die Aussaat, desto schlechter die Ernte und desto höher der Preis. Deshalb macht in diesen Tagen jedes Tiefdruckgebiet die Terminkontrakte für Mais teurer "Es ist noch keine Katastrophe, aber ein Problem", sagt Scoville.

Die Katastrophen finden woanders statt. Jack Scoville weiß viele Gründe, warum die Preise auf der Welt so außer Kontrolle geraten sind: der schwache Dollar, die Explosion der Ölpreise, die Dünger und Diesel für die Traktoren verteuert hat, die zusätzliche Nachfrage aus Indien und China, schlechte Ernten in Europa und Australien, die Subventionen für Bio-Sprit. Aber was ist die Rolle der Börsen selbst? Ist nicht auch die Spekulation um Terminkontrakte schuld an den schlimmen Verhältnissen?

Regelmäßiger Realitäts-Check

Scoville holt Grafiken auf den Bildschirm: die Entwicklung der Preise für Weizen, für Mais und für Weizen aus den letzten drei Jahren. Alle haben dieselbe Form: Erst ist die Kurve flach, dann beginnt sie zu steigen, schließlich schießt sie fast senkrecht in die Höhe, um dann, Mitte April, wieder etwas abzubrechen. "Schauen Sie sich diesen Knick an", sagt er und zeigt auf die Kurve mit dem Weizenpreis. "Ich glaube nicht, dass irgendjemand in diesem Jahr mit Weizenspekulation Geld verdient hat. Da wollte ein Vorstandschef in einem Lebensmittelkonzern Vorräte sichern und sagte seinen Leuten: Kauft so viel ihr könnt. Und dann hat er kalte Füße bekommen."

Jede Spekulation bricht zusammen, wenn sie mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Anders als bei Aktien oder Immobilien gibt es aber bei Weizen, Mais und Reis einen regelmäßigen und unerbittlichen Realitäts-Check, und den liefert die Natur: Über Regen, Sonne und Frost kann man ein paar Monate lang spekulieren, spätestens zur Erntezeit aber ist klar, ob der Spekulant Gewinn gemacht oder sein Geld verloren hat.

Lesen Sie weiter, was Börsenspekulanten von Landwirten unterscheidet

Tiefdruckgebiete und Terminkontrakte

Index-Fonds kontrollieren Mais-Vorräte

In früheren Zeiten galt Rohstoff-Spekulation daher als ein riskantes Geschäft für Profis, die etwas von Landwirtschaft verstehen. Doch jetzt haben die abenteuerlichen Preissteigerungen jede Menge neuer Spieler gelockt. Investoren von der Wall Street fliehen vor der globalen Finanzkrise und versuchen ihr Glück mit Reis und Soja. Anders als Farmer und Getreidehändler suchen sie nicht Sicherheit, sondern die maximale Rendite.

Dazu gehören Leute wie Dwight Anderson, der in New York "Ospraie" betreibt, den größten auf Rohstoffe spezialisierten Hedgefonds der Welt. Aber auch ganz normale Anleger aus der ganzen Welt hoffen nun auf das schnelle Geld mit den Rohstoffen. Jede Woche fließt im Durchschnitt eine Milliarde Dollar von diesem Spielgeld nach Chicago, und das bei einem Gesamtmarkt von überschaubaren 240 Milliarden Dollar. So genannte Index-Fonds, die ihr Geld mit Wetten auf Rohstoff-Indices verdienen, kontrollieren derzeit 4,5 Milliarden Bushel Mais, Weizen und Sojabohnen, was ungefähr der Hälfte der gesamten Vorräte in den Silos der USA entspricht.

Wer die Spezialisten an der Chicagoer Börse fragt, was diese neuen Spekulanten nun bewirken, der stößt auf einige Unsicherheit. "Die Index-Fonds sind wie ein Elefant in einem Zimmer. Man weiß nicht genau, was er anstellen wird", sagt Greg Wagner, ein Marktforscher bei der Analyse-Firma AgResource in Chicago. "Normalerweise ist die Gruppe der Käufer und Verkäufer hier begrenzt. Jetzt hat alles eine neue Dimension bekommen."

Die Preise spielen verrückt

David Lehman, Chef-Ökonom der Börse, findet sogar Positives an den neuen Mitspielern: "Die Spekulanten sind nicht schuld an der Preisexplosion. Sie bringen Liquidität in die Märkte, das erleichtert den Ausgleich von Angebot und Nachfrage."

Im April musste allerdings die zuständige Aufsichtsbehörde, die Commodity Futures Trading Commission (CFTC) in Washington eine Anhörung über die Rolle der neuen Spekulanten veranstalten. Grund war, dass das Spiel der Rohstoffkontrakte plötzlich nicht mehr so funktionierte wie gewohnt. Normalerweise kostet ein Terminkontrakt Weizen, Sojabohnen oder Mais an dem Tag, an dem er ausläuft, genau so viel wie der Weizen, die Sojabohnen oder der Mais selbst.

Seit die Preise verrückt spielen, ist das plötzlich anders: Terminkontrakte sind teurer als die Ware, die dahinter steht, ohne dass jemand bisher herausfinden konnte, warum das so ist. Die Folgen aber sind fatal: Manche Getreidehändler weigern sich, den Farmern ihre Ernte im voraus abzukaufen, weil ihnen die Kontrakte zu riskant sind. Die Farmer müssen das Risiko wieder selber tragen, wie in den Tagen, ehe es die Börse in Chicago gab.

Wehe, die Missernte kommt

Was auch immer die Spekulanten nun tun werden, die meisten Experten warnen, dass es in diesem Jahr noch schlechte Nachrichten aus Chicago geben könnte. "Die Weizen-Vorräte in Amerika sind so niedrig wie seit 60 Jahren nicht mehr, weltweit stehen sie auf einem 30-Jahres-Tief", sagt David Lehman, der Chefökonom der Börse. Noch deutlicher wird Jim Bower, ein Rohstoffhändler aus Lafayette im Bundesstaat Indiana. "Wir können uns in diesem Jahr kein Wetterproblem leisten", sagt er. "Bis jetzt gab es ja noch gar keine Missernte, und die Leute sind trotzdem am Rande der Panik. Was wird passieren, wenn es wirklich einmal eine Missernte gibt?"

Auch Jack Scoville weiß nicht, wann die Welt der Rohstoffe wieder in Ordnung kommen wird. Er zuckt nur mit den Achseln und sagt: "Da entscheidet ein anderer Spekulant drüber. Leider gehört Gott nicht zu meinen Kunden."

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