Richtig Trinkgeld geben:Der Rest ist für Sie!

Kein Tip für den Kapitän - Richtig Trinkgeld geben an Bord

Trinkgeld kann eine komplizierte Angelegenheit sein.

(Foto: dpa-tmn)

Warum bezahlt man Kellner und Friseure, obwohl man ihnen eigentlich gar nichts schuldet? Eine kleine Kulturgeschichte des Trinkgelds - von altgriechischen Prostituierten bis ins Bierzelt von heute.

Von Andreas Zielcke

Er wiederholt sich wieder und wieder, dieser kurze Moment, man hat ihn tausendfach erlebt und hinter sich gebracht, und doch wird er nie zur bloßen Routine, nur allzu oft streift er die Grenze zum Heiklen. Selbst die Gefahr, dass sich eine Prise Peinlichkeit einmischt, ist nie ganz ausgeschlossen: der kleine Augenblick der Wahrheit, wenn im Restaurant, in der Bar, beim Friseur, beim Roomservice das Trinkgeld fällig wird.

Was genau spielt sich in dieser flüchtigen, aber niemals banalen Situation ab? Wofür erhält der Kellner, Barkeeper oder Friseur einen Geldbetrag, dem man ihm rechtlich nicht schuldet? Ist es ein Geschenk an einen Wildfremden? Und welcher Betrag gilt als angemessen? Gemessen an was? Bis heute hat keiner eine restlos überzeugende Erklärung gefunden, warum Leute, die beim Discounter entrüstet Artikel aussortieren, die einen Cent teurer sind als bei der Konkurrenz, beim anschließenden Imbiss in der Kneipe zwei, drei Euro oder mehr Trinkgeld am Tresen liegen lassen.

Kein Wunder, dass sich vor allem die klassische Wirtschaftstheorie besonders schwer damit tut. Einen materiellen Vorteil erzielt der Geber durch sein Aufgeld nicht. In der Regel wird es erst gezahlt, nachdem die Dienstleistung bereits erbracht ist. Die Kellnerin, das Zimmermädchen kann also nicht mehr beeinflusst werden, der Gast, zumal der Tourist, sieht sie in vielen Fällen nie wieder, muss sie sich daher auch nicht für künftige Inanspruchnahme gewogen machen. Utilitaristisch betrachtet, ergibt Trinkgeld für den Geber keinen Sinn.

Ist es also angewandter Altruismus? Robert H. Frank, der Managementtheorie und Business-Ethik in New York und Ithaca lehrt, akzeptiert diesen Schluss nicht. In Wahrheit, sagt er, handle es sich hier nur um maskierten Eigennutz. Der Geber gefalle sich darin, als Altruist zu gelten, der Egoist hänge sich das Mäntelchen des Nicht-Egoisten um: die eitelste Form der Selbstsucht.

Ein Dienstmädchen für die Nacht

Das passt zu dem gängigen Bild der heutigen Gesellschaft, die in ich-bezogene Individuen zerfallen ist: kalt, monetär, berechnend. Was immer man von diesem Bild hält, das vielfältige Motivgeflecht der Trinkgeldsitte lässt sich jedenfalls mit solcher Schlichtheit nicht erfassen. Zu ihren Rätseln gehört, dass sie sich seit der Antike in den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen behauptet hat - allerdings keineswegs überall. Vor allem in asiatischen Ländern wie China oder Korea war sie unbekannt oder verpönt, in der orientalischen und abendländischen Welt hingegen fest verankert, wenn auch mit stark wechselnder Färbung und Bedeutung. Und selten war sie unumstritten.

Bei den alten Griechen und Römern gab es Trinkgeld nur an den Peripherien der Gesellschaft, in Wirtshäusern und Absteigen, in denen man für einen Sonder-Obolus etwas mehr Heu für die spartanische Schlafstatt, aber durchaus auch ein Dienstmädchen für die Nacht erhalten konnte. So wie die Grenze zwischen Extralohn und Trinkgeld fließend war, so war es häufig auch die zwischen Bedienung und Prostitution. Seit damals haftet der Geruch der Käuflichkeit - oder genauer gesagt: des vermeintlichen Anrechts, sich der Reize von Mägden und Kellnerinnen durch ein "geschenktes" Aufgeld "bedienen" zu können - dem Trinkgeld an, bis tief ins 20. Jahrhundert. Noch heute können Kellnerinnen in einem Bierzelt ein garstiges Liedchen davon singen, wie eng ihre Toleranz gegenüber Anzüglichem und Zudringlichkeiten mit der Bemessung des Trinkgelds zusammenhängt.

Grundsätzlich aber blieb Trinkgeld in Gesellschaften, die sich auf Sklaven oder Leibeigene stützten, in dem Maße unbedeutend, in dem der Diensteifer des abhängigen Personals ohnehin garantiert war. Deshalb beschränkte es sich auch im Mittelalter oft auf zweifelhafte, wenn nicht verzweifelte Situationen, etwa wenn der Häftling oder Gefolterte seinem Henker ein paar Taler in der Hoffnung zukommen ließ, nicht ganz so grausam gemartert zu werden.

Es geht um Ehre, Position und Abhängigkeit

Allerdings lässt sich solches Extrageld kaum mehr von Bestechung abgrenzen. Überhaupt verwischt sich in allen Zeiten, in denen viele Dienstleistungen, auch amtliche, nur gegen eine diskrete Zuwendung - im Orient würde man sagen: gegen einen Bakschisch - zu erhalten waren (und in sämtlichen korrupten Bürokratien dieser Welt noch immer nur zu erhalten sind), der Unterschied von Trinkgeld und Bestechung. Finden sich nicht sogar, von den raren Ausnahmen reiner Dankbarkeit und Fremdnützigkeit abgesehen, auch heute in jedem noch so harmlosen Trinkgeldakt winzige Spurenelemente von Bestechung, von Schmiergeld? Zwar dem Dienenden nicht von vorneherein versprochene, aber doch stillschweigend in Aussicht gestellte Geldbelohnung für besondere Freundlichkeit und persönliches Entgegenkommen?

Doch erst mit der Neuzeit kam echter ethischer und politischer Streit um das Trinkgeld auf und kulminierte schließlich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Denn nicht zufällig traten beim Übergang von der aristokratischen zur bürgerlichen Gesellschaft widersprüchliche Motive der Trinkgeldpraxis zu Tage. In der ständisch aufgebauten Gesellschaft drückte das Trinkgeld (das natürlich nie zwischen Adligen gleichen Ranges ausgetauscht wurde) stets den Unterschied von Stand und Status aus, das Geld wurde, wie höflich auch immer überreicht, von oben nach unten gegeben. Halb nobel, halb almosenhaft betonte es nolens volens den niedrigen Stand des Empfängers. Je mehr sich dieser Stand historisch emanzipierte, desto fühlbarer wurde das unvermeidlich "erniedrigende" Moment des Trinkgeldes in solchen asymmetrischen Situationen.

Konnten Bürger mit Selbstbewusstsein ein derart demütigendes Geldgeschenk annehmen? Das fatale Problem an der historischen Entwicklung war, dass sich die bürgerliche Welt zwar der aristokratischen Vorherrschaft und Ständeprivilegien entledigte, doch vor allem in den Jahrzehnten der Industrialisierung um den Preis, neue Klassenunterschiede zwischen den Besitzenden und den proletarischen Nichtbesitzenden zu schaffen - mit der Folge, dass nun die armen Arbeiter, Tagelöhner, Dienstmägde und Gastwirtsgehilfen die Empfänger des Trinkgeldes wurden. Die Statusdifferenz war nicht weniger schmerzhaft zu spüren, die Abhängigkeit vom Extrageld mindestens so kränkend wie zuvor in den Feudalzeiten.

Trinkgeld wurde, entgegen allen Versprechungen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und trotz aller wohlmeinenden Generosität der Geber, zum Ausdruck von höherer und niedriger Ehre, von gesellschaftlicher Position und Abhängigkeit, von Erfolg und Misserfolg. Besonders Frauen aus den Unterschichten, die die Mehrheit des dienenden Personals in den schon im 19. Jahrhundert aufkommenden Frühformen des Massentourismus stellten, mussten die hässliche symbolische Kröte schlucken, die jeder Trinkgeldakt barg.

In den vielen sozialdemokratischen, aber auch lebensreformerischen Schüben der wilhelminischen Ära wuchs darum auch die Stimmung gegen das Trinkgeld. Sie gipfelte in der Forderung, es wegen seines entwürdigenden Charakters gänzlich abzuschaffen. Natürlich stand dahinter auch das gewerkschaftliche Motiv, die Wirte und sonstigen Arbeitgeber der Dienstleistungsbranchen dazu zu zwingen, ihre Kellner und Gehilfen hinreichend zu entlohnen. In jedem Fall sollten sie von den entehrenden und überdies unberechenbaren Trinkgeldern unabhängig werden.

Die Prohibitionsversuche misslangen auf ganzer Linie. Die Trinkgeldsitte, gegen die sich sozialdemokratische Kräfte ebenso vergeblich stemmten wie die Diktaturen des 20. Jahrhunderts (auch die DDR wollte es als bürgerliches Klassenrelikt beseitigen), beweist eine unerhörte Beharrungskraft. Die schlimmsten Auswüchse der Abhängigkeit sind durch gesetzliche Schutzregeln und neuerliche Mindestlohnvorgaben abgestellt, vor allem in der Gastronomie. Doch mit der Globalisierung des Massentourismus gibt es mittlerweile kaum noch einen Fleck auf der Erde, an dem nicht ein Kellner, Reiseführer, Hotelpage oder sonstiger hilfreicher Geist mehr oder weniger diskret, mehr oder weniger erwartungsvoll und ungeduldig die Hand aufhält - auch im ehemals trinkgeldresistenten China, auch in Korea, auch auf den abgelegensten Pazifikinseln.

Die Geste zu übergehen, gilt überall als Fauxpas. Winfried Speitkamp benutzt in seiner "Kleinen Geschichte des Trinkgeldes" den schönen Begriff des "unvermeidlichen Fremdkörpers", den das Trinkgeld in der durchrationalisierten Moderne darstellt. Für die Empfänger ist es eine wichtige Neben-, oft sogar eine Hauptverdienstquelle. Doch was bewegt den Geber? Eigennutz und Dankbarkeit, Berechnung und soziale Sensibilität, Eitelkeit und Selbstlosigkeit, Abgeltung einer lästigen Erwartung und Empathie, Statusdenken und praktizierte Gleichheit? Sicher ist nur, dass das Trinkgeld für einen flüchtigen Moment zwei Fremde durch einen vieldeutigen Akt verbindet: Nicht alles, was gelingt, muss man verstehen.

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