Reden wir über Geld:"Flachbildschirme sind kein Symbol für Luxus"

Der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, über Hartz-IV-Sätze, Bratwürste - und die Frage, was Bedürftige brauchen.

Thomas Öchsner

Spätestens am Montag will Arbeitsministerin Ursula von der Leyen verkünden, wie viel Geld künftig Menschen bekommen, die von Hartz IV leben. Dann wird wieder die Debatte darüber anschwellen, wie die Gesellschaft mit ihren Armen umgeht.

Ulrich Schneider: "Der Sarrazin hat offenbar in irgendwelchen Discountern herum gewühlt, bis er endlich eine billige Bratwurst und günstiges Sauerkraut gefunden hatte."

Ulrich Schneider: "Der Sarrazin hat offenbar in irgendwelchen Discountern herumgewühlt, bis er endlich eine billige Bratwurst und günstiges Sauerkraut gefunden hatte."

(Foto: Caro / Bleicker)

Einen, der bei dieser Diskussion stets dabei ist, erkennen die Fernsehzuschauer an seinen langen Koteletten: Ulrich Schneider, Talkshow-Dauergast, ist Deutschlands bekanntester Lobbyist für die Armen. Schneiders Vater war Bierfahrer, die Mutter ging gelegentlich putzen. Der 52-Jährige ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands mit 10.000 Mitgliedsorganisationen, 545.000 hauptamtlichen Mitarbeitern und einer Million ehrenamtlichen Helfern. Schneider empfängt in seinem Büro in Berlin-Mitte. Auf dem Tisch ein großer Blumenstrauß, im Regal liegt ein Fußball der Betriebsmannschaft.

SZ: Herr Schneider, reden wir über Geld. Sie predigen seit Jahren, dass ein Hartz-IV-Empfänger mit 359 Euro im Monat nicht auskommen könne. Warum eigentlich nicht?

Ulrich Schneider: Weil dieses Geld hinten und vorne nicht reicht. Zum Beispiel können Sie sich damit nicht so ausgewogen ernähren, wie es nötig wäre - nicht einmal zu Discounterpreisen.

SZ: Der scheidende Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin hat als Berliner Finanzsenator einen Speiseplan für Hartz-IV-Bezieher aufgestellt. Sein Fazit: Das Geld reicht fürs Essen.

Schneider: Der Sarrazin hat offenbar in irgendwelchen Discountern herumgewühlt, bis er endlich eine billige Bratwurst und günstiges Sauerkraut gefunden hatte. Wir sind der Meinung, dass auch ein Hartz-IV-Bezieher ein Recht darauf hat, Lebensmittel zu essen, die nicht gerade seine Lebenszeit verkürzen.

SZ: Sie handeln sich gerade großen Ärger mit der deutschen Bratwurst-Industrie ein. Was haben Sie gegen eine gute Bratwurst aus deutschen Landen?

Schneider: Gar nichts. Ich liebe Bratwurst, vor allem als Currywurst. Es geht aber darum, dass eine ausgewogene Ernährung ihren Preis hat. Es geht hier um Menschen, die zum Teil jahrelang Hartz IV bekommen. Wenn die Leute so wie einmal geplant zum Beispiel nach sechs Monaten wieder einen Job hätten, wäre das anders. Dann würde ich sagen, die überleben auch den Sarrazin'schen Speiseplan. Aber darunter sind leider viele Menschen, die aus dem Hartz-IV-System nie mehr herauskommen.

SZ: Reicht es bei den hilfsbedürftigen Kindern auch nicht?

Schneider: Nein, Sie müssen nur die einzelnen Ausgabepositionen in der Hartz-IV-Pauschale durchgehen, um zu sehen, dass das nicht langen kann. Für ein achtjähriges Kind sind beispielsweise rund 280 Euro im Jahr für die gesamte Kleidung vorgesehen. Da sind die Turnschuhe drin, der Anorak, die Unterwäsche, alles. Davon können Sie keine vernünftige Kleidung kaufen.

SZ: Hartz-IV-Empfänger könnten doch, so wie viele Eltern mit einem deutlich höheren Einkommen auch, in Schul-Flohmärkten oder Secondhand-Läden günstig Kleidung kaufen.

Schneider: Das tun die auch. Aber wer schon mal dort war, weiß, dass das nicht immer für alle Altersphasen und Kleidergrößen funktioniert. Dort gute Winterstiefel zu bekommen, ist schwer, mal ganz abgesehen davon, dass Sie Kindern mit gebrauchten Schuhen schnell die Füße kaputt machen. Das sagt Ihnen jeder Kinderarzt. Ohne Schuhgeschäft geht es deshalb nicht, und dann sind Sie schnell für ein Paar Kinderschuhe 30 Euro los.

SZ: Bald könnte es mehr Geld geben, spätestens am Montag wird Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen neue Hartz-IV-Sätze verkünden. Wird das ein Festtag für Ihren Verband?

Schneider: Wenn das Ministerium nicht trickst, wovon wir erst einmal ausgehen, wird es zu Mehrausgaben kommen, und zwar weit über die 480 Millionen Euro hinaus, die im Haushalt 2011 allein für das Bildungspaket eingeplant sind.

Wie bislang der Satz errechnet wurde, ist teilweise absurd. Man hat zum Beispiel beim Festsetzen der Leistung für Erwachsene Abschläge vorgenommen, mit der Begründung, Hartz-IV-Empfänger bräuchten kein Geld für Maßanzüge, handgefertigte Schuhe oder Segelflugzeuge.

Diesen ganzen statistischen Unsinn wird es in dieser Form nicht mehr geben. Die Verfassungsrichter haben der Bundesregierung klar auferlegt, transparent errechnete Regelsätze vorzulegen. Wir müssen auch weg davon, alles zu pauschalieren.

SZ: Wollen Sie ernsthaft, dass arme Menschen wieder beim Amt einen Wintermantel beantragen müssen?

Schneider: Nein, das ist in der Tat erniedrigend und zu bürokratisch. Aber jetzt stecken in der Pauschale viel zu viele Dinge drin, die sich nicht pauschalieren lassen, weil sie keinen typischen und keinen alltäglichen Bedarf darstellen. Zum Beispiel die Ausgaben für Zahnersatz, für ein Kinderfahrrad oder eine Waschmaschine. Weil die Hartz-IV-Empfänger dafür kein Geld haben, beantragen sie im Jobcenter Darlehen. Die Jobcenter sollen aber keine Kredite verwalten, sondern Arbeit vermitteln.

"63 Cent für ein Kinderfahrrad"

SZ: Muss der Staat wirklich den Hilfebedürftigen eine neue Waschmaschine oder ein neues Kinderfahrrad hinstellen?

Schneider: Ich habe ja nicht gesagt, dass das neu sein muss. Aber selbst wenn Sie ein gebrauchtes Rad kaufen, ist da unter 100 Euro wenig zu bekommen. Im Regelsatz ist derzeit ein Ansparbetrag von 63 Cent für ein Kinderfahrrad enthalten.

Das ist Unsinn, da müsste man ja schon vor der Zeugung anfangen zu sparen. Es ist besser, solche Kleinbeträge aus dem Regelsatz wieder herauszurechnen, einmalige Leistungen zu zahlen und das Geld so zielgenauer auszugeben, statt es mit der Gießkanne zu verteilen.

SZ: Sie plädieren für 440 Euro pro Erwachsenen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt: Schon eine Erhöhung auf 420 Euro würde zehn Milliarden Euro kosten.

Schneider: Wenn der Regelsatz erhöht wird, müsste das steuerfreie Existenzminimum automatisch mitsteigen. Da die Koalition das Existenzminimum Anfang des Jahres aber bereits angehoben hat, ist dies nicht nötig. Grob geschätzt könnte man deshalb von sieben bis acht Milliarden Euro an Mehrkosten sprechen.

SZ: Das ist immer noch viel Geld.

Schneider: Die Kosten sind ja nicht so hoch, weil sich von den Leistungen in Saus und Braus leben ließe. Hartz IV ist deshalb so teuer, weil so viele arbeitslos sind. Und nicht weil es Hartz IV gibt.

SZ: Das Geld muss irgendwo her kommen. Was schlagen Sie vor?

Schneider: Wir vererben im Jahr schätzungsweise 150 Milliarden Euro. Effektiv wird das nur mit 2,5 Prozent besteuert. Wir erheben faktisch also keine Erbschaftssteuer. Wenn man hier nur auf zehn Prozent ginge, wäre Geld genug da, um die fälligen Erhöhungen bezahlen zu können.

SZ: Das ist ganz schön happig.

Schneider: Ich finde es nicht zu viel verlangt, wenn jemand, der sozusagen ohne Zutun Vermögen seiner Eltern bekommt, ein Zehntel davon den Armen gibt. Da ist keiner überfordert, wir wollen ja nicht das Vererben von Betriebsvermögen besteuern.

SZ: Der ehemalige Industrieverbands-Manager Hans-Olaf Henkel würde Ihnen vermutlich vorwerfen, Sie wollten ein Paradies für Langzeitarbeitslose.

Schneider: Was für ein Quatsch! Es geht darum, dass arme Leute ein menschenwürdiges Leben haben.

"Wir können uns über jedes Kind freuen"

SZ: Ein Manager der Bundesagentur für Arbeit, der ein Dutzend von Hartz-IV-Haushalten besucht hat, erzählte kürzlich, in allen hätten moderne Fernseher mit Flachbildschirm gestanden.

Schneider: Ja und?

SZ: Der geht wohl davon aus, dass das nicht sein muss.

Schneider: Das ist weltfremd. Informieren Sie ihn darüber, dass die Röhrengeräte längst aus dem Verkehr gezogen sind. Als unser alter Fernseher zu Hause kaputt ging, haben wir gar nichts anderes mehr bekommen. Flachbildschirme sind längst kein Symbol mehr für Luxus und Verschwendung.

SZ: Missbrauch ist für Sie kein Thema?

Schneider: Betrug, so nenne ich das, gibt es überall in der Gesellschaft, oben und unten. Ich müsste sehr naiv sein, um anzunehmen, dass Hartz IV die einzige Insel ist, auf der ich ausschließlich irgendwelche Tugendathleten antreffe.

Aber es ist nicht unser vordringliches Problem, den letzten zu erwischen, der nicht arbeiten will oder trotz staatlicher Leistungen schwarz arbeitet. Dies ist aus ordnungspolitischen Gründen notwendig, aber damit schaffe ich keinen einzigen Arbeitsplatz und keinen einzigen zusätzlichen Platz in einer Kindertagesstätte.

SZ: Der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, hält es auch für ein Problem, dass Hartz-IV-Familien mit der Zahl ihrer Kinder ihr Einkommen und den Anspruch auf Wohnfläche steuern können.

Schneider: (er schüttelt sich vor Lachen). Ja, und wenn die Glück haben, kommen auch noch Zwillinge heraus.

SZ: Was ist daran lustig? Eine Geringverdiener-Familie mit zwei Kindern muss sich dagegen gut überlegen, ob ein drittes Kind drin ist, weil sie dann vielleicht eine größere Wohnung brauchen.

Schneider: Es gibt Kulturkreise, in denen Kinder zunächst einmal als Glück empfunden und die Erwartung von Nachwuchs nicht zuerst mit Besorgnis verbunden werden. Und wenn eine staatliche Unterstützung da ist, sind womöglich weniger Hemmnisse da, dem Kinderwunsch nachzukommen. Aber ich halte es für relativ müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer wann welche Kinder mit welchen Absichten zeugen will. Wir können uns doch nur über jedes Kind freuen.

SZ: Buschkowsky will aber das Kindergeld daran knüpfen, ob die Eltern für ihre Kinder Verantwortung übernehmen und zum Beispiel dafür sorgen, dass es nicht die Schule ständig schwänzt.

Schneider: Es gibt bereits Bußgelder gegen solche Eltern, und jetzt schon kann die Polizei vorbeikommen und die Kinder zur Schule bringen. Angenommen, Sie haben ein pubertierendes Kind. Es rastet völlig aus. Die Eltern sind hilflos, machen sich Sorgen. Und jetzt kommt noch Herr Buschkowsky vorbei und streicht denen das Kindergeld. Was ist dadurch gewonnen?

Wir brauchen eine offensive Sozialarbeit. Und damit pädagogische Hilfen greifen können, brauchen die Menschen konkrete Perspektiven. Der morgige Tag muss besser sein, als der heutige. Eltern brauchen die konkrete Aussicht auf Arbeit, für Jugendliche muss das Ziel der Lehrstelle erkennbar und erreichbar sein. Wir können Bildung nicht wie Tabletten verabreichen. Kinder müssen motiviert sein. Und dazu müssen sie an ihren Eltern und ihren älteren Geschwistern sehen, dass Bildung sich lohnt.

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