Süddeutsche Zeitung

Reden wir über Geld: Susie Orbach:"Der Feminismus hat verloren"

"Menschen erleben Niederlagen ohne Ende": Die meisten Diäten schlagen fehl - etwas besseres kann der Industrie gar nicht passieren. Ein Gespräch mit Großbritanniens bekanntester Psychotherapeutin.

Alexander Hagelüken und Hannah Wilhelm

Die New York Times schrieb einst über Susie Orbach, sie sei - abgesehen von Sigmund Freud - der berühmteste Psychotherapeut, der in England je eine Couch hatte. Die heute 63-Jährige behandelte Lady Di, die Bulimie hatte. Und sie wettert seit ihrem ersten Bestseller 1978 gegen die Zwangsvorstellung vieler Frauen, sie müssten einen perfekten Körper haben. Ein Gespräch am Rande der Zukunftskonferenz Digital Life Design über Selbsthass, Diätirrsinn, Schönheitschirurgie - und wer davon profitiert.

SZ: Frau Orbach, reden wir über Geld. Sie behaupten, der Blick moderner Menschen auf ihren Körper sei von Industrien dominiert, die ihr Geld mit dem Schönheitswahn verdienen. Stimmt das wirklich?

Susie Orbach: Leider schon. Nur noch acht Prozent der deutschen Frauen sind mit ihrem Körper zufrieden. Nur zwei Prozent fühlen sich schön. Und das hängt stark mit der Werbung zusammen, in der Frauen sehr dünn und makellos sind - mit Hilfe von Bildern, die am Computer manipuliert wurden. Senioren in Altersheimen nehmen Appetitzügler. Und schon sechsjährige Kinder fragen sich, ob ihre Körper in Ordnung sind.

SZ: Die schauen doch noch gar nicht auf Anzeigen.

Orbach: Aber ihre Mütter vermitteln ihnen den Eindruck, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmen könnte. Denn sie reden ständig über ihre eigene nächste Diät.

SZ: Wer griechische oder römische Statuen betrachtet, denkt: Menschen wollten schon immer schön sein, das ist keine Novität des 21. Jahrhunderts.

Orbach: Aber es gab nie zuvor eine gesellschaftliche Norm, die Menschen aller Schichten zwischen sechs und 80 Jahren Druck machte, makellos und gertenschlank zu sein. Das fing erst in den 1980er Jahren an, als Schönheit kommerzialisiert wurde. Die Wirtschaft versprach: Du kannst schön sein, wenn du bestimmte Dinge tust oder kaufst. Damals wuchsen die Mütter auf, die heute ihren inneren Druck an die Kinder weitergeben - meistens unbewusst.

SZ: Warum soll man Unternehmen dafür die Schuld geben?

Orbach: Schauen Sie sich doch die Diätindustrie an. Die Amerikaner geben 100 Milliarden Dollar im Jahr für Diätprodukte aus und 60 Milliarden für Bildung.

SZ: Ließe sich nicht einfach sagen, dass diese Firmen Menschen bei ihrem Wunsch zum Abnehmen unterstützen?

Orbach: Ach was. Der Body-Mass-Index etwa, der eine angeblich optimale Relation zwischen Gewicht und Größe festlegt, gibt etwas Irreales vor. Nach diesem Maßstab wäre der Schauspieler George Clooney fettleibig. Sehen Sie, was das für einen Zwang auf Menschen ausübt? Die Menschen erleben Niederlagen ohne Ende. Die meisten Diäten schlagen fehl. Das freut die Industrie. Wenn die Diäten wirken würden, könnte sie viel weniger verkaufen. Die wollen Produkte, die nicht funktionieren.

SZ: Sind die Menschen dumm, weil sie trotz Fehlschlägen weiter Diät machen?

Orbach: Nein. Sie leben in einer Gesellschaft, die ständig verlangt, am Körper zu arbeiten. Wir haben nur über Frauen geredet. Bei Männern beginnt sich der gleiche Druck aufzubauen. Die Zeitungen sind voller Anzeigen der Kosmetikkonzerne, wie man Tränensäcke wegbekommt. Da haben wir die nächste Branche. Ach, und die Schönheitschirurgie! Die setzt in Amerika 400 Milliarden Dollar pro Jahr um. Zurzeit ist es in, sich die Schamlippen operieren zu lassen. Bis vor kurzem mussten sich die Frauen nur komplett enthaaren, nun lassen sie sich ihre Schamlippen umoperieren. Haben Sie Töchter? Nein? Seien Sie froh.

SZ: Auf Ihrer Website anybody.org klagt eine Frau mit Idealmaßen ihr Leid: Männer begehren sie nur wegen ihres Aussehens und die anderen Frauen hassen sie, weil sie perfekt aussieht. Sind moderne Frauen unglücklich, egal ob sie sich schön finden oder nicht?

Orbach: Ich als Feministin sage: Dieser Schönheitszwang ist Gewalt gegen Frauen. Aber die Interessen sind da. Die Lebensmittelindustrie wächst, indem sie den Markt vergrößert: Diätessen, fettarmes Essen, Essen mit Zusätzen. Würde sie nur normales Essen verkaufen, würde sie weniger verdienen.

SZ: Wie sollten wir denn essen?

Orbach: Wir sollten essen, wenn wir hungrig sind. Und aufhören, wenn wir satt sind. Und wir sollten das Essen lieben, statt Angst zu haben! (Zur Kellnerin): Könnte ich noch mehr heißes Wasser haben?

SZ: Sie trinken heißes Wasser? Klingt wie die Marotte eines schlanken Supermodels.

Orbach: Bei mir liegt es nur daran, dass ich heute schon so viel Kaffee hatte.

SZ: Mögen Sie Ihren Körper?

Orbach: Ja, ich denke schon. Ich muss halt mit dem Alter klarkommen.

SZ: Wenn es den Schönheitswahn nicht mehr gäbe, würde sicher die Diätindustrie weniger verdienen. Ginge das allen Branchen so?

Orbach: Nein. Ich habe mit der Kosmetiklinie Dove eine ganz andere Werbekampagne entwickelt, und die war finanziell sehr erfolgreich. Wenn die Kosmetikkonzerne sich mehr bemühen würden, der unterschiedlichen Schönheit der Frauen gerecht zu werden, würden sie vermutlich genauso gut verdienen.

SZ: Wie kam es zu der Kampagne mit Dove?

Orbach: Ich hatte das Projekt schon länger, sprach immer wieder die Lebensmittelkonzerne und Werbeagenturen an, ob wir nicht was anders machen könnten. Eines Tages rief mich die Chefin der Agentur an, die die Dove-Werbung machte. Sie fragte mich: Ist es wahr, dass die üblichen Schönheitswerbungen Frauen unter Druck setzen? Ich sagte: Ich befürchte, ja. Dann sagte sie: Wir wollen das ändern. Aber dann mussten wir noch Unilever überzeugen.

SZ: Und wie haben Sie das geschafft?

Orbach: Wir haben mit den wunderschönen Töchtern der Unilever-Chefs gesprochen (lacht). Und: Die waren auch nicht mit ihren Körpern zufrieden. Das hat die Chefs mitten ins Herz getroffen.

SZ: Wie wirkte die Kampagne?

Orbach: Nach dem ersten Stutzen lächelten die Menschen. Sie konnten sich damit identifizieren. Die Verkaufszahlen gingen nach oben.

SZ: Haben Sie als Linke damit ein Problem?

Orbach: Nein. Ich hätte das Gefühl gehabt, falsch zu liegen, wenn die Zahlen nicht nach oben gegangen wären. Besser Erfolg für wahrhafte Schönheit als wie bisher Körperhass in die Welt zu exportieren. Zum Beispiel auf die Fidschi-Inseln. Als dort 1995 das Fernsehen startete, waren drei Jahre später zwölf Prozent der Mädchen bulimisch.

SZ: Ihre Industrie der Psychotherapeuten verdient doch auch gut daran, dass Leute sich für zu dick halten.

Orbach: Ja, natürlich. Ich meine, ich bin eine normale Therapeutin auch für andere Krankheiten. Aber es gibt eine ganze Industrie für Diätgeschädigte. Konferenzen, Zeitschriften, klar.

SZ: Wie viele Ihrer Patienten haben eine Essstörung?

Orbach: Ich schaue, dass es nie mehr als ein oder zwei mit einer offensichtlichen Essstörung sind. Aber ich stelle fest, dass Leute nebenbei Dinge sagen wie: "Ich muss natürlich abnehmen" oder "Natürlich hasse ich meinen Körper". Ich finde die Idee erschreckend, dass der eigene Körper etwas ist, an dem man immer arbeiten muss. Ich habe eine Patientin, die meint, dass sie zwei Kilo zu viel wiegt. Und darauf ist sie so fokussiert. Sie kann nicht reisen deshalb, sie trifft keine Leute; wenn sie mit ihrem Freund schläft, zweifelt sie an ihrem Körper. Ich spreche von einer hochintelligenten Frau, einer Topmanagerin.

SZ: Sie haben Lady Di wegen ihrer Bulimie therapiert.

Orbach: Ich darf über Patienten nicht reden.

SZ: Fünf Millionen britische Journalisten dürften Sie danach gefragt haben ...

Orbach: Es war ein Albtraum. Überall waren Journalisten um mein Haus. Eine Zeitung hat ein Apartment gegenüber gemietet. Sie haben versucht, sich als Patienten einzuschmuggeln.

SZ: Sie warnen seit 1978 vor dem Schönheitswahn. Haben Sie viel erreicht?

Orbach: Nein. Der Feminismus hat verloren.

SZ: Das sehen manche anders.

Orbach: Seit Margaret Thatcher ging es nur noch um den freien Markt, darum, sich selbst zu kreieren, Superwoman zu werden. Das ist aber keine feministische Idee. Der Feminismus wollte die Arbeitsumstände ändern und nicht, dass alle 18 Stunden am Tag arbeiten.

SZ: Haben Sie Ihr eigenes Leben zielstrebig verändert?

Orbach: Nicht zielstrebig, aber immer in eine Richtung (lacht). Ich versuche immer noch, die Menschen zu verstehen, die Beziehung zwischen unserem Leben und unserer Welt. Tja. Es hat sich wirklich viel verändert bei mir. Mein Mann und ich haben uns nach 40 Jahren getrennt. Und ich habe nun eine Partnerin. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Liebhaberin haben würde. Es ist einfach passiert. Die Trennung war eine riesige Veränderung in meinem Leben. Veränderung macht erst mal Angst. Aber wenn man die emotionalen Wogen durchlebt hat, was schwierig ist, kann man das Leben ganz anders sehen. Und ganz anders erleben.

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Quelle:
SZ vom 25.06.2010/stl/hgn
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