Reden wir über Geld: Paul Nolte:"Lieber Karotten essen als Gummibärchen"

Verwahrlosung der Mittelschicht, unsichtbare Wände für Aufstiegswillige - nicht erst seit der Krise steht Deutschland vor massiven Problemen. Historiker Paul Nolte weiß, was die Unterschicht besser machen muss.

Alexander Mühlauer und Hannah Wilhelm

Paul Nolte sitzt in seinem Büro der Freien Universität in Berlin-Dahlem. Der 47-Jährige ist Historiker, bekannt wurde er mit seiner Streitschrift "Generation Reform". Er provozierte darin mit der These, dass es in Deutschland eine breite Unterschicht gebe. Wird nun durch die Finanzkrise alles noch schlimmer? Zeit für ein Update mit dem Zeitkritiker.

Reden wir über Geld: Paul Nolte: Der Historiker Paul Nolte: Die Krise ist bei den meisten noch nicht angekommen. Foto: Regina Schmeken

Der Historiker Paul Nolte: Die Krise ist bei den meisten noch nicht angekommen. Foto: Regina Schmeken

(Foto: wir)

SZ: Herr Nolte, reden wir über Geld. Wie sehr verändert die Finanzkrise unsere Gesellschaft?

Nolte: Ehrlich gesagt, wundere ich mich, dass viele sagen, die Krise würde alles verändern: Die Leute verarmen, die Mittelschicht erodiert - alles nur wegen der Krise? Das sind doch Entwicklungen, die wir seit Jahren beobachten.

SZ: Also ist der ganze Aufruhr umsonst und alles nicht so schlimm?

Nolte: Die Krise ist bei den meisten noch nicht angekommen. Im Gegenteil: Bei vielen Leuten steht jetzt dank der Abwrackprämie ein neues Auto vor der Tür, das sie sich vor 18 Monaten noch nicht leisten konnten.

SZ: Andere haben ihren Job verloren.

Nolte: Ja, aber die Horrorprognosen von vier bis fünf Millionen Arbeitslosen sind nicht eingetreten. Interessant ist etwas anderes: Den meisten Deutschen ist nicht bewusst, dass die alte Wohlstandsgesellschaft schon länger ausläuft. Die Euro-Krise ist nur ein neues Signal.

SZ: Seit wann denn?

Nolte: Der Bruch begann Mitte der Siebziger. Bis dahin lebten auch Menschen der Mittelschicht in gut ausgestatteten Dreizimmerwohnungen von Neubaublocks. Heute blättert dort die Farbe ab, und der ganze Block ist zum Quartier der Unterschicht geworden. Es gibt mehr Arme.

SZ: Das heißt, uns allen steht ein massiver Wohlstandsverlust bevor?

Nolte: Viele haben schon etwas verloren. Und wir anderen werden wohl eine Weile stagnieren.

SZ: Zerbricht die Mittelschicht?

Nolte: Noch nicht. Aber es ist nicht mehr so leicht, in diese Klasse hineinzukommen. Und für die junge Generation wird es immer schwieriger, sich in dieser Schicht zu halten.

Die Aufstiegsmentalität ist verlorengegangen

SZ: Warum steigt so gut wie keiner mehr in die Mittelschicht auf?

Nolte: Das hat mit dem Strukturwandel der Unterschicht zu tun. Die Aufstiegsmentalität der Facharbeiter der sechziger und siebziger Jahre ist verlorengegangen. Damals war es ein Glück, dass die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung eine Bildungsbewegung war. So wie der Lehrling Gerhard Schröder das Abitur nachholte und Anwalt wurde.

SZ: Warum ist das vorbei?

Nolte: Die Unterschicht von heute ist heterogen. Es gibt Alleinerziehende und Familien, es gibt viele kulturelle und religiöse Unterschiede. Früher war das anders. Es gab den Typus des männlichen Ernährers, der seine Familie zu versorgen hatte. Ein junger Mann, der mit 16 bei VW anfing, war natürlich bei der Gewerkschaft und wählte SPD. Finanziell ging es ihm besser als heute so manchem Nachwuchs-Ingenieur.

SZ: Sie behaupten damit, die Geringqualifizierten sind heute selbst schuld, weil sie einfach nicht aufsteigen wollen?

Nolte: Selbst schuld sind sie nicht, sie stehen auch vor vielen unsichtbaren Wänden. Aber dennoch: Wer sich anstrengt, hat meist auch etwas davon - ein guter Schulabschluss führt in aller Regel auch zu guter Ausbildung und einem Job.

SZ: Jetzt klingen Sie wie Kurt Beck, der einem Hartz-IV-Empfänger riet, sich zu rasieren, um so mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben.

Nolte: Mit Herrn Beck fühle ich mich in guter Gesellschaft. Wer im Wohnzimmer die berühmte Glasschale mit drei Kilo Süßigkeiten stehen hat, dem kann man sagen, dass sich das Geld auch anders investieren lässt, in Obst und Gemüse oder ein Buch zum Vorlesen zum Beispiel.

SZ: Jetzt blicken Sie aber von ziemlich weit oben auf die da unten herab.

Nolte: Ich fürchte, ich bin nicht abgehobener als die meisten anderen Akademiker auch. Vielleicht spitze ich die Dinge manchmal etwas zu.

SZ: Die Frage ist, welche Lösung Sie haben - außer dem Rat, keine Süßigkeiten zu essen.

Nolte: Der Staat muss Brücken bauen und Kinder aus der Unterschicht fördern, etwa mit außerschulischem Musikunterricht. Und wir haben ja immer noch ein gutes Netz öffentlicher Bibliotheken. Lesen ist kostenlos!

SZ: Schon wahr, aber trotzdem gehen viele Kinder nicht dorthin.

Nolte: Ja, die Frage ist eben: Wie bringt man die Kinder in die Bibliothek, wenn es die Eltern nicht tun? Da braucht es die helfende Hand des Staates.

Gutscheine für den Musikunterricht

SZ: Und wie soll das funktionieren?

Nolte: Ich fände es toll, wenn Eltern zum Beispiel einen kostenlosen Gutschein für den Musikunterricht ihrer Kinder bekämen.

SZ: Haben Sie Kontakt zu Menschen, die Sie als Unterschicht bezeichnen?

Nolte: Ich habe keine Freunde in der Unterschicht. Aber ich gehöre zu denen, die mit der U-Bahn durch Berlin fahren. Das ist eine authentische Kontaktzone (denkt nach). Aber schreiben Sie das ja nicht, sonst heißt es: Der feine Herr Nolte rühmt sich, dass er U-Bahn fährt.

SZ: Als Professor verdienen Sie ungefähr 75.000 Euro im Jahr. Zu welcher Schicht gehören Sie denn damit?

Nolte: Mit meinem Einkommen gehöre ich zur gehobenen Mittelschicht, vielleicht auch zur Oberschicht. Aber nicht im Sinne von Ackermann. Früher hätte man gesagt: Ich bin Bildungsbürger. Im Vergleich zu früher ist das Gehalt nicht besonders hoch. Früher verdienten Professoren noch das Zehnfache eines Arbeiters, heute verdiene ich das Doppelte. Rechnet man es auf die Arbeitsstunden um, ist es etwa so viel wie bei einem BMW-Facharbeiter.

SZ: Sie Armer. Wie groß darf der Anteil der Unterschicht in einer Gesellschaft sein, damit keine soziale Unruhe ausbricht?

Nolte: Zurzeit liegt der Anteil zwischen zehn und 15 Prozent. Das ist noch zu verkraften. Wir haben aber starke regionale Unterschiede: Im Süden gibt es Landkreise mit Vollbeschäftigung, in Berlin hingegen leben 37 Prozent aller Kinder von Hartz IV.

SZ: Ist das noch verkraftbar?

Nolte: Nein. Wir haben zwar in Berlin eine sozial ruhige Situation. Noch können wir es uns leisten, die Unterschicht zu versorgen. Jeder Hartz-IV-Empfänger bekommt monatlich sein Geld und die Miete gezahlt. Das ist noch finanzierbar, aber sozial und kulturell ist die Grenze in Berlin schon überschritten. Die Unterschicht kapselt sich in Parallelgesellschaften ab, in vielen Familien geht der Bezug zum Arbeitsleben verloren.

"Ich lege den Finger in die Wunde"

SZ: Leben Sie gerne in Berlin?

Nolte: Manchmal ist es sehr schwer auszuhalten.

SZ: In der U-Bahn?

Nolte: (lacht) Nein, aber wenn ich die Armutszahlen in der Zeitung lese, könnte ich aufspringen! Das macht mich wirklich fertig.

SZ: Was machen Sie dagegen?

Nolte: Na, ich lege den Finger in die Wunde wie gerade jetzt ...

SZ: ... und lassen sich in Talkshows einladen, wo Sie dann neben dem unvermeidlichen Gregor Gysi sitzen.

Nolte: So oft sitze ich da auch nicht. Aber die Redaktionen wollen eben einen, der den Hartzern sagt: Esst Karotten statt Gummibärchen!

SZ: Sie verdanken Ihre Bekanntheit dem Fernsehen. Harald Schmidt machte Ihr Buch mit dem Wort "Unterschichtenfernsehen" berühmt. Haben Sie sich bei ihm bedankt?

Nolte: Ich überlegte, ob ich ihm schreiben sollte, habe mich aber nicht getraut.

SZ: Dürfen Ihre Kinder Unterschichtenfernsehen wie etwa "Big Brother" bei RTL2 schauen?

Nolte: Ja, aber ich achte darauf, dass es nicht zu viel wird.

SZ: Welche Werte haben Sie von zu Hause mitbekommen?

Nolte: Eine starke Empathiefähigkeit. Ich bin ja im Pfarrhaus aufgewachsen, das war eine soziale Schnittstelle. Jeden Tag standen Penner vor unserer Haustür und wollten eine Mark oder etwas zu essen haben. Da bin ich halt in die Küche und habe ein Butterbrot geschmiert.

SZ: Wie lebten Sie im Pfarrhaus?

Nolte: War schwierig. Ich war fünfeinhalb, als meine Mutter starb. Als Ältester von vier Brüdern musste ich eine Sorgerolle mit übernehmen. Wir lebten in knappen Verhältnissen. Mein Vater wurde als Lediger besteuert - katastrophal.

SZ: Waren Sie gut als großer Bruder?

Nolte: Na ja, vielleicht zu streng. Bei mir hat sich seit dem Tod meiner Mutter ein starkes Verantwortungsgefühl eingeschlichen. Jetzt, im Alter, spüre ich das immer häufiger. Das ist fast obsessiv.

SZ: In welchen Situationen?

Nolte: Zuletzt in der Zugtoilette. Da habe ich mich dabei ertappt, dass ich drei Tücher mehr als nötig verwendete, um das Waschbecken auch ganz sauber auszuwischen. Das mag sich vielleicht komisch anhören, aber so ticke ich.

SZ: Ist Ihnen das unangenehm?

Nolte: Mir geht es nicht um Sorgfalt und Sauberkeit. Mir geht es um Sorge, Respekt und Engagement (denkt nach). Ach, hören wir bitte auf, sonst komme ich wie ein Moralapostel rüber.

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