Reden wir über Geld:"Millionen Menschen verdienen so viel wie 1985"

Joachim Möller ist Deutschlands oberster Arbeitsmarktforscher - und plädiert für Mindestlöhne. Ein Gespräch über ignorante Fachkollegen, Kritik aus dem Arbeitsministerium und die Frage, warum Ökonomen nicht besser mit Geld umgehen können als Ökotrophologen.

Alexander Hagelüken und Thomas Öchsner

Die Arbeitswelt verändert sich rasant: Die Deutschen verlieren schneller den Job und junge Menschen finden oft nur befristete Stellen. Joachim Möller, 58, leitet das Forschungsinstitut IAB der Bundesagentur für Arbeit, das Trends in der Beschäftigung aufspürt - und erklärt, warum sich das Land auseinanderentwickelt. Wenn die Nürnberger Forscher genug Zahlen gewälzt haben, spielen sie Tischfußball.

Joachim Moeller

Joachim Möller ist seit 2007 Direktor des IAB.

(Foto: AP)

SZ: Herr Möller, reden wir über Geld. Waren Sie schon mal arbeitslos?

Joachim Möller: Als meine Habilitation fertig und meine Assistentenstelle ausgelaufen war, da hatte ich nichts. Ich wartete auf einen Lehrstuhl, das deutsche Uni-System mutet einem schon große Unsicherheit zu. Ich war 37 und hatte drei Kinder. Ich kann nachvollziehen, wie sich ein Arbeitsloser fühlt.

SZ: Wovon lebten Sie?

Möller: Vom Übergangsgeld für Assistenten, das gibt's für ein halbes Jahr. Gott sei Dank erhielt ich schnell einen Lehrstuhl.

SZ: Wenn ein Arbeitsloser Sie fragt: Wie kann er seine Chancen auf einen neuen Job verbessern?

Möller: Mobilität ist ganz wichtig. Eine Langzeitstudie zeigt, dass jeder seine Chancen auf Job und Karriere stark vermindert, der nicht umziehen will.

SZ: Anders als Sie halten viele deutsche Ökonomen Mindestlöhne für Teufelswerk. Sind Sie vom Teufel besessen?

Möller: Ich glaube nicht (lacht). Wir sollten aus dieser Frage keinen Glaubenskrieg machen. Sondern mit kühlem Kopf die Forschung betrachten, etwa die britischen Erfahrungen: Ein moderater Mindestlohn muss keine Jobs kosten. Allerdings wollen das manche Fachkollegen nicht zur Kenntnis nehmen.

SZ: Was denken Ihre Kollegen?

Möller: Viele haben dieses Modell aus dem ersten Semester von Angebot und Nachfrage im Kopf: Wird ein Mindestpreis eingeführt, kommt es zu einem Überangebot wie damals bei den Milchseen oder Butterbergen der EU. Wird der Lohn über den Marktlohn gehoben, gehen Jobs verloren. Nur passt dieses Grundmodell nicht, weil der Arbeitsmarkt unvollkommen ist. Zum Beispiel kann ein Arbeitgeber mit Marktmacht den Preis nach unten drücken.

SZ: Und Sie wollen Ihre Kollegen aus dem ersten Semester hochstufen und einen gesetzlichen Mindestlohn festsetzen? Wie hoch soll der sein?

Möller: Wir können bei 7 Euro 50 die Stunde anfangen, da gehen keine Jobs verloren, aber 1,5 Millionen Deutsche würden anständig bezahlt. In Ostdeutschland wären 6 Euro 50 angemessen.

SZ: Dann müssen Friseure im Osten zumachen. Da liegt das tarifliche Anfangsgehalt für Friseure unter vier Euro.

Möller: Aber die bekommen Trinkgeld, das macht einen wesentlichen Teil des Einkommens aus! Außerdem ist mir nicht aufgefallen, dass im europäischen Vorzeigeland für Mindestlöhne, in Großbritannien, die Menschen mit ungepflegten Haaren herumlaufen oder es weniger Friseursalons gibt.

SZ: Wird es bald einen gesetzlichen Mindestlohn geben, trotz der Warnung mit dem Teufel?

Möller: In drei bis vier Jahren auf jeden Fall. Es wäre schön, wenn das die schwarz-gelbe Regierung noch schaffen würde. Für eine konservative Regierung ist es unterm Strich einfacher, in der Gesellschaft einen Mindestlohn durchzusetzen, der ja nicht zu ihrem politischen Programm passt. So wie es Kanzler Schröder gelungen ist, die für die SPD eher untypischen Hartz-Reformen durchzusetzen.

SZ: Sie sind ein Hartz-Fan?

Möller: Diese angefeindeten Änderungen sind der wichtigste Grund, warum die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland erstmals seit Dekaden zurückgeht - und gleich um eine halbe Million. Wer nach einem Jahr Arbeitslosengeld auf Hartz IV fällt, sucht mit Hochdruck nach einem Job. Das ist wichtig, denn je länger jemand arbeitslos ist, desto stärker verliert er den Anschluss.

SZ: In der Arbeitswelt ist der Wind rauer geworden. Hat sich das Machtgefüge zugunsten der Firmen verschoben?

Möller: In den vergangenen Jahren schon. Aber in Zukunft könnte in vielen Regionen Deutschlands die Situation kippen. Es wird einen Wettbewerb um Fachkräfte geben, und das wird tendenziell die Löhne erhöhen.

SZ: Für alle?

Möller: Nur für Fachkräfte. Ich sehe die große Gefahr, dass sich der Arbeitsmarkt spaltet, mit Abgehängten und Verlierern auf der einen Seite. Der Arbeitsmarkt driftet auseinander. Vor 25 Jahren hat ein Hochqualifizierter gut doppelt so viel verdient wie ein Geringqualifizierter, heute ist es das 2,6-fache. Die Reallöhne von Geringqualifizierten stagnieren auf dem Stand von 1985. Diese Menschen haben vom Wohlstandszuwachs null profitiert. Wir reden von fünf Millionen Deutschen und ihren Familien.

SZ: Wodurch kommt die Spaltung?

Möller: Bis zur Wende nahmen die Reallöhne zu. Die plausibelste Erklärung ist daher die Öffnung Osteuropas mit der Chance, Fabriken zu verlagern - die Möglichkeit reicht schon, um in Deutschland niedrige Löhne durchzusetzen.

SZ: Wenn Sie jetzt Hans-Olaf Henkel in einer Talkshow wären, würden Sie sagen: Hauptsache, die Leute haben einen Job, dann verdienen sie halt nicht soviel.

Möller: Die Gesellschaft hat einen finanziellen Spielraum, um Ungleichheiten zu reduzieren, und den sollte sie nutzen. Dieser ökonomische Glaubenssatz, dass man die Wirtschaftsleistung zulasten der Gleichheit steigern kann, der stimmt nur bis zu einem gewissen Punkt: Wenn der Frust der Ärmeren in Lethargie, Alkohol oder Kriminalität umschlägt, leidet die ganze Gesellschaft. Das lässt sich in Amerika studieren.

SZ: Stimmt es, dass die Deutschen heute öfter ihren Job verlieren?

Möller: Wir haben eine Langzeitstudie gemacht, die Biografien von Menschen des Jahrgangs 1950 genau analysiert. Das war erschreckend: Die Hälfte der arbeitslosen Zeiten entfiel auf fünf Prozent eines Jahrgangs. Und jeder aus dieser Hochrisiko-Gruppe verlor im Schnitt elf Mal den Job. Elf Mal! Das ist nicht nur ein Problem für den Betroffenen.

SZ: Wieso?

Möller: Wenn Menschen schlecht bezahlt werden oder ihr Job unsicher ist, dann arbeiten sie auch schlechter, erwerben weniger zusätzliche Qualifikationen und ihre Loyalität zur Firma ist geringer - ein Minus für das Unternehmen, für die Arbeitslosenversicherung und die ganze Volkswirtschaft. Das ist auch ein Argument für Mindestlöhne: Wenn jemand motiviert bei einem Job bleibt, statt wegen mieser Bezahlung etwas Neues zu suchen, wird er immer produktiver.

SZ: Und es klingt wie ein Argument gegen die Zeitarbeit, die so boomt.

Möller: Da möchte ich unterscheiden. Zeitarbeit bei zeitweise hohen Aufträgen ist sinnvoll, allerdings sind die meisten dieser Jobs nach 90 Tagen beendet. Es gibt Zeitarbeitsfirmen, die ihre Beschäftigten stark in den Beruf zu integrieren versuchen - und schwarze Schafe, die einen schnellen Euro machen und die Mitarbeiter nach kurzer Zeit wieder auf die Straße setzen. Man könnte darüber nachdenken, sie mit höheren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung zu belegen.

"Für meine Kinder bin ich etwas vercheckt"

SZ: Was soll der Staat gegen die Ungleichheit tun, die Sie beklagen?

Möller: Zum Beispiel sind die Steuern in den vergangenen Jahrzehnten vor allem für Spitzenverdiener gesenkt worden, weniger für Geringverdiener.

SZ: Mit so einem Vorschlag werden Sie nicht nächster FDP-Vorsitzender.

Möller: Warten Sie mal ab, was sich bei der FDP noch ändert (lacht).

SZ: Was verdient Deutschlands erster Arbeitsmarktforscher?

Möller: Zu wenig.

SZ: Das sagen alle.

Möller: Ich verdiene etwas mehr als ein Uni-Professor.

SZ: Also etwas mehr als 5000 Euro.

Möller: Aber das ist ein Knochenjob, Wissenschaft plus Beratung der Politik.

SZ: Ruft da schon mal jemand aus von der Leyens Ministerium an und sagt: Jetzt ist aber genug mit den Plädoyers für Mindestlöhne?

Möller: Wir sind unabhängig. Aber natürlich wird schon Kritik geübt: Arbeitgebern passt meine Position zu Mindestlöhnen oder der Spaltung des Arbeitsmarkts nicht so, Gewerkschaftern stößt auf, dass ich die Verlängerung des Arbeitslosengeldes "süßes Gift" nannte.

SZ: Wer meckert öfter?

Möller: Ach, das hält sich die Waage.

SZ: Sie waren nicht der erste Kandidat für Ihren Job, zuvor sagte jemand aus familiären Gründen ab. Schmerzt das?

Möller: Also, ich hatte mich zuerst gar nicht beworben. Auf meinem Regensburger Lehrstuhl war ich zufrieden. Ich wurde angesprochen, als der andere Bewerber absagte.

SZ: Wie gut sind Sie als Ökonom bei Ihren Finanzen?

Möller: Oh, bei den Ökonomen gibt's die wildesten Geschichten. Manche waren erfolgreiche Zocker, wie Keynes oder David Ricardo, der auf den Sieg der Briten gegen Napoleon bei Waterloo wettete und einer der reichsten Männer Englands wurde. Joseph Schumpeter dagegen ging mit einer Bank in Konkurs und musste sein Leben lang dafür zahlen.

SZ: Im Schnitt können Ökonomen nicht besser mit Geld umgehen als Menschen, die Ökotrophologie studieren?

Möller: Nein.

SZ: Peinlich. Und Joachim Möller?

Möller: Manchmal kommt Pech dazu. Ich habe unser Haus in Regensburg Mitte der Neunziger gekauft, als die Preise auf einem historischen Hoch waren. Danach verlor das Haus zehn Prozent an Wert.

SZ: Sie hätten wissen können, das der Markt nach dem Wende-Boom abkühlt.

Möller: Nein. Regensburg war 500 Jahre arm und nahm plötzlich in den Neunzigern einen Aufschwung. Ich dachte nicht, dass die Preise so schnell fallen.

SZ: Und Ihr Aktienpaket?

Möller: Da hatte ich die üblichen Erfolge, und machte die üblichen Fehler.

SZ: Internet-Blase, Telekom-Aktien.

Möller: Genau. Für meine Kinder bin ich bei Finanzen "etwas vercheckt", wie sie das nennen.

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