Reden wir über Geld (5): Martin Walser:"Ich habe nie genug"

Martin Walser über Geld, sein Verständnis für Steuerflüchtige - und warum auch sein neuer Roman die Liebe alter Männer zu jungen Frauen behandelt.

Interview von Harald Freiberger und Alexander Hagelüken

Der Autor empfängt im Arbeitszimmer seines Hauses am Bodensee, in dem er seit vier Jahrzehnten Romane schreibt: "Ein fliehendes Pferd", "Tod eines Kritikers" - und das neue Buch über Goethe und seine Liebe zu einer 19-Jährigen, das nächste Woche erscheinen wird. Während des Gesprächs mit Martin Walser geht die Sonne über dem Bodensee orange, rot und golden unter. Aber unter geht sie. Ach was, der Tod, sagt der 80-Jährige, der fast jede Saison mit einem neuen Buch gegen das Verrinnen der Zeit anschreibt und bereits am nächsten Werk "Muttersohn" sitzt. Heute morgen habe er sich gedacht: "Wenn Dir nicht direkt was fehlt, ist der Tod mit 20, 40 oder 80 Jahren gleich weit weg."

Martin Walser, dpa

Schriftsteller Martin Walser: "Wenn Dir nicht direkt was fehlt, ist der Tod mit 20, 40 oder 80 Jahren gleich weit weg."

(Foto: Foto: ddp)

SZ: Herr Walser, reden wir über Geld. Sie sind 80 Jahre alt und unstrittig einer der größten deutschen Nachkriegsautoren. Welche Rolle spielt Geld in Ihrem Leben noch?

Walser: Es ist rational nicht begründbar, aber: Ich werde nach meinem Gefühl nie genug Geld haben. Vielleicht wegen der Not in Kindheit und Jugend. Das ist eine der zwei, drei wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben. Mein Vater war ein wunderbarer Mensch, der mir schöne Bücher hinterließ. Aber was Geld anging, war er ein absoluter Versager. Wir hatten am Bodensee ein Gasthaus und eine Kohlenhandlung, die hat meine Mutter vor dem Bankrott gerettet. Mit 14 musste ich die Kohlenhandlung samt Auslieferung und Buchhaltung übernehmen. 1941, mitten im Krieg.

SZ: Warum?

Walser: Das hat der Rektor der Schule meine Mutter auch gefragt: "Soll Ihr Sohn Oberschüler oder Kohlenhändler sein?" Es ging nicht anders. Der Vater war tot, der Bruder im Krieg. Nach der Währungsreform konnte meine Mutter dann mein Studium nicht mehr finanzieren. Ich habe Unterhaltungs-Couplets für die Klingende Wochenpost des Süddeutschen Rundfunks gedichtet. 20 Mark pro Strophe. Man gab mir auch die "Nörgelecke für die Hausfrau". Nochmal 20 Mark. Von so was habe ich mich in den ersten Jahren als Schriftsteller ernährt.

SZ: Sie wurden als Mitglied der Gruppe 47 doch früh ausgezeichnet.

Walser: Ja, zum Beispiel 1957 mit dem Hesse-Preis, 10.000 Mark. Ich gab den Scheck meiner Mutter, um ihr zu zeigen, dass man mit dem Schreiben etwas verdienen konnte. Sie hatte das nie geglaubt.

SZ: Wie wichtig war die Anerkennung durch die Mutter?

Walser: Ihr meine Tauglichkeit zu beweisen, war die größte Befriedigung, die ich mir verschaffen konnte.

SZ: Waren Sie damals finanziell unabhängig?

"Ich habe nie genug"

Walser: Nein, ich brauchte immer Brotjobs. In den sechziger Jahren musste ich das Drehbuch für einen Industriefilm über Bayer in Leverkusen schreiben. Schrecklich. Beim Kauf dieses Hauses hier hat mir der Makler 5000 Mark erlassen, sonst hätte ich es mir nicht leisten können. Wir haben jahrelang an Feriengäste vermietet, um über die Runden zu kommen. Im Grunde war ich erst nach dem Erscheinen des "Fliehenden Pferds" 1978 finanziell unabhängig.

SZ: Einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller konnte erst mit mehr als 50 Jahren vom Schreiben leben?

Walser: Kann ja sein, dass ich nicht schlicht genug lebte. Aber ein Buch wie das "Einhorn" stand 1965/66 von September bis März ganz oben auf der Bestsellerliste. Am Ende hatte ich trotzdem nur 25.000 Exemplare verkauft. Das ist nichts. Wegen all dem werde ich nie die Existenzangst verlieren. Ich werde nie das Gefühl haben, dass mein Geld reicht. Aus dieser Gefühlslage entstand 2006 der Roman "Angstblüte" über einen Vermögensverwalter.

SZ: Darin schreiben Sie: "Das Wichtigste ist Unabhängigkeit. Und wahre Unabhängigkeit gibt es nur durch Geld."

Walser: Abhängigkeit war für mich immer das Schlimmste. Das habe ich nie ertragen. Weil dann jemand Macht über mich hat.

SZ: Wie erlebten Sie Abhängigkeit?

Walser: Ständig. Beim Süddeutschen Rundfunk zitierte mich der Programmdirektor zu sich. Der saß hinter einem großen Schreibtisch. Von der Tür zum Schreibtisch war es ein langer Weg. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, dass mir die Knie weich wurden. Ich brachte kaum einen Satz heraus. Ich war von ihm abhängig. Er hatte Macht über mich. Nachher im Kulturbetrieb habe ich die Abhängigkeit von einzelnen Figuren genauso stark empfunden.

SZ: Haben Sie deshalb gegen die Macht des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki aufbegehrt, in dem umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" ?

Walser: Oh ja! Ich musste mich wehren gegen seine eher hemmungslose Machtausübung.

SZ: Sie haben der Abhängigkeit in der Arbeitswelt ein literarisches Denkmal gesetzt: in der Person des Chauffeurs Xaver Zürn in "Seelenarbeit".

Walser: Ja. Zürn leidet wie ein Hund daran, dass er nachts an seinen Chef denkt und weiß, dass der nicht an ihn denkt. Das ist für Arbeitnehmer das Unausgleichbare. Abhängigkeit ist eine Form der Ungerechtigkeit, die auf Dauer zermürbt.

SZ: So gesehen werden die meisten Arbeitnehmer im kapitalistischen Deutschland zermürbt. Sie sind ja abhängig von ihren Vorgesetzten, die Macht über sie ausüben.

"Ich habe nie genug"

Walser: Ich habe ja geholfen, die Gewerkschaft der Schriftsteller zu gründen. Um die Abhängigkeit zu reduzieren, um bessere Honorare durchzusetzen.

SZ: Ist das für Sie das Wesen des Kapitalismus: Die Arbeitnehmer sind abhängig von den Eigentümern und Managern und damit auf Dauer unglücklich?

Walser: Wahrscheinlich ist jede Gesellschaftsform geronnene Ungerechtigkeit. Aber es gibt Veränderungen. Die moderne Arbeitswelt ist durch Gewerkschaften und Betriebsräte gerechter geworden.

SZ: Macht die Globalisierung die Arbeitnehmer wieder abhängiger?

Walser: Schwer zu sagen. Ich konsumiere gierig jede Nachricht, die mir sagt, dass die Arbeitnehmer noch selbstbewusst genug sind. Aber klar ist: Unabhängigkeit ist eine Utopie. Man nähert sich ihr nur an.

SZ: Im Roman "Angstblüte" propagiert der Vermögensverwalter Karl von Kahn Unabhängigkeit durch Geldanlage. Ist das ein Weg, den Arbeitnehmer stärker nutzen können?

Walser: Sparen bedeutet, von der Bank beraubt zu werden. Anlegen dagegen ist eine Chance. Der Sozialismus . . .

SZ: . . . mit dem Sie einst sympathisierten . . .

Walser: . . . hat ausgedient. Vorbei. Dagegen: Das Eigentum an den Produktionsmitteln durch Aktienanlage? Warum nicht. Wahrscheinlich ist das der einzige Weg.

SZ: Wie legen Sie an?

Walser: Ich habe das erst viel zu spät entdeckt. Ich habe mich nie um Altersvorsorge gekümmert. Ich lege erst Geld an, seit ich 2005 den Suhrkamp-Verlag nach fünfzig Jahren verließ . . .

SZ: . . . weil Sie sich beim Wirbel um Ihren Roman "Tod des Kritikers" nicht genug unterstützt fühlten.

Walser: Damals habe ich eine größere Summe mitgenommen. Ich hatte mein Geld nie angelegt, sondern es immer im Verlag stehen lassen.

SZ: Wie viel?

Walser: Was schätzen Sie?

SZ: Eine halbe Million Euro.

Walser: Nicht ganz falsch.

"Ich habe nie genug"

SZ: Sie haben nie Zinsen dafür kassiert?

Walser: Nein. Mein Verleger Siegfried Unseld sagte, er brauche das Geld unter anderem zur Förderung junger Autoren. Als ich das Geld abräumte, griff der Staat voll zu: Ich musste die Hälfte abgeben. Ich gestehe: Ich fühlte mich beraubt. Jahrelang lässt man da ein Konto wachsen, dann kriegt man, was sich gesammelt hat, dann kassiert der Staat die Hälfte.

SZ: Haben Sie Verständnis für manche derjenigen, die im Moment als Steuerflüchtlinge verfolgt werden?

Walser: Ich sage natürlich auch, dass Verbrechen bestraft werden sollen, aber ich würde gerne die Frage stellen, ob nicht der Staat durch zu hohe Abgaben einen Teil der Steuerflucht provoziert.

SZ: Der Vermögensverwalter Karl von Kahn im Roman "Angstblüte" ist Ihre Ikone der Unabhängigkeit. Doch er verliebt sich Hals über Kopf in eine dreißig Jahre jüngere Frau und verliert dadurch jede Unabhängigkeit.

Walser: Jede Abhängigkeit zermürbt, außer der Abhängigkeit durch Liebe. Wer liebt, leidet, aber dieses Leiden steigert das Leben.

SZ: Nächste Woche erscheint "Ein liebender Mann", Ihr viertes Buch seit 2001 über die Liebe eines viel älteren Menschen zu einem viel jüngeren. Das Thema scheint Sie zu beschäftigen.

Walser: Diesmal geht es um den 73-jährigen Goethe und die 19-jährige Ulrike von Levetzow. Es macht mir unheimliche Freude, mir vorzustellen, wie die Teilnehmer des Kulturbetriebs das verkraften: Der größte Kerl, den wir haben, verliebt sich in so ein junges Ding und leidet dabei furchtbar.

SZ: Warum lieben alte Männer junge Mädchen?

Walser: Alte Männer lieben. Punkt. Ihre Frage wäre nur erwägenswert, wenn sie nur junge Mädchen lieben würden. Aber das tun sie nicht.

SZ: Alte Männer, die junge Frauen lieben, gelten meist als lüstern und peinlich.

Walser: Die Kritik an meinen Büchern über die Lieben mit Altersunterschied lautet, es sei biologisch unmöglich, ästhetisch widerlich und moralisch verwerflich. Kurzum: peinlich.

SZ: Haben alte Männer ein Recht darauf, peinlich zu sein?

"Ich habe nie genug"

Walser: Das war schon bei Goethe die Frage. Er zeigt sich wahnsinnig gerne mit Ulrike auf der Promenade von Marienbad, er legt beim Spazieren seinen Arm um sie. Er sieht, wie die Passanten die Köpfe zusammenstecken und tuscheln. Er kennt den Skandal, und es macht ihm Spaß. Er fühlt sich jünger und glücklicher denn je. Ich habe ein Wort aus den Gesprächen mit Eckermann in den Text getan: Manchen schenkt das Leben eine zweite Pubertät. Bei Menschen, die wirklich leben, hört die Pubertät nie auf. Mozart war lebenslänglich ein Kind. Wenn jemand nur noch das ist, was er später gelernt hat, kann ich auf ihn verzichten. Die meisten Berufe wollen die kindliche Genialität durch Reife ersetzen. Aber wenn man das Kind in jemand komplett zerstört, ist er tot. Wenn Goethe mit Ulrike tanzte, fühlte er sich so alt wie sie.

SZ: Die Frage liegt so nahe, dass man sie stellen muss: Haben Sie auch mal eine Liebe mit großem Altersunterschied empfunden?

Walser: Der Autor ist kein Erfinder, sondern ein Finder. Und er findet überall. Natürlich auch in sich. Es wird in keinem Buch das erzählt, was war. Aber es gibt auch kein Buch ohne Erfahrung, das ist klar. Gewisse Erfahrungen produzieren im Autor bestimmte Bücher. Du brauchst das, was du schreibst, um die Wirklichkeit zu ertragen.

SZ: Welche Rolle spielt Geld in solchen Beziehungen zwischen Alt und Jung? Goethe soll Ulrike ja eine Witwenrente von zehntausend Talern versprochen haben, wenn sie ihn heiratet.

Walser: Der Großherzog hat das versprochen. In meinem Roman geniert sich Goethe deswegen. Aber dass materielle oder andere weniger edle Motive auch in Liebesbeziehungen mitwirken, weiß man. Warum auch nicht.

SZ: Sollte man einen alten Mann manchmal davor schützen, in solche Abhängigkeit zu geraten?

Walser: Goethes Schwiegertochter wollte ihn ja auch schützen. Aber: Das Alter ist doch nicht schonungsbedürftig. Goethe hat wegen Ulrike die "Marienbader Elegie" geschrieben, ich kenne kein schöneres, innigeres, reicheres Gedicht.

SZ: Im neuen Roman "Ein liebender Mann" sollen fiktive Briefe von Goethe vorkommen. Haben Sie die geschrieben?

Walser: Ja. Und drei Kapitel eines Romans, den Goethe in meinem Buch verfassen will. Dieser Roman soll heißen "Ein liebender Mann".

SZ: Walser schreibt Goethe.

Walser: Das lief so von selber, dass ich gar nicht die Wahl hatte, misstrauisch zu sein. Das lief wie noch nie.

SZ: Sie werden in Kürze 81 Jahre alt. Welche Rolle spielt für Sie das Sterben?

Walser: Ich glaube, in 100 Jahren stirbt niemand mehr eines natürlichen Todes.

SZ: Der Selbstmord als letzter Akt der Unabhängigkeit?

Walser: Eine Befreiung. Wenn es jemandem nicht schlecht genug ginge, würde er es nicht tun.

SZ: Haben Sie auch solche Gedanken?

Walser: Wer möchte qualvoll sterben? Aber im Moment ist das weit weg. Ich habe mein letztes Buch in zwei Monaten geschrieben, so schnell wie lange keines. Heute Morgen habe ich gedacht: Wenn dir nicht direkt was fehlt, ist der Tod mit 20, 40 oder 80 Jahren immer gleich weit weg. Ich könnte den Tod heute nicht hereinbitten.

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