Physiker erforschen den Aktienmarkt:Anlegen mit Einstein

Naturwissenschaftler entdecken bei Aktienkursen Muster und Gesetzmäßigkeiten - dank der Ergebnisse kann man Crashs besser verstehen.

Jochen Bettzieche

E = mc2 = volles Depot. Die Wirtschaftswissenschaftler haben im Bereich Geld und Börse Konkurrenz bekommen. Seit ein paar Jahren forschen auch Physiker hierüber und gehen die Fragestellungen mit ihren Methoden an.

Unter dem Begriff Econophysics widmen sich die Naturwissenschaftler der Ökonomie und modellieren zum Beispiel Kursbewegungen von Wertpapieren. Dabei kommen sie zu überraschenden Ergebnissen, auch wenn sie die perfekte Anlagestrategie noch nicht entdeckt haben.

"Anfang der neunziger Jahre haben Physiker nach anderen Datenmengen gesucht, die sie analysieren können", sagt Frank Schweitzer, Professor für Systemgestaltung an der Universität ETH Zürich. Bis dahin stammten die Datensätze zum Beispiel von Großforschungsexperimenten, etwa aus den Teilchenbeschleunigern des CERN in Genf, oder aus der Klimaforschung.

"Physiker haben Erfahrung mit der Analyse großer Datenmengen", erläutert Schweitzer. Und die können die Börsen in Form der ständig schwankenden Aktienkurse liefern.

Statistische Regeln

Die Wissenschaftler suchten nach statistischen Gesetzmäßigkeiten - und wurden fündig. "Es ist schon überraschend, dass die Börse statistischen Regeln unterliegt", sagt Schweitzer. Zumal diese Gesetze recht simpler Natur sind. "Das bedeutet jedoch nicht, dass wir verstanden haben, wie diese Gesetze zu Stande kommen", schränkt Schweitzer ein.

Ein verblüffendes Ergebnis brachte eine Untersuchung des amerikanischen Marktes. Die Studie zeigt, welche Kursbewegungen zusammenhängen. Das Resultat war ein Schaubild, das die Physiker kannten: Es entsprach dem Ergebnis einer sogenannten Massenspektrometrie. Bei diesem Verfahren wird etwa die Zusammensetzung eines Gases untersucht. Das Schaubild zeigt dann Linien, die einzelnen Elementen entsprechen.

Statt Chlor und Wasserstoff wurden nun Branchen wie Banken und Logistik durch eine Linie dargestellt. Die Linien standen für Aktien, deren Kurse sich parallel bewegten. "Wir haben das auch für den deutschen Markt versucht, aber längst nicht diese Präzision erreicht wie in den USA", berichtet Bernd Rosenow, Privatdozent an der Universität Köln und derzeit als Gastwissenschaftler in Harvard.

Schweitzer untersucht derweil systematische Risiken. Er analysiert, was passiert, wenn in einem vernetzten System ein Mitspieler Schwierigkeiten bekommt. Als Beispiel führt er die Hypothekenkrise in den Vereinigten Staaten an und vergleicht sie mit dem Dominoeffekt. "Die Frage ist, was man tun muss, damit nicht alle umfallen, wenn einer kippt", erklärt der Physiker.

Anlegen mit Einstein

Offen sei, ob Maßnahmen an großen Knoten im Netz helfen, wie der Eingriff der Bank of England, als die britische Bank Northern Rock in Schieflage geriet. Die große Frage sei vielmehr, ob es eine optimale Form des Netzwerkes gebe, bei der Störungen sich nicht weiter ausbreiten könnten, sagt Schweitzer. Es gehe darum, ob angesichts der Globalisierung Systeme existierten, die die Risiken eines Kollapses trotz der starken Vernetzung verringern.

Rosenow ist näher an der Börse geblieben - und hat Einstein auf die Aktienkurse losgelassen. Dieser hatte im Jahr 1905 die Einstein-Beziehung entdeckt, aus der später das sogenannte Fluktuations-Dissipations-Theorem hervorging. "Diese Beziehung gibt an, wie stark sich eine Größe ändert, wenn man mit einer externen Kraft daran zieht", erklärt Rosenow. Es gilt: Stark fluktuierende Größen reagieren stark auf äußere Kräfte. Auf Aktien übertragen steht die Größe für den Preis, die Kräfte für Kauf- und Verkaufaufträge.

Mangel an Liquidität

Mit Hilfe des Einsteinschen Theorems untersuchte Rosenow, wie ein Crash zu Stande kommt. Zwei Theorien hat er verglichen. Die erste, wonach viel gehandelt und viel verkauft wird und dadurch die Preise stark fallen, hat er danach verworfen.

"Richtig ist vermutlich die Erklärung, dass wenig gehandelt wird, keine Käufer am Markt sind und daher die Kurse einbrechen", fasst der Wissenschaftler das Ergebnis zusammen. Das heißt, Mangel an Liquidität führt zum Crash.

Auf die perfekte Anlagestrategie ist Rosenow bei seiner Forschung noch nicht gestoßen. Das sei auch nicht sein Ziel, sagt er: "Ich bin Wissenschaftler, mein Ziel sind Publikationen in Wissenschaftszeitschriften." Schweitzer ist sich sicher, dass die Forschung nie auf eine optimale Strategie stoßen wird. "Denn wenn ich damit auf dem Markt einen Haufen Geld verdiene, reagieren die anderen Teilnehmer", erklärt er. Damit passt sich der Markt an die optimale Strategie an, und das zu Grunde liegende Modell wäre wertlos.

Zwar sind einige Physiker in der Finanzwelt untergekommen und helfen, Anlagestrategien zu entwickeln. An die Öffentlichkeit gehen sie damit jedoch nicht. Die Masse der Anleger wird daher auch in Zukunft ihr Depot nicht nach den Empfehlungen von Physikern aufbauen. Und für den Fall, dass einem Wissenschaftler der große Wurf gelänge, rät Schweitzer: "Wenn er schlau ist, spekuliert er vom stillen Kämmerlein aus."

Dickes Ende für die Gauß-Glocke

Nicht alle Ergebnisse der Econo-Physiker werden von ihren Kollegen aus der Ökonomie mit Begeisterung aufgenommen. So haben Physiker herausgefunden, dass das Schwanken von Aktienkursen nicht einer statistischen Normalverteilung unterliegt, wie sie die sogenannte Gauß-Glocke darstellt. Stattdessen zeigt die Datenanalyse eine Kurve, die an ihren Enden wieder breiter wird. Fat-tail-distribution nennen Physiker solch eine Verteilung mit schweren Rändern.

Der Kölner Forscher Rosenow erklärt die Bedeutung dieser Ränder: "Bei der Körpergröße des Menschen haben wir eine Normalverteilung mit einem Durchschnitt von 1,80 Metern." Eine Fat-tail-distribution bei der Körpergröße ergäbe ein interessantes Straßenbild. "Dann müsste in jeder Millionenstadt mindestens ein Mensch herumlaufen, der fünf Meter sechzig groß ist", sagt Rosenow.

Die schweren Ränder sind eine wichtige Erscheinung. Früher ignorierten Ökonomen häufig diese Schwankungen und sahen sie als statistische Ausreißer an. Diese Vorgehensweise ist laut dem Züricher Professor Schweitzer nicht korrekt: "Die schweren Ränder stellen Risiken dar, die man nicht vernachlässigen kann."

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