Oscar Niemeyer wird 100:Architektonischer Erotismus

Der berühmteste und erfolgreichste Architekt Lateinamerikas wird 100 Jahre alt. Oscar Niemeyer ist mit Preisen überhäuft worden. Das Erfolgsgeheimnis des Meisters aus Rio: Die Form folgt den Frauen.

Jörg Häntzschel

Als Kind sah Oscar Niemeyer von der Veranda seines Elternhauses auf die Guanabara Bay und den Zuckerhut. Als Hundertjähriger blickt er von seinem Büro auf den Strand der Copacabana. Als Kind zeichnete er mit dem Finger die Umrisse der eiförmigen Felsen in der Luft nach und füllte das Panorama der Atlantikküste mit neuen Formen und Objekten. Als Hundertjähriger tut er es immer noch. Niemeyer, der große Architekt aus Rio, ist nicht nur der letzte noch lebende Vertreter der heroischen Moderne von der Mitte des 20. Jahrhunderts, er scheint auch immun gegen die Beklommenheit und Unsicherheit, die die Welt befallen hat. Man will so altern wie er.

Oscar Niemeyer wird 100: Innenansicht des Nationalmuseums von Brasilien, ein Werk Oscar Niemeyers, das 2007 eingeweiht wurde.

Innenansicht des Nationalmuseums von Brasilien, ein Werk Oscar Niemeyers, das 2007 eingeweiht wurde.

(Foto: Foto: AfP)

Niemeyer wurde in einer großbürgerlichen Familie geboren (von deren deutschen Wurzeln nur noch der Name zeugt). Als einer der ersten Studenten trat er 1930 in die Escola Nacional de Belas Artes ein. Architektur wurde dort als Schöne Kunst gelehrt, erhaben über die technischen Details. Bis heute ist Niemeyer auf die Hilfe von Ingenieuren angewiesen - doch beim Entwerfen ist er umso freier.

Zum Stil der europäischen Moderne fand Niemeyer über Lucio Costa, seinen Mentor und ersten Arbeitgeber, in dessen Büro Niemeyer Corbusier traf, dem er 1936 beim Bau des neuen brasilianischen Gesundheitsministeriums assistierte. Corbusier saugte den "unvergesslichen Zauber" von Rio auf wie ein trockener Schwamm: "alles ist Fest und Spektakel, alles ist Lust".

Und Niemeyer, der laut Costa zuvor "nicht das geringste Zeichen von Talent gezeigt" hatte, absorbierte begeistert Corbusiers Theorien.

Doch schon bei der Überarbeitung von Corbusiers Plänen durch Niemeyer wurde dessen eigene Handschrift sichtbar: Er machte Corbusiers rigide Geometrie-Gebäude höher, dynamischer und skulpturaler.

Architektonischer Erotismus

Mit seinen nächsten Projekten setzte Niemeyer diese kritische Auseinandersetzung fort. Beim brasilianischen Pavillon für die New Yorker Weltausstellung von 1939 war sie Teil der Bauaufgabe. Costa/Niemeyer wollten ein Symbol für den Modernitätswillen, die Weltläufigkeit und den Optimismus der befreiten Kolonie bauen, ohne die tropische Sensibilität zu verleugnen. Das Ergebnis war spektakulär, eine Sensation: mit Teichen und Gärten schuf er eine Art Metapher für die Landschaft Brasiliens; zum ersten Mal realisierte er die Raumkontinuen, Kurven und Wölbungen, die sein Markenzeichen wurden.

Oscar Niemeyer wird 100: Der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer bei der Einweihung des Museums in Niteroi.

Der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer bei der Einweihung des Museums in Niteroi.

(Foto: Foto: dpa)

Mit dem Vergnügungskomplex, den Niemeyer 1940 in Pampúlha baute, hatte er sein architektonisches Vokabular voll entwickelt. Der Auftrag selbst und die Topographie der Bauplätze halfen dabei: Niemeyer sollte am mäandernden Ufer eines Sees einen Spielplatz für die neue Oberschicht schaffen: mit Yachthafen, Restaurant, Casino - und Kirche. Architektur als eine Art Echo der Landschaft wurde zu seinem Leitmotiv. Die Dächer in Pampúlha wellten sich parabolisch oder flossen in gekurvten Formen dahin. Innen und Außen griffen ineinander. Und die wenigen rechten Winkel steigerten nur den Effekt der Kurven. Niemeyer hatte sich von Corbusier und dem Diktat der geraden Linie befreit.

Jahre bevor Corbusier mit der Kirche in Ronchamp und den Bauten in Chandigarh selbst eine neue Plastizität in die Architektur einführte, hatte Niemeyer den International Style zu einem selbstbewussten lokalen Vokabular fortentwickelt. Während Corbusier von einer architektonischen Mechanik träumte, bei der die Form wie bei Schiff, Auto oder Flugzeug der Funktion folgte, waren Niemeyers architektonische Vorbilder die "weißen Strände, riesigen Berge, alten Barockkirchen und die schönen, gebräunten Frauen": form follows beauty. So sinnlich hatte noch nie jemand mit Stahlbeton modelliert.

Brasilia, die Science-Fiction-Kapitale im roten Staub des Landesinneren, passte nicht recht in Niemeyers Strandutopie. Dennoch machte er begeistert mit. Und tatsächlich hat sein Anteil an dem Irrsinns-Projekt die Jahrzehnte am besten überdauert. Niemeyer hatte angesichts der repräsentativen Zwecke der Architektur seinen architektonischen Erotismus gebändigt und erzielte, vor allem mit den beiden hohen Verwaltungsscheiben, der Kuppel des Senats und der Schale des Abgeordnetenhauses eine fast klassische Wirkung.

Architektonischer Erotismus

Oscar Niemeyer wird 100: Niemeyers Museum für Zeitgenössische Kunst in Niteroi (1996) schwebt wie eine Untertasse über der Bucht von Rio.

Niemeyers Museum für Zeitgenössische Kunst in Niteroi (1996) schwebt wie eine Untertasse über der Bucht von Rio.

(Foto: Foto: AP)

Dass das Experiment letztlich scheiterte, beeindruckte Niemeyer nicht weiter. Die Tatsache, dass er kontinuierlich große Aufträge erhielt, war Beweis genug für den Sieg in einem Kampf mit ästhetischen Mitteln. Ideologisch versteift hat er sich dabei nie. Er ist Pragmatiker und Utopist zugleich, baut im Auftrag von Mächtigen gegen die Macht, entwarf tagsüber ein Casino für die Oberschicht und verteilte abends Flugblätter. Sein Kommunismus steht auf der Seite des Lebens, der Schönheit und des Individuums - aber er war gefährlich genug, um ihn 1964, als in Brasilia rechte Militärs in seine utopischen Gebäude einzogen, ins Exil nach Frankreich zu zwingen.

Dort differenzierte er seine Formensprache weiter - wie mit dem Bau für den Mondadori-Verlag in Mailand (1975), dessen Proportionen er von römischen Tempeln ableitete; er spielte weiter mit plastischen Formen wie bei der Bourse de Travail in Bobigny (1980); und er entwarf - etwa mit dem Memorial da América Latina in São Paolo (1989) - Stadträume, die wie dreidimensionale surrealistische Gemälde wirkten.

Niemeyer interessiert sich nicht für die Lösung von Problemen, sondern für die Erforschung des Möglichen. Schon in Brasilia brachte er den Obersten Gerichtshof auf scheinbar unerklärliche Weise zum Schweben; für das Museum Moderner Kunst in Caracas entwarf er 1955 eine auf der Spitze stehende Pyramide und platzierte sie auch noch auf den Gipfel eines Hügels. Mit dieser Architektur der Untersicht schaffte er nicht nur eine völlig neue Form des Monumentalen, er überraschte und begeisterte auch das Publikum, das den Nervenkitzel zwischen Stabilität und Kollaps genoss.

Nie löste sich Niemeyer jedoch spektakulärer vom Erdboden als mit zweien seiner letzten Projekte: Das Novo Museu in Curitiba (2001) entwarf er als gigantisches, nur auf einem Betonmasten sitzendes Zyklopenauge, das Museum für Zeitgenössische Kunst in Niterói (1996), erste Station eines "Niemeyer-Walk" betitelten Kulturcampus, ließ er wie eine Untertasse über den Klippen der Bucht von Rio schweben.

Es würde Santiago Calatrava, Future Systems oder Zaha Hadid einige Mühe kosten, so zu bauen. Und sie sind Jahrzehnte jünger. Doch Niemeyer stellt diese Gebäude mit der Nonchalance von jemandem in die Luft, der nach einem nachmittäglichen Bad im Meer sein Handtuch ausschüttelt. "Was wirklich zählt, sind das Leben und die Freunde und diese ungerechte Welt, die wir ändern müssen", lautet die Maxime an der Wand seines Büros. Daran hat sich auch nach 100 Jahren nichts geändert.

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