Süddeutsche Zeitung

Olympisches Dorf Berlin:Schwieriges Erbe

Das Olympische Dorf von 1936 wurde erst von der Wehrmacht genutzt, dann von der Roten Armee. Nach deren Abzug moderte es lange vor sich hin - nun wird es wiederbelebt.

Von Steffen Uhlmann

Zunächst einmal mussten Eidechsen und Fledermäuse umziehen, in die nicht weit entfernte Döberitzer Heide, eine Naturlandschaft der Heinz-Sielmann-Stiftung. Aber die Umsiedlung der geschützten Kreaturen war das geringste Problem für Holger Schreiber bei seinem langen Kampf um die Wiederbelebung des historischen olympischen Dorfs vor den Toren Berlins. Der parteilose Bürgermeister von Wustermark (Brandenburg) hat sich in den Kopf gesetzt, das 52 Hektar große Gelände mit seinen denkmalgeschützten Gebäuden für seine Gemeinde nutzbar zu machen. Das Areal liegt in Elstal, das heute ein Ortsteil von Wustermark ist, etwa 16 Kilometer westlich des Berliner Olympiastadions. Für Schreiber und seinen kleinen kommunalen Stab ist die Wiederbelebung eine Herkulesaufgabe, wie sich bald herausstellte. "Das Ausmaß des Projekts hat uns nicht nur einmal an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit gebracht", stellt er nüchtern fest. "Aber es ist endlich losgegangen."

Dabei ist die Gemeinde im Speckgürtel Berlins einen forschen Aufbruch gewöhnt. Mit dem schnell wachsenden Güterverkehrszentrum (GVZ), das über Wasser, Straße und Schiene zu erreichen ist, einem Outlet-Center mit 80 Shops, dem ebenfalls gerade in Angriff genommenen Bau eines neuen Rangierbahnhofs und der Touristenattraktion "Karls Erlebnis-Dorf" haben die Wustermarker gehörig dazu beigetragen, dass ihr Landkreis Havelland zu der am stärksten wachsenden Region in Brandenburg aufgestiegen ist. Und während Demografen vielen Orten im Osten die weitere Abwanderung und "Entleerung" prophezeien, muss Wustermarks Bürgermeister mit einem stetigen Zuzug auf jetzt fast 10 000 Bewohner fertigwerden. Allein im Ortsteil Elstal, zu dem das olympische Dorf gehört, ist die Einwohnerzahl seit der Wende auf 4200 gestiegen und hat sich damit mehr als verdoppelt. Für die Kommune ist das eine Herausforderung.

Mit der Erschließung des olympischen Dorfes soll nach und nach Wohnraum für bis zu 3000 Menschen entstehen. Als Ende Mai der erste Bauabschnitt offiziell eingeweiht wurde, sprach der Bürgermeister von der "Symbolkraft für das ganze Havelland" und von einem "emotionalen Tag für sich und seine Gemeinde". In gut zwei Jahren sollen die ersten 210 Wohnungen übergabebereit sein. So ist es jedenfalls derzeit geplant.

Pläne für das olympische Dorf und seine Nutzung hat es in den vergangenen Jahren zuhauf gegeben. Das fing schon mit dem eigentlichen Bau an. Die Nazis, die erst nach ihrer Machtergreifung die Propagandawirksamkeit der Spiele erkannten, wollten der Welt etwas bieten, das sie bis dato noch nicht gesehen hatte. So entstand in nur zwei Jahren Bauzeit westlich von Berlin eine komfortable Kolonie für etwa 3600 ausschließlich männliche Sportler aus fast 50 Nationen.

Wohnten die Athleten 1932 in Los Angeles noch in Holzbaracken, genossen sie vier Jahre später in Berlin einen für Sportveranstaltungen neuen Luxus: Jedes aus Steinen gebaute Haus - es gab 136 einstöckige und fünf zweistöckige Wohngebäude - hatte fließend warmes Wasser, Zentralheizung, Telefon und eine Terrasse. Auf Wunsch der Finnen entstand die erste Sauna in Deutschland. Das "Speisehaus der Nationen" hatte 40 Säle, das Empfangsgebäude beherbergte auch Post und Bank, das Gemeinschaftshaus, das "Hindenburg-Haus", auch einen Kinosaal für Propagandafilme. Ein architektonisches Meisterwerk für die damalige Zeit war die beheizbare Schwimmhalle mit ihrem 25-Meter-Becken. Die bis zur knapp 15 Meter hohen Decke reichenden Fenster konnten elektrisch geöffnet werden und verwandelten die Halle so bei schönem Wetter in ein überdachtes "Freibad".

Und auch sonst hatten die Architekten Werner und Walter March scheinbar an alles gedacht und dabei keinen Aufwand gescheut. Eine große Sporthalle für Basketballer oder Turner entstand, Laufbahnen für Trainingszwecke hatten exakt die Maße der Bahnen im Olympiastadion. Für die Freizeitanlagen wurden Hunderte Bäume verpflanzt, ein künstlicher Hügel angelegt, daneben ein Teich gegraben und ein Terrassen-Café gebaut.

Als "Dorf des Friedens" gaukelte die Nazi-Propaganda der Welt diese wundersame Athleten-Oase vor. Dabei stand schon bei Beginn der Planung fest, dass nach den sechswöchigen Spielen die Wehrmacht auf dem Gelände einziehen würde. Denn gleich daneben in der Döberitzer Heide lag einer ihrer Truppenübungsplätze.

Auch nach dem Krieg behielt das olympische Dorf seine Bestimmung als Militärstützpunkt. Die Rote Armee zog ein, ließ sich von einem Ostberliner Baukombinat zwischen den historischen Gebäuden mausgraue fünfstöckige Platten- und Blockbauten als weitere Wohnunterkünfte hinstellen. Sie beherbergten auch wieder Sportler. Der sowjetische Armeesportklub Elstal war gegründet worden. Etliche seiner Mitglieder bereiteten sich im ehemaligen olympischen Dorf für künftige olympische und andere internationale Wettkämpfe vor.

Spätestens 1992 war damit Schluss. Mit dem Abzug der Roten Armee fiel das gesamte Gelände in einen zerstörerischen Tiefschlaf. Wildschweine und anderes Getier durchfurchten das Gelände. Der künstliche Teich, längst zur Pfütze verkommen, wurde Heimstatt von Reihern oder Kranichen. In den bröckelnden Mauern haben Eidechsen ein neues Zuhause gefunden. Nur Devotionalien-Sammler und schnödes Rowdytum störten gelegentlich die neu erwachte Fauna- und Florawelt. Frost und Feuchtigkeit taten ein Übriges, das historische Denkmal bröckelte, faulte und moderte vor sich hin. Und kein Investor weit und breit.

Mit der Übernahme des Areals durch die Landesentwicklungsgesellschaft Brandenburg (LEG) schien Mitte der Neunzigerjahre Rettung in Sicht zu sein. Große Pläne, große Sprüche kündigten den Aufbruch an, doch es endete jämmerlich. Statt eine "Wohnstadt im Grünen" für mindestens 1,5 Milliarden Euro zu errichten, zog die Landesregierung nach einer Kette von Pleiten, Pech und Pannen 2001 die Notbremse und schickte ihre Entwicklungsgesellschaft in Liquidation, die bis heute anhält. Stattdessen kam in Elstal die Deutsche Kreditbank (DKB) zum Zuge. Sie übernahm das Gelände und versuchte den weiteren Verfall aufzuhalten. Doch bei aller Anstrengung, mehr als eine museale Nutzung kam dabei nicht heraus.

Das änderte sich erst, als Schreiber, der selbst in Elstal aufgewachsen ist und noch immer dort wohnt, 2013 aktiv wurde, um endlich seinen Traum vom neuen Leben im olympischen Dorf zu verwirklichen. 1,3 Millionen Euro brachte die Gemeinde dafür auf; weitere 2,6 Millionen für die Erschließung und Entwicklung des Geländes bekam er aus einem Förderprogramm des Bundes für nationale Projekte des Städtebaus. Das schuf die Voraussetzung dafür, dass nach einer Ausschreibung die Nürnberger Terraplan einstieg, eine Projektentwicklungsgesellschaft, die über viel Erfahrung bei der Sanierung und Wiederbelebung denkmalgeschützter Bauten und Gelände verfügt. Auch in Brandenburg, wo Terraplan bereits mehrere Projekte dieser Art fertiggestellt hat, wenn auch nicht in dieser Größe und mit dieser Einmaligkeit. Wer kann schon ein olympisches Dorf sanieren?

Das ist in jedem Fall ein Langzeitgeschäft. Fast vier Jahre dauerte es, bevor alle Beteiligten, zu denen natürlich auch die strenge Denkmalbehörde gehört, Zustimmung für die Entwicklungspläne zum ersten Bauabschnitt von Terraplan signalisierten und die Nürnberger dazu mit der Deutschen Kreditbank einen Kaufvertrag abschließen konnten. Im Sommer 2017 folgte schließlich der erste Spatenstich, knapp zwei Jahre später nun die Einweihung des ersten etwa zehn Hektar großen Bauabschnitts, auf dem die mehr als 200 Wohnungen entstehen sollen - die meisten davon in dem alten Speisehaus, das nach Sanierung und Umbau etwa 100 Wohnungen haben wird.

3600 Athleten

aus fast 50 Nationen waren 1936 im Olympischen Dorf während der sportlichen Wettkämpfe untergebracht. Auf dem Areal in Elstal, das etwa 16 Kilometer westlich des Berliner Olympiastadions in Brandenburg liegt, wohnten nur die männlichen Teilnehmer. Die Frauen hatten ihre Quartiere in Berlin. Nach der Sanierung sollen im ehemaligen Olympischen Dorf Wohnungen für etwa 3000 Einwohner entstehen.

Mehr als 50 Millionen Euro investiert Terraplan in diesen ersten Bauabschnitt. Zugleich laufen bei ihr die Entwicklungsarbeiten für einen zweiten, zwölf Hektar großen Abschnitt, in dem neben den geplanten 400 Wohnungen und der dazu nötigen Umgestaltung der Platten- und Blockbauten eine ganze Reihe von sozialen Einrichtungen entstehen sollen: vom Medizinzentrum über eine Pflegeeinrichtung und Kita bis hin zu einem Café und weiteren Sport- und Freizeitanlagen. Die Investitionssumme beträgt laut Schreiber etwa 100 Millionen Euro. Wer auf dem dann noch verbleibenden Gelände zum Zuge kommt, ist weitgehend offen. Fest steht nur, dass die DKB das gesamte Areal verkaufen will.

Terraplan hat die meisten Wohnungen des ersten Bauabschnitts bereits verkauft, zu einem durchschnittlichen Preis von 4500 Euro pro Quadratmeter. Mieter müssen mit mindestens zwölf Euro je Quadratmeter (kalt) rechnen. Für die Wustermarker kaum bezahlbar, wie der Bürgermeister eingesteht. Darum will er darauf dringen, dass über Fördermaßnahmen künftig auch Bauten für den sozialen Wohnungsbau entstehen - ob das klappt, ist bislang offen. Unklar ist auch, wie lange sich das Entwicklungsprojekt noch hinziehen wird. Spätestens Ende des nächsten Jahrzehnts aber soll das neue "Olympische Dorf" komplett fertiggestellt sein. Schreiber glaubt fest an den Traum vom wiedererwachten Leben. Er will diesen Kampf gewinnen.

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Quelle:
SZ vom 06.07.2019
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