Süddeutsche Zeitung

Nachverdichtung:Im Fahrstuhl zum Lidl

Seit einiger Zeit werden über den Flachbauten von Discountern Wohnungen gebaut. Die Supermarktbetreiber planen bereits neue Projekte. Doch es gibt auch Probleme.

Von Steffen Uhlmann

Norbert Bessert ist rundum zufrieden. Er ist froh, auf dem heiß umkämpften Berliner Wohnungsmarkt seine neue Wohnung gefunden zu haben. Ihn stört dabei nicht, dass er nun über einem Supermarkt wohnt. Im Gegenteil, Bessert findet das sogar überaus praktisch. "Wenn ich unten einkaufen war, kommt das ganze Zeug dann gleich in den Fahrstuhl, und dann bin ich auch schon oben", sagt er. "Früher musste ich erst einmal zum Markt fahren und später dann bei mir im Haus drei Treppen hochsteigen." Auch eine Mitbewohnerin von Bessert im Haus über dem Lidl-Supermarkt, der inmitten von Berlins Vorzeige-Stadtteil Prenzlauer Berg liegt, hat wenig Grund zum Klagen. "Bei offenem Fenster höre sich zwar nachts bisweilen die Supermarktbelüftung. Aber die geht ja nicht permanent, sagt sie. Auch die Anlieferung zur frühen Stunde bekomme sie nicht mit. "Gar nicht", sagt sie und freut sich noch immer darüber, dass sie nun auch um kurz vor zehn am Abend noch Milch für die Kinder holen kann.

Oben wohnen und unten einkaufen folgt einem Konzept, das gerade die älteren Generationen noch aus der "Tante-Emma-Laden-Zeit" kennen. Nun aber wird es auf neue Weise interpretiert und in den schnell wachsenden Metropolen auch zügig realisiert, weil dort knapper Wohnraum in dicht besiedelten Innenstädten mit wenig freien Bauflächen auf eine stetig gewachsene Nachfrage trifft. So ist Nachverdichtung gefragt: Wo es noch möglich ist, werden Gebäude zwischen zwei Häuser gequetscht, ohne Rücksicht auf bisher sorgsam gepflegte Grünflächen. Das aber geht zumeist nicht ohne einen Sturm der Entrüstung ab, oder provoziert gar aktiven Widerstand der Anwohner, verbunden mit langwierigen Gerichtsverfahren.

"Das werden keine Billigwohnungen mit nur einer Steckdose im Flur."

Eine Alternative sei es daher, mehr in die Höhe zu bauen und damit auch den Luftraum über einem Supermarkt zu nutzen, sagt Projektentwickler Alexander Harnisch, der neben Lidl in Berlin zu den Pionieren in Sachen Wohnen über einem Supermarkt gehört. "Wir haben vor zwei Jahren im Stadtbezirk Steglitz das Quartier am Stadtpark gebaut, in dem auch ein kernsanierter Altbau mit 58 Wohnungen plus Supermarkt im Erdgeschoss eingebunden ist", erzählt er. Für Harnisch eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur, weil sämtliche der insgesamt mehr als hundert Wohnungen längst verkauft sind und er seitdem weder von den Nutzern noch vom Supermarktbetreiber Edeka größere Klagen zu hören bekommen hat. Dabei habe man zunächst Lehrgeld zahlen müssen, bekennt Harnisch. "Aber jetzt wissen wir, wie es gehen kann und machen darum auch weiter", sagt er. "An bis zu zehn neuen Projekten dieser Art sind wir inzwischen in Berlin dran."

Und da ist nicht nur der private Projektentwickler, der sich vornehmlich auf das hochpreisige Wohnsegment konzentriert. Auch die Discounter Aldi Nord und Lidl sind jetzt in der Hauptstadt angetreten, ihre platzverschwendenden "Flachmänner" in moderne, weil gemischt genutzte mehrstöckige Handelsimmobilien zu verwandeln. Allein Aldi will in Boom-Berlin an mindestens 30 Standorten in den nächsten fünf bis sieben Jahren auf oder neben seinen Filialen etwa 2000 Wohnungen errichten. In den Stadtbezirken Neukölln und Lichtenberg sollen die ersten knapp 150 Wohneinheiten Mitte nächsten Jahres einzugsbereit sein. "Das werden keine Billigwohnungen mit nur einer Steckdose im Flur", versichert Jörg Michalek, Chef der Aldi-Immobilienverwaltung. Man biete guten Standard, vergleichbar mit den Wohnungen der städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Auch die Miethöhe werde sich in dieses Segment einordnen: knapp ein Drittel Sozialwohnungen mit einer Kaltmiete von 6,50 Euro je Quadratmeter, für den "Rest" werden zehn Euro je Quadratmeter fällig. Handelskonkurrent Lidl dagegen hält sich mit Prognosen für Berlin zurück. Aber an mindestens fünf Standorten in der Hauptstadt sei man derzeit dran, heißt es dazu.

Aldi, Lidl und andere Lebensmitteldiscounter geraten gerade in Berlin mehr und mehr unter Druck und Zugzwang. Mit dem anhaltenden Zuzug in die Hauptstadt - derzeit etwa 40 000 pro Jahr - wächst der Versorgungsbedarf für die Einzelhandelsketten, nur findet sich kaum noch Platz für den Bau weiterer Filialen. So zwingt knapper werdender Wohnraum und dicht besiedelte Innenstädte die Retailer zum Umdenken. Wer mehr Verkaufsfläche anbieten will, kann seine vorhandenen Märkte nur noch abreißen und auf Erweiterung hoffen. Hier aber setzt das Baurecht zunächst enge Grenzen. Bislang sind Verkaufsflächen von 800 Quadratmetern gängige Norm. Wer größer bauen will, weil breitere Gänge, ein vielfältigeres Frische-Angebot oder eine neue Backstation mehr Kundenzuspruch und Versorgungsqualität versprechen, habe bei den Behörden nur Chancen auf eine Sondergenehmigung, wenn der Betreiber auf seine geplante Immobilie noch etwas draufpacke, wie Händlerketten fast unisono betonen.

Wer Handel betreibt, hat bisher keine Erfahrung mit Wohnimmobilien

In Berlin sowieso, wo nach jüngsten Erhebungen des Senats der Bedarf an neugebauten Wohnungen auf knapp 200 000 bis 2030 geschätzt wird und dafür - zumindest im Innenstadtbereich - Bauland knapp und wenn vorhanden auch immer teurer wird. So drängt der Senat mit Nachdruck auf die Veredlung vorhandener eingeschossiger Handelsimmobilien und hat auch dazu diverse Berechnungen angestellt. Demnach sind mindestens 330 potenzielle Standorte vorhanden, an denen auf den Dächern von Supermärkten und Discountern Wohnungsbau möglich ist. Das summiert sich bei angenommenen 50 bis 100 Wohneinheiten je Standort auf 15 000 bis 36 000 Wohnungen - mithin etwa das Doppelte der derzeit pro Jahr fertiggestellten Wohnungen. Diese Reserve will man sich nun so schnell wie möglich erschließen. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher von den Linken spricht denn auch von einer "Win-Win-Situation". "Für die wachsende Stadt wird Platz für neue Wohnungen, Büroflächen, Praxen oder soziale Einrichtungen geschaffen", sagt sie. Für die Unternehmen entstünden dabei langfristig stabile Standorte. Lompscher setzt große Hoffnungen in diese Kooperation mit den Handelsketten und hat darum einen "Supermarktgipfel" ins Leben gerufen, der Mitte September nun schon zum zweiten Mal tagte und dabei auflaufende Probleme des Pilotprojekts aus der Welt schaffen soll.

Die aber gibt es reichlich. Der Deal - neue Wohnungen gegen größere und moderne Verkaufsflächen - klinge zunächst plausibel und einfach, sagt Harnisch. Doch der Teufel liege auch hier im Detail, und das für alle Beteiligten. Wer Handel betreibt, hat bisher meist keinerlei Erfahrung mit Wohnimmobilien und deren Vermietung. Und wolle sie eigentlich auch nicht machen. Freiwillig werde wohl kaum ein Discounter zum Bauherrn und Wohnungswirtschaftler, glaubt der Projektentwickler. Schon wegen des in Berlin noch immer schwer durchschaubaren und überaus bürokratisch gehandhabten Baurechts. Zudem verliere der Händler zumeist einen weitläufigen Parkplatz, der Kundenströme anzieht. Schließlich machten aufwendige Statik oder Lärm- und Geruchsisolierung das Bauen deutlich teurer als bei Neubauten - mit allen Folgen für Mieten und Kaufpreise.

"Abreißen und neu Bauen ist einfach effizienter", sagt Harnisch. "Nur kann oder will sich kein Discounter darauf einlassen, seine Filiale ein, zwei Jahre zu schließen." Harnisch hat bei seinem Steglitzer Projekt eng mit dem betroffenen Filialbetreiber kooperiert. "Anders", sagt er, "wäre es auch nicht gelungen, das Haus bei laufendem Handelsbetrieb von Grund auf zu sanieren und umzubauen."

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Quelle:
SZ vom 23.11.2018
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