Süddeutsche Zeitung

Nachbarschaft:Klicken statt klingeln

Immer mehr Menschen nutzen Internetportale, um mit ihren Nachbarn in Kontakt zu kommen. Die Angebote im Überblick.

Von Yvonne Simon

Das Gute liegt oft ganz nah. Doch das hilft nichts, wenn man es nicht weiß. Man stelle sich vor, man braucht eine Leiter. Eine solche lehnt auf der Rückseite der Schlafzimmerwand - in der Wohnung des Nachbarn. Den um Hilfe zu bitten, kann aber schwerfallen, wenn die Kommunikation sonst nicht über ein freundliches Zunicken im Hausflur hinausgeht. Gerade in Großstädten und Mehrparteienhäusern mit hoher Fluktuation ist das nicht selten der Fall. Dabei schätzen die Deutschen im Allgemeinen gute Kontakte zu ihren Nachbarn: 80 Prozent wünschen sich beispielsweise gelegentliche Gespräche und 69 Prozent gar ein freundschaftliches Verhältnis, wie eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Kantar Emnid im Auftrag von Vonovia zeigt.

Vor dem Hintergrund der Globalisierung, gestiegener Mobilität und fortschreitender Individualisierung hatte das Thema Nachbarschaft ab den 70er-Jahren eigentlich an Bedeutung verloren, berichtet Anna Becker vom Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung (VHW). Seit etwa zwei Jahrzehnten erlebe das Lokale jedoch eine Art Renaissance. "Bedrohliche Entwicklungen wie Finanzkrisen oder der Klimawandel wecken im Menschen das Bedürfnis nach Zusammenhalt, um einer gefühlten Hilflosigkeit entgegenzutreten", sagt Becker.

Hinzu kommen soziodemografische Veränderungen: Die Überalterung der Gesellschaft und die Tendenz zu mehr Alleinerziehenden- und Singlehaushalten sorgen dafür, dass mehr Menschen auf Hilfe in der Nachbarschaft angewiesen sind.

Wer den Austausch mit den Nachbarn sucht, muss längst nicht mehr an deren Türen klingeln oder auf die passende Gelegenheit warten. Online-Anbieter haben das Bedürfnis nach lokalem Austausch erkannt und geben die Möglichkeit, in sozialen Nachbarschafts-Netzwerken und Apps Kontakte zu knüpfen oder über aktuelle Geschehnisse im Quartier auf dem Laufenden zu bleiben.

Die Nutzung solcher Portale hat der VHW gemeinsam mit Partnern zwischen 2016 und 2018 im Projekt "Vernetzte Nachbarn" untersucht. Eines der Ergebnisse: Nachbarschaftsportale tragen tatsächlich dazu bei, dass sich das Gefühl der Anonymität in Quartieren verringert und der Kommunikationsfluss zunimmt. Nutzer knüpfen Kontakte, die über ihr eigenes Milieu und die eigene Altersgruppe hinausgehen. Sie kommen an Ressourcen wie Nachbarschaftshilfe, können sich gegenseitig etwas ausleihen, Mitstreiter für Aktivitäten und Projekte suchen oder erfahren etwa, ob eine Wohnung frei wird. "Sogar bei passiven Nutzern steigt das Zugehörigkeitsgefühl", sagt Becker, "sie können sehen, worüber geredet wird - selbst wenn sie gar nicht mitmachen."

Der Aufstieg der Nachbarschaftsportale begann bereits vor mehr als fünf Jahren. Einige Anbieter sind allerdings schon wieder vom Netz gegangen oder haben fusioniert. So wurde etwa das Netzwerk Wirnachbarn.de 2017 von Nebenan.de übernommen. Die Plattform Allenachbarn.de ist momentan offline, laut Text auf der Website noch so lange, bis die Betreiber wissen, wie sie "die Datenschutz-Grundverordnung sinnvoll umsetzen können".

Generell ist Datenschutz ein heikles Thema, schließlich werden bereits bei der Anmeldung teils die volle Anschrift und der Klarname fällig. Und wer dann beispielsweise einen Babysitter sucht, gibt private Informationen preis. Die Plattformen werben zwar in der Regel damit, verantwortlich mit den Daten umzugehen und diese nicht an Dritte weiterzugeben. Trotzdem behalten sich die Betreiber in ihren Datenschutzbestimmungen teils vor, Zugriffsdaten beispielsweise für interessenbezogene Werbung zu nutzen und setzen Cookies oder Remarketing-Tags ein.

"Für Normalverbraucher ist kaum nachvollziehbar, was mit Daten passiert und inwiefern sie genutzt werden", sagt Tatjana Halm, Referatsleiterin Markt und Recht bei der Verbraucherzentrale Bayern. "Nutzer müssen auf das vertrauen, was in den Datenschutzbestimmungen steht", so die Rechtsanwältin. Zu prüfen, ob diese eingehalten werden, sei Sache der Datenschutzbehörden, grundsätzlich seien Verstöße gegen die DSGVO aber riskant. Halm rät, vor der Registrierung bei den Plattformen die Datenschutzbestimmungen zu lesen und darauf zu achten, welcher Nutzung man zustimmt und welche Cookies man erlaubt. Verbraucher sollten regelmäßig von ihren Betroffenenrechten Gebrauch machen, wie Auskünfte einholen, der Nutzung widersprechen oder Daten löschen lassen. Wer in den Netzwerken aktiv ist, so Halm, sollte außerdem genau überlegen, welche persönlichen Angaben er mit anderen Nutzern teilt. Schließlich wisse man nicht, wer die Daten missbrauchen könnte.

Doch möglichst anonym zu bleiben ist so eine Sache, auf Portalen, die doch die Anonymität durchbrechen sollen. Zumal die Abfrage gewisser Daten auf Nachbarschaftsportalen auch wieder der Sicherheit dienen kann: Bei einigen Anbietern müssen sich die Nutzer verifizieren, beispielsweise über den Personalausweis. Das gibt den Mitgliedern immerhin die Gewissheit, es nicht mit Fakeprofilen zu tun zu haben. Hier die wichtigsten Portale im Überblick.

Nebenan.de

Der Marktführer in Deutschland. Das soziale Netzwerk ging Ende 2015 online, mit der Mission "der zunehmenden Anonymität in der Gesellschaft entgegenzuwirken" und Nachbarn über den digitalen Weg zu mehr analogen Kontakten zu verhelfen. Funktionen und Aufbau ähneln Facebook: Es gibt eine Pinnwand, Veranstaltungseinladungen in der Umgebung, verschiedene Gruppen, einen Marktplatz und die Möglichkeit, Nachbarn direkt zu kontaktieren. Mittlerweile zählt die Plattform an die 1,4 Millionen Nutzer in über 7000 Nachbarschaften - schwerpunktmäßig in den Großstädten Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt am Main. Dort orientieren sich die Grenzen einer Nachbarschaft in der Regel nach Stadtteilen, auf dem Land können sie je nach Einwohnerdichte auch größer sein. Nachbarschaften werden erst freigeschalten, wenn eine kritische Masse von circa 100 Mitgliedern erreicht ist.

Wer sich anmelden möchte, muss seine Adresse verifizieren - zum Beispiel über ein Foto des Personalausweises, eine Postkarte oder einen Handzettel mit persönlichem Verifizierungscode, eine Einladung eines bereits verifizierten Nachbars oder per GPS. Hinter dem Portal steckt die Berliner Good Hood GmbH, die ähnliche Plattformen auch in Spanien, Italien und Frankreich betreibt. Die Nutzung des Netzwerks ist kostenlos, das Start-up finanziert sich über Investoren. Außerdem dürfen lokale Gewerbe gegen Gebühr ihre Angebote bewerben und Städte und Gemeinden können gebührenpflichtige Organisationsprofile nutzen.

Nextdoor

Die amerikanische Alternative. Nextdoor wurde 2010 in San Francisco gegründet und expandierte 2017 nach Deutschland. Die Funktionen der Plattform unterscheiden sich kaum von Nebenan.de, allerdings dürfte die Anzahl der Nutzer deutlich geringer sein - auf eine Anfrage, wie viele Menschen registriert sind, reagierte das Unternehmen jedoch nicht. Auffällig ist, dass Nextdoor stark den Aspekt Sicherheit betont. Als Beispiele der Nutzung listet die Website des Portals "andere schnell über einen Einbruch zu informieren" und die Organisation von Sicherheitsgruppen auf.

Auch Nextdoor ist kostenlos nutzbar und verlangt eine Verifizierung der User. Das geht per Standortbestimmung, über die Telefonnummer - die Rechnungsadresse muss mit dem angegebenen Wohnort übereinstimmen, per Postkarte oder Einladung eines Nachbarn. Eine Nachbarschaft wird freigeschaltet, sobald sich 10 Mitglieder gefunden haben. Nextdoor hat sich nach Angaben auf der Website bis 2016 über Risikokapitalgeber finanziert. Mittlerweile zeigt das Portal gesponserte Werbung regionaler und nationaler Unternehmen an.

Nachbarschaft.net

Nachbarschaft.net ging im Frühjahr 2015 an den Start - wurde aber durch die schnelle Ausbreitung von Nebenan.de mehr oder weniger vom Markt gedrängt, wie Gründer Christoph Straube erzählt. Aktuell sind etwa 300 000 Menschen bei dem Netzwerk registriert, das derzeit keine aktive Nutzerakquise betreibt und nur als App verfügbar ist. Die Mitglieder kommen schwerpunktmäßig aus dem Rhein-Main-Gebiet, Berlin, München und Hamburg. Nachbarschaften müssen nicht freigeschaltet werden - anmelden kann sich jeder, auch wenn man sich dann möglicherweise allein auf weiter Flur befindet. Austauschen können sich die Nutzer mit anderen Mitgliedern in einem Radius von 2,5 Kilometern rund um den Wohnort - Nutzer in der Nähe werden auf einer Karte angezeigt. Bevor eine Verifizierung nötig wird, beispielsweise durch den Personalausweis oder eine Stromrechnung, können die Nachbarn bereits fünf Nachrichten verschicken. Verifizierte Mitglieder sind an einem kleinen grünen Haken im Profil erkennbar.

Zu den Funktionen gehören eine Findeplattform und das automatische Einspielen von Polizeimeldungen. Lokale Unternehmen können außerdem Rabatte für die Mitglieder ausschreiben und durch eine Partnerschaft von Nachbarschaft.net mit Eventim werden Veranstaltungen in der Umgebung angezeigt. Die Nutzung ist kostenlos und das Angebot eigenfinanziert - man arbeite an Finanzierungskonzepten und Alleinstellungsmerkmalen, so Straube. Unterdessen hat er bereits die nächste App ins Leben gerufen: Nummernschild.de. Dabei sollen sich registrierte Mitglieder bald anhand ihrer Nummernschilder kontaktieren können.

Zwopr

Zwopr ist kein klassisches Nachbarschaftsportal, sondern "die Neuinterpretation eines Tauschrings", wie Geschäftsführer Bernhard Koller erklärt. Daher auch der Name, der sich vom englischen Wort "swop" - auf Deutsch tauschen - ableitet. Der Fokus liegt auf gegenseitiger Hilfe, die nicht mit Geld, sondern mit Zeit vergütet wird. Jeder Nutzer verfügt über ein Zeitkonto - wer eine Stunde lang einem Nachbarn hilft, indem er etwa mit dem Hund Gassi geht oder einen Schrank aufbaut, dem wird die Zeit gutgeschrieben, die er dann wiederum selbst gegen Hilfe eintauschen kann. Das Netzwerk gibt es erst seit März 2019. Bislang sind circa 7000 aktive Mitglieder dabei, die meisten davon in München. Wer sich anmeldet, muss sich bislang nicht verifizieren, was sich künftig aber ändern soll. Im Profil wird immerhin angezeigt, wie oft jemand bereits geholfen hat, und Mitglieder können sich gegenseitig bewerten. Nutzer geben ihren Standort selbst ein und können einen beliebigen Radius einstellen, in dem sie Hilfe suchen und bieten. Ein Großteil, so Koller, finde aber in der unmittelbaren Nachbarschaft statt. Bislang finanziert sich das Münchner Start-up über Eigenkapital. Für die Zukunft seien Partnerschaften geplant, sodass Nutzer ihre Zeit etwa gegen Prämien bei Baumärkten eintauschen oder zusätzliche Stunden durch Spenden an Aufforstungsprojekte erwerben können.

Pizipi

Wer sich nicht traut, bei seinen Nachbarn anzuklopfen, kann das seit Frühjahr 2019 virtuell bei Pizipi tun. Die Kennenlern-App aus Bremen hat derzeit nach eigenen Angaben unter 10 000 Nutzer, die meisten davon in Berlin. Der Name ist rund um das Wort "zip", Englisch für Postleitzahl, konstruiert - die müssen Nutzer unter anderem gemeinsam mit ihrem Vornamen, Geburtsdatum und Geschlecht angeben, um sich zu registrieren. Kontrolliert werden die Angaben nicht. Den Radius, in dem sie Nachbarn kennenlernen möchten, bestimmen die Mitglieder selbst; maximal sind 40 Kilometer möglich.

Klopft jemand bei einem Nachbarn an, so muss er warten, bis die Tür geöffnet wird - erst dann können die beiden Nutzer privat chatten. "Wie im richtigen Leben", sagt Geschäftsführer Ünsal Genc. Darüber hinaus gibt es einen Flohmarkt und die Möglichkeit, Hilfe anzubieten oder zu suchen. Über die Plauderbox können sich Mitglieder an alle Nachbarn wenden. Wem es in der Nachbarschaft zu eng wird - oder zu einsam - der kann außerdem auf den Mars reisen und sich dort mit Mitgliedern aus allen Regionen austauschen. Vorausgesetzt, diese sind ebenfalls zum Mars geflogen. Die Nutzung der App ist kostenlos, der Dienst finanziert sich über Werbung.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2020
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