Nach der Lehman-Pleite:Als die Krise einschlug

Der Lehman-Bankrott hat einige Menschen mit in den Ruin gerissen. Wie die Pleite das Leben veränderte. Drei Hausbesuche.

A. Hagelücken, A. Mühlauer u. H.Wilhelm

Der Banker

Am Freitag vor der Lehman-Pleite war Wilfried Gerling in Frankfurt bei einer Verbandssitzung. Als Vorstandschef der Hallertauer Volksbank in Pfaffenhofen an der Ilm agiert er ja nicht gerade im Zentrum der Hochfinanz. Deshalb fragte er an diesem Freitag die einflussreichen Frankfurter Banker, was denn dran sei an den Gerüchten über Lehman. Alles übertrieben, sagten die Banker. Gerling fuhr beruhigt zurück nach Pfaffenhofen an der Ilm. Am Montag war er schon wieder sehr früh unterwegs bei Kunden auf dem Land, seine Bank hat ja ein Einzugsgebiet so groß wie Luxemburg. Aber seine Mitarbeiterin erreichte ihn doch mit der Nachricht, Lehman sei pleite. Wie, pleite, fragte er.

Es dauerte nur kurz, bis die Nachricht aus der Hochfinanz in Pfaffenhofen an der Ilm nördlich von München einschlug und das Leben von Wilfried Gerling durcheinanderbrachte. In der Schalterhalle stand ein Ehepaar, das der Hallertauer Volksbank mehr vertraute als diesen internationalen Großinstituten. Es wollte 50.000 Euro einzahlen, bar, sie zogen das Geld aus der Jackentasche. Ein Mann wollte gleich 25.0000 Euro von einer anderen Bank vorbeibringen, bar, er misstraute auf einmal Überweisungen.

Andere Kunden kamen mit Zetteln an, auf die sie die Milliardensummen aus den Nachrichten aufgemalt hatten, die sollte ihnen Wilfried Gerling erklären. Ein Kunde verlangte für 20.000 Euro Goldbarren, sofort. Gerling konnte nicht liefern. Eine Rentnerin sagte: "Jetzt verreckt das Geld." Bei der alten Dame kamen die Bilder vom Krieg und der Not wieder hoch. Sie bedauerte wortreich, dass ihr Mann vor Jahren das Räucherhaus abgerissen hatte, in dem sich Vorräte für Hungerzeiten anlegen lassen.

Die große Angst vor dem Wohlstandsverlust

Wilfried Gerling merkte, wie viele Deutsche existentielle Angst spürten, ihr Wohlstand könnte plötzlich verschwinden. In all dem Chaos wirkte seine Volksbank, 27 Filialen, 300 Mitarbeiter, auf einmal vertrauenswürdig. Es kam doppelt so viel Geld rein wie sonst in einem Monat. Vorher hatte Wilfried Gerling ganz andere Probleme gehabt als Kunden mit Angst vor der Zukunft: Kunden mit Forderungen nach Rendite. Bis zu fünf Prozent Dividende zahlt die Volksbank auf die Genossenschaftsanteile an ihr. Ein Anteilseigner saß bei Gerling im Büro, verwies auf das 25-Prozent-Renditeziel von Josef Ackermann, sagte: "Das muss bei Euch doch auch möglich sein." Vor Lehman "war die Gier durchgängig, bei Bankern, Anlegern und Politikern", findet Wilfried Gerling, 51 Jahre alt, Mitglied im Wirtschaftsbeirat der Union.

Nach Lehman interessierten sich auf einmal mehr Kunden für das großformatige, unhandliche Buch, das sonst unbeachtet in der Schalterhalle herumlag. Es geht darin um die Philosophie der Genossenschaftsbanken, wonach unter anderem Rendite nicht im Vordergrund steht, schon gar nicht eine von 25 Prozent.

Geändert hat sich manch weiteres in den vergangenen Monaten. Immobilienkredite sind ein Renner. "Die Menschen ziehen sich in ihr Zuhause zurück, als Reaktion auf diese globale Krise", glaubt Gerling. Viele vermuteten, das Geld werde weniger wert, da stecken sie ihre Ersparnisse lieber in ein neues Bad. Ein Renner sind auch Sparbücher mit überschaubarem Zins, bei denen der Kunde erst spät an das Geld kommt - "die Menschen wollen wieder ein Sparbuch in der Hand haben, was Greifbares statt einfach Festgeld auf dem Konto".

Gerling beobachtet, dass das Vertrauen der Menschen zwölf Monate nach der Pleite nicht zurückgekehrt ist. Auch bei vielen Mittelständlern in der Hallertau nicht, die teils globale Geschäfte machen, einer liefert die Arbeitsschuhe für die Feuerwehr in New York. Die Firmen halten höhere Geldmittel, manche misstrauen Verträgen mit Konzernen. Ausgewirkt hat sich die Krise auch auf Wilfried Gerling, den Westfalen, der seit 2003 im tiefsten Bayern diese Bank führt. Gerling hat plötzlich Sympathien für eine Tobin-Steuer gegen die Spekulation an den Finanzmärkten.

Die Familienunternehmer und die Pleite-Bank

Die Familienunternehmer

Als Lehman damals pleiteging, ahnten sie nicht, wie stark es ihre Firma treffen würde. Warum sollten sie auch, es lief ja alles rund, die Widmaiers konnten sich nicht beklagen: Ihre Auftragsbücher waren voll, so voll, dass die Mitarbeiter abends auch mal länger dablieben. Lange Zeit sah es so aus, als ob die Finanzkrise dem Autozulieferer im Münchner Stadtteil Sendling nichts, aber auch gar nichts anhaben könnte. BMW, Daimler, Audi und VW produzierten immer mehr Autos, und die Widmaiers produzierten immer mehr Autoteile.

Schalter für Sitzheizungen zum Beispiel, oder Tongeber, die piepsen, wenn man beim Einparken zu nah an das nächste Auto kommt. Es hätte so weitergehen können, doch die Widmaiers erkannten bald, dass es auf keinen Fall so weitergehen würde. "Schon im Oktober 2008 waren die Lager voll, aber die Auftragsbücher leer", erinnert sich Eva Widmaier. Sie sitzt nun, ein Jahr später, an einem runden Glastisch im Büro ihres Vaters Horst, mit dem sie gemeinsam die Firma führt.

"So schlimm wie jetzt war es noch nie", sagt Horst, der Vater, 71 Jahre alt. "Aber wir müssen weitermachen. Aufgeben gilt nicht, das ist feige", sagt Eva, die Tochter, 38 Jahre alt. Wie sie da so nebeneinander sitzen, die Arme verschränkt, und über die letzten zwölf Monate nachdenken, wird ihnen bewusst, wie die Lehman-Pleite ihr Leben auf den Kopf gestellt hat.

Die Autokonzerne drosselten ihre Produktion, weil plötzlich niemand mehr neue Autos kaufen wollte. Über Jahre hinweg hatten sie viel zu viele Fahrzeuge hergestellt. Das rächte sich nun. In München-Sendling mussten Eva und Horst Widmaier im November 2008 ihre 40 Angestellten in die Kurzarbeit schicken, erst zwei Tage die Woche, dann, ab Dezember, drei Tage die Woche. Es gab einfach nicht mehr genug zu tun. Der Umsatz brach um mehr als ein Drittel ein.

Nicht die erste Krise

Es ist nicht die erste Krise, die die Firma durchlebt. Gegründet 1923, stellte die Familienfirma Morseschreiber für Siemens her. Irgendwann brauchte man keine Morseschreiber mehr. Also bemühten sich die Münchner um die Lizenz von der Bundespost, Telefone herstellen zu dürfen. Irgendwann brauchte man keine Telefone mehr, jedenfalls nicht die aus München-Sendling. "Wir konnten mit unseren Produkten einfach nichts mehr verdienen", sagt Horst Widmaier. Also blieb ihm nicht anderes übrig, als die Zweigfabrik in Niederbayern zu schließen, 200 Mitarbeiter zu entlassen.

"Es gab für unsere Firma immer etwas Neues, warum sollte es diesmal anders sein?", meint Horst Widmaier. Zurzeit bauen sie Desinfektionsautomaten zusammen, mit denen sich die Bürger vor der Schweinegrippe schützen sollen. Aber was, wenn das mit der Schweinegrippe doch nichts wird?

"Solange wir können, packen wir an", sagt Eva Widmaier, die Tochter. Ihre Augen glänzen, noch hat sie nicht aufgegeben. Von ihrer kleinen Hausbank bekommen die Widmaiers noch Kredite, schließlich haften sie für alles selbst. Wie auch immer, das Geschäft ist hart, verdammt hart. "Man hängt sich rein, tut alles, macht alles - aber honoriert wird es nicht", sagt Horst Widmaier.

So wie vor ein paar Monaten, als Eva Widmaier bis nachts um drei Uhr im Büro saß, alles tat, noch ein letztes Mal den Preis drückte, nur um diesen einen Auftrag zu ergattern, und dann am nächsten Tag erfuhr, dass nun doch nichts daraus wird. Den Auftrag bekam eine Fabrik in China - nicht weil es dort billiger wäre, sondern weil der Großkonzern Yuans loswerden wollte und keine Euros. Eva Widmaier weinte, als sie nachts im Auto nach Hause fuhr.

Vor der Lehman-Pleite, im Sommer 2008, hatte sie an eine Wand in der Firma mit grauer Farbe einen Spruch gemalt: "Fang nie an aufzuhören, hör nie auf anzufangen." "Ist von Cicero", sagt sie, "ich hätte nie gedacht, dass wir das so wörtlich nehmen müssen."

Die Geschichte des Seelsorgers

Der Seelsorger

Am 15. September vor einem Jahr verschwendete der Betriebsseelsorger Erwin Helmer keinen Gedanken an irgendeine Investmentbank irgendwo in Amerika, der aus irgendwelchen Gründen das Geld ausging. Nein, Erwin Helmer hatte echte Probleme. Er stand um zwölf Uhr mittags in Weilheim vor dem Telekom-Callcenter und demonstrierte, mit dem Herzen ganz bei den 75 Angestellten. Nach Kempten sollten die Arbeitsplätze verlegt werden, also 85 Kilometer entfernt. Noch heute ist bei Helmer die Empörung zu spüren. "Es traf vor allem Frauen und Schwerbehinderte. Das war nicht in Ordnung", sagt er und runzelt die Stirn. Das waren so die Gedanken, die sich der Seelsorger am 15. September vor einem Jahr machte.

Die nächsten Wochen plätscherten dahin. Helmer tat das, was er immer tat: sich für die Beschäftigten von Firmen einsetzen, bei denen es kriselt, bei denen die Stimmung schlecht ist. Oder für Mobbing-Opfer. Gut, die internationale Finanzkrise begann, ihn zu interessieren. Er legte einen Ordner an, sammelte Ausschnitte aus Tageszeitungen, Magazinen. Einfach so, interessehalber. Aber dass diese ferne Krise auch sein Leben verändern würde, in dem er seit 30 Jahren als Seelsorger für die katholische Kirche in Bayern arbeitet, nein, das dachte er nicht. Amerika, dachte er, Amerika ist weit weg.

Dass Amerika und die pleitegegangene Lehman-Bank nicht so weit weg sind, begann Erwin Helmer im Dezember zu verstehen. "Da kamen die ersten Horrormeldungen aus den Unternehmen hier vor Ort", erinnert sich der 56-Jährige mit dem freundlichen Gesicht, "von Auftragseinbrüchen um 50 oder sogar 90 Prozent war plötzlich die Rede." Am Anfang mochte er es gar nicht glauben. Vielleicht waren das Einzelfälle, vielleicht Unternehmen, die jetzt nur einen Grund suchte, um eigenes Missmanagement zu vertuschen? Er wusste es nicht.

Im Januar wusste er es dann. "Da ging es los. Zahlreiche Firmen meldeten Kurzarbeit an, und ein Unternehmen, ein Autozulieferer kündigte an, 300 bis 400 Leute zu entlassen." Ein Schock. Und viel Arbeit für Erwin Helmer. Nun erlebte er Betriebsversammlungen mit, in denen Leute in drei Gruppen eingeteilt wurden: Die, die bleiben durften. Die, die in Kurzarbeit geschickt wurden. Und die, die sich wohl bald nach einer neuen Stelle umsehen müssen. "300 Leute - und 100 davon wird gesagt: Es tut uns leid", erinnert sich Helmer, der Blick immer noch freundlich, aber auch sehr traurig. "Ich habe in den letzten Monaten viele Tränen gesehen."

Misstrauen innerhalb der Belegschaft

Er hat gesehen, wie es Betriebe in der Mitte zerrissen hat, zwischen denen, die bleiben durften und denen, die gehen mussten. Zwischen den billigen Leiharbeitern und den Festangestellten, die sich schweigend im Pausenraum gegenübersaßen, die Blicke feindlich. Er hat die Angst der Arbeitnehmer gespürt. Der Betriebsseelsorger kam selbst an seine Grenzen in den vergangenen Monaten. Immer hatte er anderen gesagt: Bring' Distanz zwischen Dich und die Probleme. Plötzlich brauchte er selbst Distanz, schlief schlecht. Nachts lag er wach und dachte an den ein oder anderen, mit dem er gesprochen hatte, um dessen Gesundheit er sich sorgte. Es waren keine schönen Monate für Erwin Helmer.

Bei den Kundgebungen zum 1. Mai sagte er schon seit Jahren immer wieder, dass etwas falsch laufe, forderte Grenzen für den Markt. "Der Markt alleine regelt gar nichts", sagt Helmer. Und das hat er auch in diesem Jahr am 1. Mai gesagt. Nur: Diesmal haben ihm die Menschen viel mehr zugehört als in den Jahren davor, den Jahren vor der Lehman-Pleite.

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