München:Abgefahren

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Im Westen der Stadt verwandelt ein Projektentwickler alte Hallen der Bahn in Büros, Werkstätten, Sport- und Spielplätze. Ganz einfach ist der Umbau der Gebäude nicht.

Von Andreas Remien

Grüne und gelbe Halme, dichte Gräser, dazwischen ein paar kleine Büsche. Die Wiese, die auf dem alten Bahnareal in München-Neuaubing ihr Terrain erobert, sieht aus wie eine normale Wiese. "Ist sie aber nicht", sagt Stefan Wiegand, Geschäftsführer der Aurelis Region Süd. Es ist ein sogenanntes Gleislager-Biotop, das über viele Jahre gewachsen ist, als die Deutsche Bahn hier noch Lokomotiven und Waggons repariert hat. Die besonderen Grünflächen sind nur eines der vielen Relikte der industriellen Nutzung, die der Grundstückseigentümer Aurelis konserviert hat. Im Westen Münchens wandelt das Unternehmen eines der ehemals größten Ausbesserungswerke der Bahn in das Gewerbequartier "Triebwerk" um.

Wenn Industriebauten neu genutzt werden, sprechen Experten von Transformations-Immobilien. Auf dem Gelände in Neuaubing hatten Mechaniker, Schlosser, Dreher, Elektriker und Polsterer bis 2001 vor allem Personen- und Güterwagen repariert. Die Geschichte des Ausbesserungswerks geht weit zurück: Schon die Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen hatten hier ihre Werkstätten. Für die Stadt München mit ihrer relativ hohen Dichte ist das Triebwerk-Gelände ungewöhnlich weitläufig: Die Grün-, Biotop- und Ausgleichsflächen machen einen beträchtlichen Teil des Areals aus. Ungewöhnlich dimensioniert sind auch die vielen alten Hallen und Werksgebäude mit ihren Stahlträgern und Backsteinfassaden, die zu großen Teilen unter Denkmalschutz stehen. "Die historischen Elemente machen den besonderen Charme des Areals aus", betont Wiegand. Für die Aurelis, die das Areal 2003 von der Bahn übernommen hat, ist das Ambiente ein besonderes Pfund, mit dem sie bei potenziellen Nutzern punkten kann. Denn Flächen mit industriekulturellem Charakter sind begehrt und rar - besonders in München. Für die Städte und ihre Bewohner haben die Umwandlungen den Vorteil, dass große Flächen nicht mehr abgeschlossen sind. "Wir haben das Areal der Öffentlichkeit geöffnet", sagt Wiegand.

Überall in Deutschland verwandeln Projektentwickler alte Fabriken und Werkstätten in moderne Gewerbestandorte. In Köln zum Beispiel hat die Beos AG aus dem früheren Carlswerk einen bunten Campus gemacht, auf dem kleine Handwerksbetriebe ebenso beheimatet sind wie ein großer Verlag, ein Zahnarzt oder Theaterbühnen. Auch in Berlin werden viele alte Gebäude neu genutzt, zum Beispiel Hallen der AEG oder frühere Brauereien. München dagegen hat kaum historische Industriestandorte. Zu den wenigen Großprojekten gehört neben dem Triebwerk die Umwandlung der alten Zigarettenfabrik in die "Werkstadt Sendling".

In der alten Werkhalle hat auch die Hüpfburg ausreichend Platz

Für die Projektentwickler ist die Transformation deutlich aufwendiger als ein Neubau. Das Triebwerk-Gelände musste die Aurelis zunächst an die Versorgungsnetze anschließen. So hatte die Bahn auf dem Gelände zum Beispiel ihren ganz eigenen Strom. Außerdem verlegte der Eigentümer ein Glasfasernetz, denn die neuen Mieter verlangen eher einen Breitband- als einen Gleisanschluss. "Das Areal war für uns terra incognita", sagt Wiegand, "wir müssen hier alles zeigen, was wir können". Denkmal- und Naturschutz, Wiesen- und Waldflächen, Abriss und Neubau, Altlasten und Renovierung, Vermarktung und Vermietung: Auf dem Bahnareal konzentrieren sich fast alle Herausforderungen, mit denen ein Projektentwickler zu tun haben kann. Dazu gehören auch ungewöhnliche Aufgaben, zum Beispiel die Herausnahme des gigantischen Kessels aus dem Kesselhaus oder die Renovierung des Uhrenturms auf dem Dach der alten Hauptverwaltung. Ausgerechnet bei der Bahn war nämlich die Zeit stehen geblieben. Also sanierten die Projektentwickler nicht nur die Backsteinfassade, Rundbogenfenster, das elegante Treppenhaus und die historischen Innenräume, sondern brachten auch die Uhr wieder zum Laufen. Heute ist in dem denkmalgeschützten Gebäude ein IT-Unternehmen beheimatet. Wo früher die Beamten der Bahn die Reparaturen koordinierten, steht heute ein Kicker in der Küche.

Was die Immobilienmakler als "Red Brick"-Charakter bezeichnen, zieht vor allem junge Unternehmen an. Ganz besonders niedrig ist das Durchschnittsalter im Wichtel-Werk, einem Indoor-Spielplatz, der in der ehemaligen Werkhalle 4 untergebracht ist. Wo früher Weichen gebaut wurden, sausen heute Eltern mit ihren Kindern die Wellenrutsche hinab oder versinken im Bällebad. In der gut sechs Meter hohen Halle hat auch die Hüpfburg genug Platz nach oben. "Von der ursprünglichen Bausubstanz haben wir so viel wie möglich erhalten", erklärt Wiegand. Der Ausbau erfolge gemeinsam mit dem Mieter. In die Spielplatz-Halle haben die Entwickler zum Beispiel eine Galerie eingezogen, wo die Eltern einen Kaffee trinken und von oben ihre Kinder beobachten können. "Das Gebäude ist zwar mehr als hundert Jahre alt", sagt Wiegand, "aber sehr flexibel".

So wie bei vielen ehemaligen Industrieflächen gibt es auch im Triebwerk keinen typischen Mieter. "Die Unternehmen kommen aus den unterschiedlichsten Branchen", sagt Wiegand. In der ehemaligen Werkhalle 51 hat der Möbelhersteller Tischfabrik 24, der Tische nach Kundenwünschen fertigt, einen Showroom eingerichtet. In die Werkhalle 5 ist eine Boulder-Welt eingezogen. Neben dem Umbau der alten, denkmalgeschützten Gebäude haben die Projektentwickler auch Neubauten errichtet. Die Deutsche Post DHL hat auf dem Areal bereits 2014 eine Paketzustellbasis eröffnet. Vor Kurzem hat das Unternehmen Digital Media Großbildtechnik ihre neue Halle bezogen, wo sie zum Beispiel Folien, Textilien, Holz, Metall oder Glas bedruckt. Geblieben ist auch die Deutsche Bahn, die allerdings nicht mehr Waggons, sondern elektronische Bauteile repariert. Drei weitere neue Gebäude sind derzeit geplant oder schon in Bau.

Platz ist auch noch in einigen der alten Gebäude, zum Beispiel in der gewaltigen Werkhalle 1, in der knapp 23 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche für Büros oder Lager genutzt werden können. Auch das Kesselhaus hat noch keinen neuen Nutzer. "Da können wir uns gut Loft-Büros und eine offene Bürolandschaft vorstellen", sagt Wiegand. Insgesamt ist etwa die Hälfte der Flächen noch verfügbar. Bei der Vermietung wolle man sich auch weiterhin nicht auf eine spezielle Branche oder Nutzung einengen, sagt Wiegand. Bei den Mietern der Gebäude verhält es sich nicht anders als bei der Flora und Fauna im Gleislager-Biotop: Es ist eine außergewöhnliche Mischung.

© SZ vom 17.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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