Möbelbranche:Zeitlos grün

Beim Design waren italienische Möbelhersteller schon immer ganz vorne mit dabei. Jetzt wollen viele Unternehmen auch möglichst umweltfreundlich produzieren. Zum Beispiel mit Bioplastik und Pilzen.

Von Ulrike Sauer

Stuhl "Folk" und Monica Pedrali

Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl – und dennoch etwas Besonderes: Der Möbelhersteller Pedrali aus Bergamo hat dieses Jahr ein leicht recycelbares Modell herausgebracht.

(Foto: Pedrali/OH)

T-Shirts mit Öko-Siegel, Gemüse aus der Region, fleischlose Burger, E-Mobilität, Plastikvermeidung - wegen der Klimakrise ändern viele Menschen ihren Konsum. Aber beim Möbelkauf? Da geht es eher konservativ zu. Die einen achten bei der Auswahl des neuen Sofas auf den Preis, die anderen suchen ein anspruchsvolles Design. Egal, ob man sich auf die Jagd nach Schnäppchen oder nach Coolness macht, im Einrichtungshaus spielt der schonende Umgang mit den Ressourcen des Planeten in der Regel kaum eine Rolle. Nun jedoch geraten alte Gewohnheiten ins Wanken. "Das Interesse an der Nachhaltigkeit galt früher als snobistisches Gehabe, heute bestimmt es die Entscheidungen der Millennials", sagt Claudio Feltrin, Chef des Verbandes der italienischen Möbelhersteller Assarredo.

Der Auftrag an die Designer: Seid Wegbereiter eines klimafreundlichen Konsums

Die Folge: Das neue Umweltbewusstsein der jungen Generation hat auch die Einrichtungsbranche aufgerüttelt. Das Umdenken ist allgegenwärtig. Auf der Design Week 2019, der weltweit führenden Möbelmesse in Mailand, drängte das Thema Nachhaltigkeit im vergangenen April in den Vordergrund. Den knapp 400 000 Besuchern des überlaufenen Kreativitäts-Festivals präsentierten sich viele der 2418 Aussteller in diesem Jahr am liebsten von einer grünen Seite. Die Erderwärmung droht die Träume von einer besseren Welt auszulöschen, die Gestalter reagieren darauf mit Innovationen. Die Turiner Tageszeitung La Stampa rief pünktlich zur Messe "die Kehrtwende des Designs" aus.

Die Antwort von Pedrali, ein Familienunternehmen aus der Nähe von Bergamo am Fuß der Alpen, heißt "Folk", eine neue Stuhlkollektion des Designer-Trios CMP. Schlicht, kompakt und traditionell - die "Folk"-Modelle aus Eschenholz evozieren mit ihren weichen, anheimelnden Formen die Ur-Idee eines Stuhls. "Osteria-Stil" sagt Monica Pedrali dazu. Der Unternehmerin ist Zeitlosigkeit wichtig. "Wir wollen Produkte, denen man nicht überdrüssig wird", sagt sie. Die Hersteller trügen die große Verantwortung für die Haltbarkeit und für den Stil der Einrichtungsstücke. Denn Möbel sollten Bestand haben und noch in den Wohnungen der Kinder benutzt werden. "Mode und Design wurden lange Zeit vermengt", kritisiert Pedrali, die zusammen mit ihrem Bruder das 1963 gegründete Unternehmen ihres Vaters führt. Alle drei Jahre eine neue Billig-Couch? Das sei völlig daneben.

In der "Folk"-Kollektion zum Beispiel verbindet sich Tradition mit technischen Neuerungen. Die sichtbarste ist ein farbiger Aluminiumring, der die Sitzfläche umrandet. Er signalisiert die einfache Trennung der verschiedenen Materialien zur separaten Wiederverwertung und die unkomplizierte Reparatur des Stuhls. Bei Pedrali stammen zudem alle verarbeiteten Hölzer aus zertifiziertem Anbau. In den Spritzanlagen kommen natürliche Wasserfarben auf Pflanzenbasis zum Einsatz. Sie seien teurer und wesentlich schwieriger anzuwenden, sagt die Unternehmerin. Dafür belasteten sie aber die Umwelt und die Gesundheit ihrer Mitarbeiter und Kunden nicht.

In Berlin berichtete Monica Pedrali Ende Mai in der italienischen Botschaft auf einer Konferenz zum Thema Design und Nachhaltigkeit über ihre Erfahrungen. Mehr als hundert Architekten und Gestalter aus Deutschland und Italien diskutierten darüber, wie das Industriedesign zur Erfüllung der europäischen Nachhaltigkeitsziele beitragen kann. Pedrali produziert ausschließlich auf eigenen Anlagen in ihren beiden norditalienischen Werken. Mehr als eine Millionen Stühle laufen dort im Jahr vom Band. Der Einsatz neuer Technologien erlaube es, Rohstoffe und Energie zu sparen. "Nachhaltigkeit entscheidet sich in der Fabrik", sagt sie.

Kunststoffmöbel

Der Kunststoffspezialist Kartell bringt im Oktober einen seiner Klassiker aus dem Jahr 1967 in kompostierbarer Bioplastik auf den Markt.

(Foto: Simona Pesarini/Kartell)

Vorbei sind die Zeiten, in denen die Designer sich unbehelligt an ihrem Mantra "form follows function" abarbeiten konnten. Ihr alter Leitgedanke kann heute einfach nicht mehr alles sein. Es drängen ethische Aspekte in den Mittelpunkt. Die verantwortungsvolle Nutzung der Ressourcen ist zum Imperativ geworden. Dabei kommt den Gestaltern eine Schlüsselrolle zu. Bis zu 80 Prozent der ökologischen und sozialen Auswirkungen eines Produkts während seines gesamten Lebenszyklus werden in der Entwurfsphase vorbestimmt.

In Mailand forcierte eine Ausstellung das Bemühen, Nachhaltigkeit ganz oben auf die Agenda zu setzen. Die Möbelmesse war flankiert von der Schau "Broken Nature: Design Takes on Human Survival", die noch bis 1. September auf der diesjährigen Design-Triennale zu sehen ist. Die Gastkuratorin Paola Antonelli, sonst am New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) für Architektur und Design verantwortlich, dokumentiert in einem eindrucksvollen Reigen von Vorher-nachher-Bildern die Zerstörung der Erde durch den Klimawandel. Sie lässt hundert Designprojekte folgen, die aufzeigen sollen, wie es auch anders gehen kann. Antonellis Auftrag an die Formgeber: denkt um, seid Wegbereiter eines klimafreundlichen Konsums.

Der Mailänder Plastik-Pionier Kartell hat gerade einen seiner Klassiker neu erfunden. Der Möbelhersteller, der verpöntes Plastik in den Neunzigerjahren weltweit salonfähig gemacht hat, bringt im Herbst das runde Containerschränkchen Componibili aus dem Jahr 1967 in einem innovativen Material auf den Markt. Die Designerin Anna Castelli Ferrieri läutete vor 50 Jahren mit ihrer bunten Kunststofftonne den Abschied vom formellen Wohnen ein. Das neuartige Modulelement Componibili wurde bekannt wie das Billy-Regal von Ikea und schaffte es in die New Yorker Sammlung des MoMA.

Die schicken Designerstücke aus Italien sind vollständig recycelbar. Polypropylen, das Markenzeichen von Kartell, hat heute aber einen schlechten Ruf, weil die Welt an der Flut von Wegwerf-Plastik und Verpackungsmüll zu ersticken droht. Kartell stellte auf der Messe nun eine nachhaltige Version des Componibili in Bioplastik vor. In Zusammenarbeit mit dem Unternehmen Bio-on, einem Hersteller von innovativen Werkstoffen aus Bologna, entwickelte man aus landwirtschaftlichen Abfällen eine Plastik-ähnliche Biomasse, aus der Kartell nun im gewöhnlichen Spritzguss- und Formverfahren seine bunten Containerelemente fertigt. Sie kommen in diesem Oktober als erstes Produkt des breit angelegten Projekts Kartell Bio in der Ausführung mit drei Fächern zum Preis von 187 Euro in die Läden.

Design wird die Welt nicht retten, in Mailand aber zeichnete sich bei vielen Herstellern eine Umkehr ab. LAGO aus der Nähe von Padua stellte auf einem Parcours quer durch die Stadt sein neues Konzept Never Stop Respecting Tomorrow vor, mit dem es sich dem Vorrang des Recyclings verschreibt. Visionnaire, der seit 60 Jahren in Bologna hochwertige Möbel tischlert, setzt Produktionsanlagen aus der Autoindustrie ein, die den Materialausschuss minimieren. Bei Cassina experimentiert man damit, die Lederbezüge von Möbeln des Designers Philippe Starck durch ein Material zu ersetzen, das aus Apfelresten gewonnen wird.

Alessandro Saviola ist so etwas wie Italiens Spanplattenkönig. Sein Unternehmen stellt Pressplatten für die Möbelindustrie her, die schon seit zwei Jahrzehnten zu hundert Prozent aus Holzabfällen entstehen. "Wir betrieben schon Kreislaufwirtschaft, als das noch gar nicht so hieß", sagt der Öko-Pionier aus der Nähe von Mantua. Mit 1500 Mitarbeitern recycelt das Unternehmen 1,2 Millionen Tonnen Holz im Jahr. "So retten wir 10 000 Bäume am Tag", sagt Saviola.

Beim Wohnen zeigt Italien seit Jahrzehnten, wo es langgeht. Die aufgeschlossenen italienischen Möbelhersteller ziehen mit ihrer Experimentierfreude Kreative aus aller Welt an. Besonders im Großraum Mailand haben Industrie, Kultur und Forschung eine Designqualität und eine Projektkultur hervorgebracht haben, um die man Italien im Ausland beneidet. Der Innovationsdrang der Branche ist auch eine Chance für die klimafreundliche Neubesinnung.

In Varese, im Norden Mailands, tüfteln vier junge Start-up-Unternehmer seit 2015 an einem revolutionären Werkstoff. Sie halten die Natur für den besten aller Architekten und erforschten darum eine ihrer ausgeklügeltsten Technologien: das Myzel, den fadenartigen Vegetationsapparat der Pilze. Durch die Applikation des Myzels auf Bioabfälle jeglicher Art entsteht ein widerstandsfähiges und vielseitiges Material. Im Gegensatz zu seinen synthetischen Verwandten ist es ökologisch abbaubar. Eine Art kompostierbares Polystyrol.

"Wirklich disruptive Innovationen schafft man nicht von heute auf morgen."

Der Herstellungsprozess ist völlig natürlich, ohne Hitzeeinwirkung oder Druckluft. Die Pilzsporen erledigen die Schwerstarbeit von allein. Sie treten als Umwandler und als natürliches Bindemittel der pflanzlichen Fasern in Aktion. Nebenbei beseitigen sie Traubenreste, Stroh, Kaffeesatz, Tomatenschalen und vieles mehr. Bislang ist Mogu - Pilz auf Chinesisch - nur mit einem Produkt auf dem Markt: mit organischen, schallisolierenden Paneelen. "2020 bringen wir den ersten Bodenbelag aus Mogu heraus", sagt Mit-Gründer Maurizio Montalti, der in Amsterdam als Konzeptdesigner und Kreativberater arbeitet.

Den Hype um die nachhaltige Möbelherstellung verfolgt Montalti mit einiger Skepsis. Es sei eine Menge in Bewegung gekommen. "Wirklich greifbare Lösungen sind unter den gefeierten Ankündigungen aber eher rar", sagt er. Zwischen dem wortreichen Gerede der großen Hersteller und echten Marktneuheiten klaffe noch ein tiefer Spalt.

"Wirklich disruptive Innovationen fordern viel Zeit und Geld, man schafft sie nicht von heute auf morgen", sagt Montalti. Den Markenherstellern fehle es an der Bereitschaft, in die Co-Entwicklung umweltfreundlicher Materialien zu investieren, um kostengünstige Massenproduktionen auf die Beine stellen zu können. "Ich würde gern das Gegenteil sagen, aber es mangelt noch am Willen, entschlossen auf den Wandel zu setzen", klagt der Start-up-Unternehmer.

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