Mikrokredite:Einer für alle, alle für einen

Geringe Beträge zu verleihen, ist für Banken oft unwirtschaftlich. In Dortmund vergibt eine Genossenschaft Kleinkredite an Selbständige - ein Modell für Deutschland

Caspar Dohmen

Die Nordstadt betritt man durch den Hintereingang des Dortmunder Hauptbahnhofes. Vorbei geht es an einem Multiplexkino und dem Arbeitsamt in die schachbrettartig angeordneten Straßen des im 19. Jahrhundert für Arbeiter gebauten Stadtviertels.

Mikrokredite: Vorbild Mohammed Yunus (Foto): In Dortmund vergibt eine Genossenschaft Kleinkredite an Selbständige.

Vorbild Mohammed Yunus (Foto): In Dortmund vergibt eine Genossenschaft Kleinkredite an Selbständige.

(Foto: Foto: AP)

Während der Industrialisierung kamen Polen, in den sechziger Jahren Türken, Italiener und Spanier. Sie fanden gute Jobs im Stahlwerk Hoesch, dem Ruhrhafen oder der Zeche Kaiserstuhl, welche das 3,7 Quadratkilometer große Stadtviertel begrenzen. Zeche und Stahlwerk sind lange schon dicht. Die Arbeitslosenquote liegt heute bei 25 Prozent. Jeder Dritte der 54.000 Nordstadtbewohner bekommt staatliche Unterstützung. Jeder Zweite hier hat seine Wurzeln im Ausland.

Wer hier arbeitet, ist oft selbständig. "Ihr Handwerk beherrschen sie meist", sagt Hubert Nagusch, der seit einigen Jahren als lokaler Wirtschaftsförderer in dem Viertel unterwegs ist. Dagegen hapere es an unternehmerischem Basiswissen und Geld. Da gerate manch einer wegen einer Investition von Tausend Euro in die Klemme. Deswegen haben sich 16 Leute am 27. März getroffen und die Nordhand eG gegründet.

Rat von der Genossenschaft

Da saß der Baustoffhändler neben dem Friseur, der Metallhandwerker neben dem Spielzeughändler. Sie wählten Nagusch zu ihrem Aufsichtsratschef. Stetig werden es mehr, die in der Genossenschaft Rat und Kredit suchen. Bis Ende des Jahres rechnet Nagusch mit hundert Mitgliedern. Jährlich sollen rund 120 Kredite vermittelt werden.

Mit der Gründung der Genossenschaft für Mikrokredite ist die Stadt Dortmund nach eigenen Angaben Vorreiter unter den mehr als 12.000 Kommunen in Deutschland. "Jeder Mensch, der nicht von Transfer-Einkommen lebt, ist ein Gewinn für die Stadt", begründet Udo Mager das Vorhaben. Für den Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung ist es selbstverständlich, dass sich eine Stadt um alle Geschäftsleute kümmern muss, wenn sie vorankommen wolle. "Wir können die Kleinstbetriebe nicht mit spitzen Fingern anfassen und hoffen, dass uns der große Wurf gelingt", sagt Mager.

Helfer in der Nordstadt

So hat er Nagusch und zwei weitere Mitarbeiter in die Nordstadt geschickt. Deren Arbeit finanzierte die EU. Das Viertel gehört zu den zwölf Problemvierteln europäischer Städte, die Geld aus dem Topf des Projekts Urban II erhalten. Seit drei Jahren arbeitet das dreiköpfige Team der Wirtschaftsförderung nun in einem Büro in der Holsteiner Straße 2, einer ehemals instandgesetzten Metzgerei.

Hier schaute Jürgen B. vorbei. Der Kfz-Mechaniker fragte vor drei Jahren, ob die Stadt ihm einen Kredit geben könne. Er repariere in einem Hinterhof Autos, nun habe er einen großen Auftrag. Er solle für einen Oldtimerfan einen Mercedes 280 SE, Baujahr 1969, auf Vordermann bringen. Die Ersatzteile habe er bei Daimler aufgestöbert, doch die kosteten 5000 Euro. Geld, das er nicht vorstrecken könne. Geld, das ihm keine Bank gebe. Der Mechaniker hatte einige Schufaeinträge, konnte sein Konto schon länger nur noch auf Guthabenbasis führen.

Lesen Sie im zweiten Teil, ob der Mechaniker Geld bekam und warum sich die Großbanken mit Kleinkrediten so schwer tun.

Einer für alle, alle für einen

"Ich konnte ihm nicht helfen", sagt Nagusch, kein Hilfsprogramm passte und eine Stadt dürfe selbst keinen Kredit vergeben. So verlor Jürgen B. den Auftrag. "Die Geschichte ließ mich nicht ruhen", sagt der 51-Jährige, der mitten in der Nordstadt am Borsigplatz aufgewachsen ist, dort wo der Fußballverein Borussia Dortmund seine Wurzeln hat. Heute könnte er den Mechaniker zur Nordhand schicken, die ganz nach dem alten Genossenschaftsprinzip handelt: "Einer für alle, alle für einen".

So wie es sich der englische Frühsozialist Robert Owen vorstellte, der als Gründer der modernen Genossenschaften gilt. Er gab den Impuls für den Aufbau einer Arbeitergenossenschaft im Jahr 1844. Ihm folgten im deutschsprachigen Raum Friedrich-Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch. Letzterer gründete 1850 den ersten Vorschussverein für Handwerker, den Vorläufer der heutigen Volksbanken. Doch die Nachfahren der Selbsthilfeeinrichtungen von damals taugen für viele Kleinstunternehmer von heute nicht mehr.

Keine Bank, sondern ein Vermittler

"Die Vergabe von Kleinkrediten ist für Banken unwirtschaftlich", sagt Wirtschaftsförderer Mager. Rund 300 Euro kostet die Prüfung eines Kleinkreditvertrags. Banken verdienen mehr Geld, wenn sie ihr Kapital anlegen, statt riskante Kleinkredite an Unternehmer auszugeben. Zudem müssen die Banken bei der Berechnung der Kredite neue Regeln beachten. Früher mussten die Banken für alle Kredite den gleichen Anteil Eigenkapital aufbringen, heute ist dieser je nach der Bonität des Kreditnehmers gestaffelt. Damit werden die Kredite für Kleinunternehmer, die häufig riskant sind, relativ teurer für Banken.

Da in anderen Industrieländern Kleinunternehmer schon länger Kreditprobleme haben, erlebten dort schon früher die Genossenschaften eine Renaissance. So vergibt die Londoner Taxifahrergenossenschaft Kredite an neue Kollegen, die damit ihre Lizenz finanzieren. Populär machte die Idee des Mikrokredits vor allem Muhammad Yunus, der Gründer der Grameen Bank in Bangladesch, die Mikrokredite vergibt. 2006 erhielt Yunus dafür den Friedensnobelpreis.

Die Nordhand selbst ist keine Bank, sondern eine Art Mittler. Wenn deren Vorstände Klaus Werner Kahl und Udo Bauer eine Kreditempfehlung aussprechen, dann erhalten die Genossen mit großer Wahrscheinlichkeit einen Bankkredit. Vorausgesetzt, sie haben zuvor für 50 Euro einen Genossenschaftsanteil gekauft, einige Zeit den monatlichen Mitgliedsbeitrag von fünf Euro sowie einen individuellen Sparbetrag gezahlt und an den monatlichen Treffen der Genossenschaft teilgenommen.

Jeder kennt jeden

Das hat mehrere Vorteile: Die Genossen lernen sich kennen, helfen sich gegenseitig und qualifizieren sich weiter. Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um ein Netzwerk. "Wir sind eine Wertegemeinschaft", sagt Ayse Özdemir, die eine Praxis für Physiotherapie in der Nordstadt betreibt. Der Vorstand der Genossenschaft wiederum sieht die künftigen, potentiellen Kreditnehmer. "So lernen wir jedes Mitglied genau kennen", sagt Kahl.

Sascha Wundes würde Kahl schon heute für einen Kredit empfehlen. Der 36-Jährige hat sich mit handgestrickten Fingerpuppen selbständig gemacht. Nach seinem Ethnologiestudium war er durch Südamerika gereist. In Peru kaufte er Bäuerinnen Fingerpuppen ab. Zu Hause gründete er ein Import-Geschäft. Mittlerweile verkauft Wundes ein Standardsortiment von 140 Püppchen und individuell angefertigte Puppen aus Peru und Bolivien. So können Firmen ihr Logo als Fingerpuppen herstellen lassen. "2007 war ich fast am Ende", sagt Wundes, "ich brauchte von heute auf morgen 4000 Euro." Damals kam er nur dank der Hilfe von Freunden und Verwandten aus der Bredouille.

Lesen Sie im dritten Teil, wer für die Kredite der Nordhand haftet und wie hoch die Rückzahlquote der Mikrokredite ist.

Einer für alle, alle für einen

Für das nächste Mal hat Wundes als Genosse vorgesorgt. Spätestens nach fünf Tagen würde die Nordhand eine Kreditentscheidung treffen, sagt Kahl, die bei Mikrokrediten in mehr als neun von zehn Fällen positiv ausfalle. Die Kreditvergabe durch die kooperierende GLS-Bank wäre dann nur noch eine Formsache. Beim ersten Mal hätte Wundes einen Kreditanspruch in Höhe des vierfachen Betrags seines angesparten Geldes, später dann den fünf- oder sechsfachen Betrag, höchstens jedoch 10.000 Euro.

Die GLS-Bankist als erste private Bank in Deutschland in die Mikrofinanzierung eingestiegen. Das Institut verfolgt ethische und ökologische Ziele. Deswegen finanzierte die Bank gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie sowie dem Ministerium für Arbeit und Soziales und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bereits vor Jahren mit zwei Millionen Euro die Gründung des Deutschen Mikrofonds.

Eine Art Dispokredit

Dieser haftet nun für 80 Prozent der Kreditsumme der Nordhand. Zudem hat das Bundesamt für Bauwesen und Raumplanung einen Liquiditätspuffer von 20.000 Euro für das Dortmunder Projekt bereitgestellt. Das DMI fördert bereits ähnliche Projekte, unter anderem in Berlin, Offenbach und Hamburg.

Die Genossenschaft in Dortmund soll sich in drei Jahren selbst tragen. Ihre Finanzierung wird auch durch die Kreditzinsen von zehn Prozent erfolgen. "Das klingt hoch", sagt Kahl. Doch diese Kredite hätten den Charakter eines Dispokredites. Damit sollten die Geschäftsleute nur kurzfristige Engpässe überbrücken. Ein Mikrokredit ist in den Augen des erfahrenen Bankers ungeeignet, um die Folgen von generellen Fehlentwicklungen zu kaschieren. Kahl hat als Sanierungsexperte der Genossenschaftsbanken gearbeitet, beispielsweise nach der Pleite des Baulöwen Jürgen Schneider viele Handwerker betreut.

Rückzahlung: Kein Problem

Deswegen gibt es bei der Nordhand auch eine Beratung, dafür zuständig ist der Vorstandskollege Bauer. "Erst müssen die Leckstellen bei einem Unternehmen beseitigt sein, bevor neues Geld in ein solches Unternehmen fließen sollte. Sonst wird aus einem Unternehmen in Schwierigkeiten schnell ein ehemaliges Unternehmen mit Schulden", sagt Bauer. Der Unternehmensberater ist dagegen, Mikrokredite durch staatliche Banken großzügig verteilen zu lassen. Jüngst hat die Berliner IBB ein Programm gestartet, die NRW Bank steht in den Startlöchern. Hohe Ausfallraten seien vorprogrammiert, sagt Bauer: "Irgendwann verlieren dann die Institute die Lust. Dann stehen die Unternehmen mit hohen Schulden da."

Dieses Problem scheint es bei den Mikrokrediten nicht zu geben. Vergangenes Jahr zahlten weniger als fünf von hundert Menschen ihren Mikrokredit in Deutschland nicht zurück. Dafür entstanden Jobs oder wurden gesichert, ob bei einem Unternehmen für historische Stadtführungen in Hamburg oder einem Vertrieb für seltene Musikinstrumente. Viele der neuen Selbständigen waren arbeitslos, sind Frauen oder Migranten. "Die Ausfallrate bei Mikrokrediten ist überraschend gering", sagt Falk Ziens, Aufsichtsratschef des DMI.

Viele Kleinunternehmer haben allerdings große Lücken beim betriebswirtschaftlichen Wissen, so wie der Elektriker Matthias Nagorski, der als Selbständiger Aufzüge wartet. "Ich habe früher gerade einmal kostendeckend gearbeitet. Wenn es bei der Fahrt zum Kunden eine Umleitung gab, dann ging meine Rechnung wegen höherer Fahrtkosten schon nicht mehr auf", sagt der 32-Jährige, bei dem sich irgendwann die Forderungen türmten. Bauer beriet ihn - jetzt hat er sich bereits fast aus dem Schuldendschungel befreit.

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