Markus Grabka:"Ärzte heiraten keine Krankenschwestern mehr"

Armutsforscher Markus Grabka über die extreme Spaltung der Gesellschaft und warum Reiche immer reicher werden.

A. Hagelüken und H. Wilhelm

Wenn jemand abschätzen kann, was die Deutschen im Geldbeutel haben, dann Markus Grabka, 41. Der Soziologe vom Wirtschaftsinstitut DIW arbeitet für die größte Studie über Einkommen und Vermögen in Deutschland (Soep). Er nennt sich Verteilungsforscher, aber das versteht ja keiner. Wer Grabka in seinem Büro in Berlin-Mitte besucht, hört mehr als zwei Stunden lang, warum Deutschland in Arm und Reich auseinanderfällt - und was das bei der Eheanbahnung bedeutet.

Markus Grabka, Foto: Regina Schmeken

"Nächstes Jahr nimmt die Armut voraussichtlich zu": Markus Grabka sieht durch die Wirtschaftskrise große Probleme auf Deutschland zukommen.

(Foto: Foto: Regina Schmeken)

SZ: Herr Grabka, reden wir über Geld. Die Deutschen reden ja ungern darüber. Und dann kommen Sie und stellen ihnen lauter Fragen. Warum interessiert Sie das?

Markus Grabka: Da ist sicher ein Gutteil Voyeurismus dabei. Die Deutschen reden zwar nicht gerne über Geld, aber seien wir ehrlich: Eigentlich interessiert uns brennend, was die Nachbarn verdienen.

SZ: Sie schauen den Deutschen ins Portemonnaie. Was sehen Sie?

Grabka: Deutschland driftet auseinander. Lange Jahre blieb die Verteilung der Einkommen in Deutschland ziemlich gleich. Ölkrise, Mauerfall, das änderte vergleichsweise wenig. Seit der Jahrtausendwende ist das anders. Wenigverdiener verloren nochmal 15 Prozent ihres Einkommens, während die Gutverdiener ihren Einkommensvorteil ausbauten.

SZ: Die Armen wurden ärmer und die Reichen reicher. Warum?

Grabka: Das hat verschiedene Ursachen. Denken wir etwa an die schrumpfende Zahl von Familien. Eine Familie kann zum Beispiel fixe Kosten teilen. So benötigt man in einer Wohnung nur eine Küche und ein Bad. Singles dagegen geben pro Kopf mehr für Miete aus als eine Familie. Der Trend zu Einpersonenhaushalten lässt das Land ungleicher werden.

SZ: Die Deutschen sollten zusammenziehen und heiraten?

Grabka: Nein, das ist eine rein private Entscheidung. Aber interessanterweise hat auch das Heiratsverhalten einen Einfluss auf die Ungleichheit. Vereinfacht gesagt: Früher hat auch mal ein Arzt eine Krankenschwester geheiratet. Heute heiratet der Arzt eine Ärztin. Die Schichten bleiben stärker unter sich als früher.

SZ: Die Krankenschwester heiratet einen Altenpfleger ...

Grabka: ... und so leben gutverdienende Ärzte zusammen und wenig verdienende Pfleger. Die Gesellschaft spaltet sich auch beim Heiraten.

SZ: Erstaunlich. Ist das der wahre Grund, warum das Land ungleicher wird?

Grabka: Nein, der zentrale Punkt ist die Erosion der normalen Arbeitsverhältnisse. In den achtziger und neunziger Jahren war der Standard ein Vollzeitjob, bei dem der Arbeitgeber den Beschäftigten voll sozial absichert. Bis zum Jahr 2000 waren dies knapp zwei Drittel aller Erwerbstätigen. Inzwischen ist das anders. Ich bin erschrocken über die Geschwindigkeit dieser Veränderung.

SZ: Weil ...

Grabka: ... der Anteil zwischen 2000 und 2006 von zwei Drittel auf 55 Prozent zurückging. In so kurzer Zeit! Die Zahl der Mini- und Teilzeitjobber, Zeitarbeiter oder Scheinselbständigen stieg dagegen um mehr als drei Millionen Menschen. Und die haben meist einen weniger sicheren und eher schlechter bezahlten Job als vorher. Dazu kommt noch ...

SZ: ... was denn noch?

Grabka: Auch viele mit einem Vollzeitjob verdienen weniger. Der Anteil derer, die weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens von derzeit knapp 14 Euro brutto pro Stunde verdienen, stieg rasant, seit Mitte der neunziger Jahre von 15 auf 23 Prozent. Damit haben wir längst amerikanische Verhältnisse.

Schicksalsjahr 2000 - Abstieg statt Aufbruch

SZ: Was verdienen Sie?

Grabka: BAT 1b.

SZ: Übersetzen Sie, bitte.

Grabka: Etwa 4200 Euro brutto.

SZ: Wir dachten, bei den Wirtschaftsinstituten verdienen die Leute mehr und haben eine unkündbare Lebensstellung.

Grabka: Das hat sich bei allen Instituten geändert. Es gibt viel mehr Zeitverträge.

SZ: Lassen Sie uns raten: Seit dem Jahr 2000?

Grabka: Ja.

SZ: Das Schicksalsjahr 2000. Alle dachten an Millenium, an Aufbruch. Und dabei war's ...

Grabka: ... für viele ein Abstieg. Nach Abzug der Inflation hat ein westdeutscher Arbeitnehmer heute nicht mehr zur Verfügung als in den achtziger Jahren.

SZ: Gibt es ein Industrieland, das die Ungleichheit reduzierte?

Grabka: Zum Beispiel Großbritannien unter Tony Blair. Sein Verdienst ist, dass sich vor allem die Kinderarmut drastisch verringerte. In anderen, früher sehr egalitären Gesellschaften wie Schweden oder Finnland dagegen gibt es den gleichen Trend zur Ungleichheit wie bei uns.

SZ: Hat die deutsche Politik die Spaltung verringert oder vergrößert?

Grabka: Eher vergrößert. Bei den letzten Steuerreformen wurde zwar das Existenzminimum erhöht, das Einkommen, das man nicht versteuern muss. Gleichzeitig sank aber mehrfach der Spitzensatz. Im Ergebnis profitieren obere Einkommensbezieher stärker. Mit der Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge wird dieser Trend fortgesetzt, weil Gutverdiener vorher Zinserträge mit dem viel höheren persönlichen Spitzensatz versteuern mussten. Außerdem trägt zur Spaltung bei, dass Arbeitslose durch Hartz IV eindeutig weniger bekommen als früher.

SZ: Also gehen Sie jetzt auf die Straße und demonstrieren gegen Hartz IV?

Grabka: Nein. Die Politik müsste eher andere Maßnahmen ergreifen, um die Spaltung zu verhindern. Die Arbeitsmarktreformen für sich waren nötig. Sie haben mehr Beschäftigung geschaffen. Bei den 2007er Zahlen sehen wir erstmals einen positiven Trend zu weniger Armut. Die Quote fiel von 18 auf 16,5 Prozent.

SZ: Armut heißt?

Grabka: 2007 weniger als 880 Euro netto für einen Single.

SZ: Die Wirtschaftskrise...

Grabka: ....wird den positiven Trend umkehren. Nächstes Jahr nimmt die Armut voraussichtlich zu. Vermutlich sogar auf höhere Niveaus als früher. In den achtziger und neunziger Jahren betrug die Armutsquote zehn bis zwölf Prozent.

"Die Ungleichheit überrascht mich immer aufs Neue"

SZ: Was sollte die Politik tun?

Grabka: Zunächst einmal: Wer ist arm? Vor allem Migranten, Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende. Mehr Geld für Bildung und Kinderbetreuung würde kurz- wie langfristig vielen helfen. Stattdessen sinkt der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt.

SZ: Die Staatsausgaben sind schon hoch.

Grabka: Aber sie werden zum Teil falsch verwendet. Die Armutspolitik ist in die Vergangenheit gerichtet. Jedes Jahr fließen über 62 Milliarden Euro aus dem Bundesetat in die Rentenversicherung, mit dem Ergebnis, dass wir faktisch keine Altersarmut haben. Dabei ist Kinderarmut das zentrale Problem.

SZ: Wir brauchen also nicht mehr Umverteilung?

Grabka: Nein. Umverteilung kuriert vor allem die Symptome, aber nicht die Ursachen. In Deutschland haben wir vor allem ein Problem der Chancengleichheit. So hängt zum Beispiel die Karriere maßgeblich von der sozialen Herkunft ab. Und ohne Bildung verfestigt sich die Armut über mehrere Generationen.

SZ: Geben denn andere Länder ihre Staatsausgaben effizienter aus?

Grabka: Die OECD sagt, Großbritannien zum Beispiel.

SZ: Kriegen Sie hier im linken Berlin nicht Ärger, wenn Sie ständig diese neoliberalen Briten loben?

Grabka: Frankreich verteilt die Transfers auch effizienter.

SZ: Na, das ist politisch korrekter. Manipulieren bestimmte Parteien mehr mit ihren Daten als andere? Die SPD mehr als die CDU, oder umgekehrt?

Grabka: Also manipulieren möchte ich nicht sagen. Aber Studien, die kein politisch genehmes Ergebnis zeigen, verschwinden öfter in der Schublade.

SZ: Zum Beispiel?

Grabka: (lacht) Keine Details! Es passiert mir öfter. Die Parteien unterscheiden sich da nicht.

SZ: Spenden Sie einen Teil Ihres Einkommens an arme Menschen?

Grabka: Ehrlich gesagt nein. Ich spende lieber an Tierschützer. Tiere tun mir leid, die können sich nicht wehren.

SZ: Warum nicht an arme Menschen?

Grabka: Es ist das Suppenküchen-Phänomen. Es stellt sich die Frage, ob sich arme Menschen durch das Angebot von Suppenküchen verstärkt in diesem Zustand einrichten und so weniger versuchen, aus eigener Kraft etwas zu ändern. Ob also nur an Symptomen kuriert wird und nicht an den Ursachen.

SZ: Wie das Einkommen ist auch das Vermögen in Deutschland inzwischen ungleicher verteilt. Was überrascht Sie an den Daten?

Grabka: Die Ungleichheit überrascht mich immer aufs Neue. 2007 hatten die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung, also Leute, die mindestens 220.000 Euro haben, einen Anteil am gesamten Vermögen von mehr als 60 Prozent. Die reichsten ein Prozent, die mindestens 800.000 Euro haben, besaßen sogar fast ein Viertel des ganzen Vermögens in Deutschland! Am anderen Ende hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung kaum etwas oder ist sogar verschuldet.

SZ: Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Grabka: Männer haben ein größeres Vermögen. Überraschend ist, dass vor allem verheiratete Männer deutlich mehr Vermögen haben als verheiratete Frauen.

SZ: Man denkt, die legen ihr Geld zusammen, wenn sie heiraten.

Grabka: Ist aber nicht so. Zwar sagen vier von fünf Paaren, dass sie ihr Einkommen gemeinsam verwalten. Beim Vermögen machen sie aber Unterschiede. So kommen Männer im Schnitt auf 110.000 Euro, Frauen nur auf knapp 70.000.

SZ: Macht Geld glücklich?

Grabka: Tendenziell sind Wohlhabende etwas zufriedener. Ihr Geld gibt ihnen mehr Autonomie, über ihr Leben zu entscheiden. Aber das wird dadurch konterkariert, dass sie eine wesentlich stärkere berufliche Belastung haben. Aus unseren Daten geht nicht eindeutig hervor, ob diese Menschen wirklich glücklicher sind. Was man weiß: Es gibt zwei zentrale Lebensereignisse, die sich sehr nachteilig auf das Glück auswirken: Arbeitslosigkeit und Scheidung beziehungsweise der Tod eines Ehepartners.

SZ: Sicher weiß man also nur, was unglücklich macht?

Grabka: Ja. Man erkennt klar, dass die Lebenszufriedenheit in beiden Fällen massiv abnimmt. Das Interessante ist, dass die Betroffenen selbst nach Jahren, wenn sie einen neuen Job oder Partner finden, nicht mehr unbedingt genauso zufrieden werden wie vorher. Das ist ein wirklich lang anhaltender Effekt.

SZ: Gibt es keine Dinge, die einen sicher glücklich machen? Kinder etwa?

Grabka: Kinder eher nicht. Der positive Effekt ist sehr kurzfristig, weil schlicht und einfach die Belastung so groß ist, die mit einem Neugeborenen verbunden ist. Das ist ein anderes Leben, aber es macht die Menschen nicht messbar zufriedener.

SZ: Na, dann wundern wir uns nicht, wenn die Deutschen Singles bleiben.

Grabka: Ich wundere mich auch nicht.

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