Lehman nach dem Kollaps:Bloß weg hier!

Lautstarke Proteste, fliehende Angestellte und sensationsgierige Journalisten - vor dem Konzernsitz der Pleitebank Lehman Brothers tobt die Menge.

Moritz Koch, New York

Durch die Drehtür in der Glasfassade dringt die Fassungslosigkeit auf die Straßen New Yorks, notdürftig verborgen hinter versteinerten Mienen und Designersonnenbrillen. Die Gedanken der jungen Angestellten der Pleitebank Lehman Brothers, die hier mit Rucksäcken und Kartons beladen ins Freie treten, sind für jeden leicht zu lesen. Bloß weg!

Lehman nach dem Kollaps: Hier ist eine Menge los: Vor der Lehman-Zentrale in New York treffen Protestierende und Journalisten auf Mitarbeiter und fliehende Angestellte.

Hier ist eine Menge los: Vor der Lehman-Zentrale in New York treffen Protestierende und Journalisten auf Mitarbeiter und fliehende Angestellte.

(Foto: Foto: Reuters)

Mit gesenktem Blick versuchen sie, die Mauer der Mikrophone und Diktiergeräte zu durchbrechen, die sich ihnen in den Weg stellt. Fragen prasseln auf die Flüchtigen herein: "Wie fühlen Sie sich?", "Wie ist die Stimmung unter den Kollegen?", "Haben Sie schon Ihr Büro geräumt?". Reporter nehmen im Gedränge von Midtown Manhattan die Verfolgung auf.

Keine Hilfe vom Staatenbund

"Wo wart ihr denn, als es bei uns den Bach runterging?", ruft Paul Doonan einem Kameramann zu. Der Rentner hat sich weit über einen Absperrungszaun gelehnt. "Damals, 1991, als Pan Am Pleite ging. Das hat keinen interessiert, nicht die Presse, nicht die Zentralbank und nicht die Regierung. 22.000 Jobs weg, auf einen Schlag, einfach so." Vielleicht würde Doonan weniger verbittert klingen, wenn er wüsste, dass auch dieses Mal keiner den feinen Bankiers zur Hilfe kam.

Die amerikanische Notenbank (Fed) und die Regierung haben Lehman bewusst kollabieren lassen. Nachdem sie mit Steuermilliarden schon die Investmentbank Bear Stearns und die Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac vor dem Untergang bewahrt hatten, wollten Fed-Chef Ben Bernanke und Finanzminister Henry Paulson ein Zeichen setzen. Die Wall Street kann nicht mehr blind auf staatliche Nothilfe vertrauen.

Die 25.000 Lehman-Mitarbeiter sind die Ersten, die unter dieser Lektion aus Washington leiden. Ihr Arbeitgeber ging am frühen Montagmorgen bankrott. Niemand weiß, wie es für die Angestellen weitergeht. Einige Konzernteile, wie die profitable Vermögensverwaltung, werden wahrscheinlich einen Käufer finden, andere werden wohl aufgelöst.

Abschied in Firmenfarben

In der New Yorker Zentrale jedenfalls packen schon Hunderte Mitarbeiter ihre Sachen. So wie Dave. Er kommt durch die Drehtür mit einer grünen Tragetasche um die Schulter und einer grünen Seidenkrawatte um den Hals. Ein Abschied in Firmenfarben. Eilig zieht er an den Kameras vorbei und weicht den Mikrophonen aus.

Plötzlich bleibt er stehen. Vor ihm steht ein Gemälde auf dem Bürgersteg. Ein Portrait von Richard Fuld, genannt Dick, dem Lehman-Patriarchen, der 2007, als er mit Investments in den Immobilienmarkt bereits die Weichen für das Ende der Bank gestellt hatte, ein Gehalt von 41 Millionen Dollar einstrich.

"Hey, wie heißt du? Dave? Komm, Dave, komm her und schreib dir den Ärger von der Seele." Ein grauhaariger Mann im Polohemd hält Dave einige Stifte hin. "Du arbeitest bei Lehman? Dann nimm den Grünen." Der Mann ist ein Künstler aus Brooklyn, Geofrey Raymond heißt er und sagt, dass die "meist gehassten Wall-Street-Chefs" seine Lieblingsmotive seien. Seinen Stil hat er nach seinen künstlerischen Vorbildern "Jackson-Pollock-Chuck-Close-Fusion" getauft. Fulds fast fotorealistisches Portrait fügt sich aus unzähligen bunten Farbklecksen zusammen. Am Bildrand hat Raymond Platz für Häme gelassen.

Die Nerven liegen blank

Dave greift den Stift und schreibt: "Nice trade, Dick." Dutzende Kollegen haben sich vor ihm auf dem Bild verewigt. Mit ihrer Enttäuschung: "What a day, what a year, what a firm." Mit Wut: "Fed=Bad Government." Und mit ihrem Sarkasmus: "My kids will be grateful, Richard" - meine Kinder werden es dir danken.

Eine Filmcrew versucht die Szene einzufangen, da verliert Dave die Fassung. "Nehmt die verfluchte Kamera aus meinen Gesicht", brüllt er. "Nehmt sie weg oder ich schmeiß sie auf die Straße." Nicht nur an der Börse liegen die Nerven blank an diesem Schwarzen Montag in New York.

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