Lehman Brothers:Kein Engel für Dick

So mächtig - und doch seltsam schwach: Lehman-Chef Richard "Dick" Fuld war in den letzten Tagen seiner Bank fast hilflos - viele ließen ihn einfach abblitzen. Ein Protokoll.

Hans von der Hagen

Es war die schlimmste Pleite der Wirtschaftsgeschichte: der Lehman-Bankrott. Der Zusammenbruch von General Motors nimmt sich im Vergleich zu Lehman lächerlich aus: Die Bilanzsumme von General Motors machte mit gut 90 Milliarden Dollar gerade mal ein Siebtel der von Lehman aus. Bankbilanzen sind zwar immer mächtiger als Industriebilanzen, gleichwohl signalisiert die Zahl, welche Wucht der Lehman-Bankrott hatte.

Die Forderungen gegen Lehman türmen sich auf die gewaltige Summe von 600 Milliarden Dollar. Es steht zu viel Geld auf dem Spiel als dass man da noch sagen könnte: Passiert halt.

Schon früher pleite gewesen

Darum wurde zu diesem Fall eine Untersuchungsbericht angefertigt, der in der Wirtschaftsgeschichte einzigartig sein dürfte. Auf insgesamt mehr als 4000 Seiten arbeitet Anton "Tony" Valukas, Chef der Anwaltskanzlei Jenner & Block, im Auftrag des zuständigen Gerichts nach, wie es zu so einer Pleite kommen konnte. Mitunter liest sich das Werk wie ein Drehbuch für einen Wirtschaftsthriller.

Schon bei der Pleite von Bear Stearns im März 2008 war in allen relevanten Stellen der US-Regierung klar, dass Lehman als nächste Bank kollabieren könnte: Das Geschäftsmodell war ähnlich: Hohe Risiken, geringes Eigenkapital und viel Geld steckte in Papieren, die keiner mehr kaufen wollte.

Im Nachhinein stellte der Chef der US-Börsenaufsicht Christopher Cox fest, dass womöglich alles anders gekommen wäre, wenn die US-Regierung offen signalisiert hätte, dass sie für Lehman nicht zahlen wolle. Das hat sie aber nicht getan.

Das ist umso verwunderlicher, da der New Yorker Ableger der Federal Reserve (FRBNY) zumindest seit März 2008 bestens informiert war, was sich Tag für Tag bei Lehman tat und der damalige Chef der FRBNY - und heutige Finanzminister - Timothy F. Geithner, schon seit August 2007 den Verdacht hegte, dass Lehman in Schwierigkeiten steckte.

Nach der Bear-Stearns-Pleite nahm er nicht nur an einigen Lehman-Sitzungen teil, sondern er telefonierte auch wiederholt mit Fuld. Er machte ihm deutlich, dass die "Regierung das Problem nicht lösen" könne - doch Fuld wollte oder konnte den Ernst der Lage nicht erkennen.

Viele wollten die bedrohliche Lage schon früh identifiziert haben - geholfen haben sie nicht. Notenbank-Chef Ben S. Bernanke und Geithner waren sich beispielsweise einig, dass sie weder "direkt noch indirekt" für Lehman verantwortlich seien. Das sei die Aufgabe der Börsenaufsicht SEC.

Schon am 8. September sei Lehman wohl pleite gewesen, sagte Bernanke später dem Ermittler. Da sei es aber auch nicht mehr verantwortlich gewesen, Kredit zu geben. US-Finanzminister Henry Paulson argumentierte ähnlich: Die Regierung habe keine Berechtigung gehabt, Lehman beizustehen.

Bei Bear Stearns und AIG hatte Washington solche Bedenken freilich nicht. Doch Paulson erkennt da wichtige Unterschiede: Im Falle von Bear Stearns habe die Fed mit JP Morgan einen Käufer für die marode Investmentbank präsentiert, bei AIG habe es hingegen noch ausreichend Werte gegeben, die der Regierung als Sicherheiten dienen konnten. Lehman habe weder das eine noch das andere zu bieten gehabt.

"Frustriert und unzufrieden"

Fuld war aber auch kein einfacher Gesprächspartner: Bernanke bemerkte, dass Paulson "frustriert" und "unzufrieden" mit Fulds "Trägheit" hinsichtlich der Zukunft von Lehman war. Alle Versuche, Fuld zu aggressiveren Handeln zu bewegen, scheiterten.

Paulson bekannte wiederum, dass er selten jemand getroffen habe, der so optimistisch sei wie Fuld. Der aber auch nur das gehört habe, was er hören wolle. In seinem unerschütterlichen Optimismus nahm Fuld auch immer an, dass die Regierung Lehman nicht fallenlassen werde. Doch nie war ihm das versprochen worden.

Ob zwischen dem früheren Goldman-Chef Paulson und Fuld, der eine tiefe Abneigung gegen die Bank Goldman Sachs hatte, Einvernehmen oder Feindschaft herrschte, ist unklar. Der Bericht gibt jedenfalls keinen Hinweis darauf.

Offensichtlich ist aber, dass alle Beteiligten die Wirkung einer Lehman-Pleite auf die Finanzindustrie dramatisch unterschätzten. Aufschlussreich ist da vor allem eine Äußerung von Bernanke: Es habe da "eine ganze Reihe von Ansichten" gegeben. Wenn der Effekt auf einer Skala von null bis 100 Punkten hätte angegeben werden müssen, dann hätten einige mit "kleineren Störungen" gerechnet - gerade nur im Bereich bis 15 Punkte.

Bernanke selbst kalkulierte im Bereich 90 bis 95 Punkten. Tatsächlich aber seien es "vielleicht 140" gewesen, stellt er im Nachhinein fest. "Es war schlimmer, als fast jeder befürchtet hatte."

In diesen ersten Septemberwochen lief also etwas gewaltig schief: Die Beteiligten unterlagen einer massiven Fehleinschätzung: Doch wer lockte, wer blockte, wer wusste wann was? Die letzten Tage der Bank - so, wie sie im Protokoll des Untersuchungsberichts dargestellt werden.

Donnerstag, 4. September 2008

Donnerstag, 4. September 2008

JP Morgan ist der größte Geldgeber Lehmans. Vertreter beider Banken treffen sich an diesem Donnerstag, um die erwarteten Ergebnisse Lehmans für das dritte Quartal zu diskutieren. Die offiziellen Zahlen sollen erst zwei Wochen später präsentiert werden. Was die Beteiligten noch nicht wissen: Lehman wird nie wieder regulär die Ergebnisse präsentieren.

Vor allem aber geht es an diesem Tag um "SpinCo". Das Wort ist die Chiffre für alles, was schiefgelaufen ist bei Lehman. SpinCo soll die Bad Bank von Lehman werden. Könnte das die Rettung sein? Lehman will Anlagen im Volumen von 32 Milliarden Dollar auslagern. Nur - wer soll das dafür notwendige Geld geben?

Am gleichen Tag ein kurios anmutender Termin: Lehman stellt auch dem Chef der MidAmerican Energy Holdings, David L. Sokol, die SpinCo-Pläne vor. Mit Hintergedanken: MidAmerican gehört mehrheitlich Berkshire Hathaway, der Beteiligungsgesellschaft von Warren Buffett. Dummerweise hatte Lehman es schon einmal vermasselt, Buffett mit ins Boot zu holen, im März 2008. Vielleicht ließe es sich über Sokol noch mal an Buffett herankommen?

Lieber Bären jagen

Ein Engagement von Buffett bedeutet vielen Investoren mehr als jedes Gütesiegel einer Ratingagentur. Bei den Gesprächen im Frühjahr war Buffett war plötzlich misstrauisch geworden. Er wollte sich nur dann bei Lehman engagieren, wenn die Führungsspitze der Bank auch Geld in die Hand nahm und eigene Aktien kaufte. Doch das wollten die Lehman-Manager nicht. Als Fuld dann auch noch über die Leerverkäufer an der Börse herzog - die mit ihren Geschäften hässliche Kursstürze verursachen können - erkannte Buffet darin nur die Unfähigkeit von Fuld, sich die Probleme einzugestehen. Pikanterweise war es im Frühjahr allerdings noch Lehman, die den Deal zuerst absagten. Ihnen war Buffetts ursprüngliches Angebot zu teuer.

Jetzt im September ging es nur noch ums nackte Überleben. Buffett soll von Sokol sogar noch in groben Zügen informiert worden sein. Die Strategie der Lehmänner schien aufzugehen. Doch Buffett wusste: SpinCo würde die Probleme nicht lösen.

Später in der Woche wurde Sokol nochmals angerufen und gefragt: "Fällt dir noch irgendetwas ein, wie wir uns retten könnten?" Doch Sokol hatte keine Idee mehr. Er war sowieso gerade auf Bärenjagd in Alaska.

Die Lehman-Aktie verliert gut zehn Prozent auf 15,17 Dollar.

Freitag, 5. September 2008

Freitag, 5. September 2008

JP Morgan ist misstrauisch. Die Bank fordert, dass sich Lehman stärker um die Sicherung der Zahlungsfähigkeit bemühen sollte - auch im Hinblick auf die nächsten Monate. Mit einiger Verwunderung nimmt JP Morgan außerdem zur Kenntnis, dass Lehman-Chef Fuld an wichtigen Treffen mit Ratingagenturen nicht teilnehme.

Kampf um die Sicherheiten

Zugleich droht die Bank an, dass Lehman möglicherweise weitere fünf Milliarden Dollar an Sicherheiten nachschießen müsse. Damit will sich JP Morgan für den Fall absichern, dass Lehmans Bad-Bank-Pläne hektische Reaktionen an der Börse provozieren. Fünf Milliarden Dollar zu diesem Zeitpunkt? Für Lehman wäre das eine Katastrophe.

Als dann JP Morgan auch noch erfährt, dass die Verhandlungen von Lehman mit der Koreanischen Entwicklungsbank (KDB) ins Stocken geraten sind, ist endgültig klar: Die Position von Lehman verschlechtert sich laufend.

Auch die anderen Banken verfolgen argwöhnisch, was sich bei Lehman tut: Die Citigroup stuft intern die Kreditwürdigkeit Lehmans weiter herab: Hatte Lehman bislang nur ein "Schwächepotential", heißt es ab sofort: Lehman hat ein "klar umrissenes Problem". Lehman soll davon nichts erfahren - die Angelegenheit gilt als "strikt interne Angelegenheit der Citigroup". Doch sämtliche Geschäfte mit Lehman stehen ab sofort unter besonderer Beobachtung.

Die Lehman-Aktie gewinnt knapp sieben Prozent auf 16,20 Dollar.

Sonntag, 7. September 2008

Sonntag, 7. September 2008

Für die weltgrößten Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac ist es der letzte Tag als selbständige Unternehmen. Kaum ein Amerikaner hätte sich vor der Krise vorstellen können, dass diese Bollwerke der US-Wirtschaft je einmal fallen könnten.

Jetzt ist es soweit: Die US-Regierung pumpt die unvorstellbare Summe von 200 Milliarden Dollar in Fannie und Freddie und stellt beide Gesellschaften unter Zwangsverwaltung.

Finanzminister Paulson lässt keinen Zweifel daran, warum beide Unternehmen gerettet wurden: "Fannie Mae und Freddie Mac sind so groß und mit unserem Finanzsystem verflochten, dass ihr Ausfall schwere Verwerfungen verursachen würde - hier in den USA und rund um den Globus."

Montag, 8. September 2008

Montag, 8. September 2008

Fannie und Freddie wurden gerettet - das macht den Anlegern Hoffnung, dass das vielleicht auch bei Lehman passieren könnte. Die Aktie machen zu Handelsbeginn einen Kurssprung - stürzen aber im Tagesverlauf ab.

Wiederholt hatte die Bank of America (BoA) schon mit Lehman in den letzten Wochen über eine Übernahme gesprochen. Doch jetzt erst willigt die BoA - widerstrebend - ein, eine "potentielle Transaktion" mit Lehman zu überprüfen.

Schon Anfang September, nach einem Treffen von Fuld und dem Chef der Bank of Amerika, Kenneth D. Lewis, hatte Paulson die Bank kontaktiert, die Lage bei Lehman geschildert und gefragt, ob die BoA nicht helfen könne.

Später wird Paulson sagen, dass er es in dieser Zeit unter anderem als seinen Job ansah, zusammen mit dem damaligen Chef der Notenbank-Filiale in New York und späteren Finanzminister Timothy F. Geithner, Lehman entweder an die BoA oder an die britische Barclays Bank zu verkaufen.

Die Lehman-Aktie verliert knapp 13 Prozent auf 14,15 Dollar.

Dienstag, 9. September 2008

Dienstag, 9. September 2008

Ein Vertreter der südkoreanischen Regierung gibt offiziell bekannt, dass die KDB die Verhandlungen mit Lehman abgebrochen hat.

Danach geht es Schlag auf Schlag: Die Kosten für die Absicherung von Lehman-Krediten explodieren förmlich. Für Anleger ist das gewöhnlich das Zeichen, dass es schlimm um ein Unternehmen steht.

"Agenturen machen Lärm"

Selbst Gläubiger, die Lehman nur kurzfristig Geld geliehen haben, setzen die Kreditlinien herab. Die beiden wichtigen Ratingagenturen Fitch und Standard and Poor's drohen eine Herabsetzung des Ratings an.

Fuld wird hektisch: Die Agenturen "machen Lärm", sagt er in einem Telefonat mit BoA-Chef Lewis und kündigt an, dass Lehman die Veröffentlichung der Ergebnisse vorziehen müsse.

Und dann geschieht das, was Lehman gerne verhindert hätte: JP Morgan fordert weitere fünf Milliarden Dollar an Sicherheiten. Fuld sagt zu, drei Milliarden sofort bereitzustellen, zwei Milliarden sollen später kommen.

Morgens hatte die Aktie noch über dem Vortagesniveau eröffnet, bis zum Abend verliert sie fast die Hälfte ihres Wertes.

Der Kollaps des Aktienkurses verunsichert einen weiteren strategischen Partner, die Investment Corporation of Dubai (ICD), derart stark, dass er eine Auszeit bei den Verhandlungen einfordert.

Nachmittags trifft sich das Lehman-Board. Eigentlich soll Finanzchef Ian Lowitt dort einen Lagebericht abliefern. Aber er hat keine Zeit: Er muss eilig die vorgezogene Veröffentlichung der Ergebnisse vorbereiten.

Fuld sagt, dass es "zwei potentielle Partner" aus dem Inland gibt; darunter auch die BoA. Der andere ist im Protokoll nicht vermerkt, doch es dürfte sich um Morgan Stanley handeln.

Die Lehman-Aktie halbiert sich fast auf 7,79 Dollar.

Mittwoch, 10. September 2008

Mittwoch, 10. September 2008

Die vorläufigen Ergebnisse werden in einer Telefonkonferenz besprochen: Fuld und Lowitt stellen dabei auch den Plan für die Restrukturierung vor.

Die verheerenden Verluste der Bank - das Institut verliert im dritten Quartal knapp vier Milliarden Dollar - begründet Fuld "überwiegend" mit den "Verkäufen und Abschreibungen auf unser Immobilienvermögen" und den "Kreditmärkten".

Mit SpinCo, der geplanten Bad Bank von Lehman, können sich die Analysten überhaupt nicht anfreunden.

Moody's verliert die Geduld, droht wie Konkurrenzagenturen eine Herabstufung des Ratings an - sofern nicht binnen einer knappen Woche etwas geschehe: Entscheidend sei, dass Lehman "die Stimmung am Markt dreht". Wie das gehen soll? Mit einem starken Partner.

Todesstoß von Moody's

Später wird der Leiter des Rechtsbereichs, Thomas A. Russo, den Ermittlern sagen, dass die Ankündigung von Moody's den letzten Wendepunkt hin zum Absturz markierte. Sie kam zu früh - "die Märkte hatten noch nicht die Ergebnismeldung verdaut".

Lehman beginnt, sich auf die Herabstufung vorzubereiten. Sie würde es der Bank unmöglich machen, sich am Kapitalmarkt noch längerfristige Kredite zu besorgen.

Am gleichen Tag informiert Barclays die britische Aufsichtsbehörde Financial Services Authority (FSA), dass sie ein Angebot für Lehman erwägt.

Doch schon jetzt scheint einigen klar zu sein, dass der Exitus unmittelbar bevorstehen könnte: Lehman-Chefjustiziar Steven Berkenfeld bittet telefonisch die Rechtsanwaltskanzlei Weil, Gotshal & Manges LLP, eine mögliche Konkursanmeldung vorzubereiten. Das ist gewagt, denn Berkenfeld hatte weder den Auftrag noch eine interne Vollmacht für dieses Telefonat. Sein Chef Russo erfährt erst später davon. Es ist die Kanzlei, die mit Harvey R. Miller später auch den Insolvenzverwalter der Bank stellen wird.

Unterdessen kursiert bei der Federal-Reserve-Vertretung in New York ein Papier, aus dem hervorgeht, dass Lehman eventuell gestützt werden könnte. Doch die Agenda spiegelt weder die Meinung des Direktoriums der New Yorker Notenbank wider, noch bekommt es offenbar der Leiter der Filiale, Geithner, zu sehen.

Die Lehman-Aktie verliert sieben Prozent auf 7,25 Dollar.

Donnerstag, 11. September 2008

Donnerstag, 11. September 2008

Es ist ein Tag, der hoffnungsvoll beginnt: Barclays zeigt Interesse an Lehman, was Fuld allerdings nur indirekt von der FRBNY hört. Wichtiger aber noch ist, dass die BoA in die Due Diligence einsteigt - sie nimmt also das Zahlenwerk von Lehman unter die Lupe.

Fuld ruft BoA-Chef Lewis an und erzählt ihm, dass das Interesse der BoA an Lehman die Ratingagenturen ermutigt habe.

Später wird er berichten, dass er zu Lewis auch gesagt habe: "Du weißt, wir werden diesen Deal durchziehen, nicht wahr, Ken?" Und Lewis habe geantwortet: "Ja, ich weiß, Dick." Lewis behält es anders in Erinnerung. Er sagt dem Ermittler, dass er Fuld nie eine Zusage geben habe, sondern seine Antwort unverbindlich ausgefallen sei.

Irgendwie zuversichtlich

Und noch etwas ist ermutigend - kurioserweise eine Rücktrittsforderung an Fuld: Geithner legt Fuld in einem Telefonat nahe, das Board der Federal Reserve Bank New York zu verlassen, "für den Fall, dass wir etwas für euch oder mit euch an diesem Wochenende machen werden". Was heißt das bloß? Fuld hat das Gefühl, dass, wenn alle Stricke reißen, die FRBNY und Geithner Lehman unterstützen werde.

Geithner erinnert sich später nicht daran, diesen Satz gesagt zu haben. Er ist sich sicher, dass er keinerlei Unterstützung angedeutet hat. Das Protokoll eines FRBNY-Treffens vom Vortrag legt allerdings nahe, dass zumindest ein Vertreter der Notenbank erwogen hat, Lehman öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen.

Lehman muss an diesem Donnerstag JP Morgan weitere 600 Millionen Dollar in bar zur Verfügung stellen.

Unterdessen braut sich bei JP Morgan eine weitere Katastrophe für Lehman zusammen: Die Chefs von JP Morgan nehmen Sicherheiten von Lehman genauer in Augenschein, die ihnen die Bank im Laufe des Sommers zur Verfügung gestellt hat. Sie kommen zum Schluss, dass diese Sicherheiten weit weniger wert sind als Lehman behauptet hat. Lehman-Finanzchef Lowitt bekommt gemeinsam mit Fuld am Telefon zu hören, was das zu bedeuten hat: JP Morgan fordert weitere fünf Milliarden Dollar, zahlbar am nächsten Morgen. Ob dass die 1,4 Milliarden Dollar einschließt, die Lehman JP Morgan ohnehin noch schuldete, wurde gar nicht mehr diskutiert.

Fuld muss das Board informieren: Es sagt, dass seiner Ansicht nach Lehman noch genügend Geld hat, um den nächsten Tag zu überstehen, stellt aber zugleich fest, dass angesichts der neuen Forderungen die Liquidität an dem Tag auf 30 Millionen Dollar schrumpfen könnte. Wenn die Bank über das Wochenende keinen Partner finden würde, drohe die Lage "sehr schwierig" zu werden - die Geschäftspartner würden noch nicht einmal mehr hochwertige Sicherheiten von Lehman akzeptieren.

Die Lehman-Aktie verliert mehr als 40 Prozent auf 4,22 Dollar.

Freitag, 12. September 2008

Freitag, 12. September 2008

Morgens um neun bevollmächtigt die Barclays-Führung ihr Management, die Due Diligence bei Lehman einzuleiten. Lohnt es sich, Lehman zu übernehmen? Das Barclays-Management präsentiert zwei Übernahme-Szenarios - in beiden wird der Wert der Lehman-Aktie auf fünf Dollar taxiert - die Aktie hatte am Morgen allerdings bei 3,84 Dollar eröffnet.

Klar ist aber: Barclays will ein Schnäppchen machen. Darum trifft sich Barclays-Präsident Robert Diamond später mit Fuld. Er machte ihm klar, dass es "keine Transaktion zum Marktpreis geben würde". Es handele sich um eine Rettungsaktion, das heiße, dass die Übernahme höchstens zu einem "sehr, sehr reduzierten Preis" abgewickelt werden könne.

In der größten Not bleibt immer noch Zeit, um über Gehälter zu reden: Darum gibt es um 17 Uhr eine besondere Telefonkonferenz: Es geht darum, was mit den Vergütungen für einige Vorstände im Falle eines Lehman-Verkaufs oder eines Bankrotts passieren würde.

Hässliche Werte

Freitagabend: Die Zuversicht wächst: Lehman-Präsident Herbert Bart McDade wird von seinen Kollegen gedrängt, die Verhandlungen mit der BoA zu verlassen und an den Diskussionen mit Barclays teilnehmen. Der trifft sich sofort mit Diamond von der Barclays Bank. McDade wird später sagen: "Zu diesem Zeitpunkt war es klar, dass [Diamond] den Kauf der ganzen Bank erwog".

Vielleicht wollte er es so sehen, denn die BoA bricht die Due Diligence ab. Die Großbank kommt zum Schluss, dass Lehman die Bewertung der Geschäftsimmobilien viel zu hoch angesetzt hat. Schlimmer noch: Das Analyseteam macht in den Büchern Vermögenswerte in Höhe von 65 bis 67 Milliarden Dollar aus, die die BoA noch nicht einmal geschenkt haben möchte. BoA-Chef Lewis ist überzeugt, dass die Übernahme sich nicht lohnt, solange die Regierung nicht hilft, diesen Berg an unerwünschten Vermögensgegenständen loszuwerden.

Für Fuld wird es eng: Er versucht einige Male an diesem Abend Lewis zu erreichen. Doch der nimmt nicht ab. Trotzdem glaubt Fuld nicht, dass das Geschäft mit der BoA scheitern könnte.

33 Liberty Street, ein Steinklotz im Palazzo-Stil - es ist der Sitz des New Yorker Ablegers der Notenbank Federal Reserve. Um 18 Uhr treffen sich hier die Vertreter von zwölf führenden Investmentbanken mit Finanzminister Paulson. Es ist eine illustre Runde, darunter Vikram Pandit von der Citigroup, Jamie Dimon von JP Morgan, John Mack von Morgan Stanley, Lloyd Blankfein von Goldman Sachs und John Thain von Merrill Lynch.

Lehmänner sind nicht eingeladen worden. Paulson macht klar, worum es geht: Die Regierung werde kein Geld für die Rettung von Lehman zur Verfügung stellen. Jetzt sei es an der Bankindustrie, eine Lösung zu finden - der Zusammenbruch von Lehman hätte schließlich weitreichende Konsequenzen.

Unterdessen lädt das Lehman-Board Harvey R. Miller ein, den späteren Insolvenzverwalter der Bank. Miller sagt der Führungsspitze, dass "ein Bankrott eine sehr schlechte Option" sei. Lehman-Rechtschef Russo behauptet zu gleichen Zeit, dass "die Federal Reserve Interesse habe", die Bank "geordnet abzuwickeln und einen Bankrott zu vermeiden".

Am Ende dieses Tages kalkuliert Lehman, dass nach Überweisung von fünf Milliarden an JP Morgan sich die verbleibende, schnell verfügbare Liquidität auf weniger als zwei Milliarden Dollar beläuft.

Die Lehman-Aktie verliert fast 14 Prozent auf 3,65 Dollar.

Samstag, 13. September 2008

Samstag, 13. September 2008

Am frühen Nachmittag beendet die BoA die Verhandlungen mit Lehman: Lewis hatte am Morgen gehört, dass Paulson Hilfen seitens der Regierung ausgeschlossen hatte. Er kontaktiert ihn daraufhin und beide vereinbaren, dass sie später nochmals zusammenkommen wollten, um weitere Optionen durchzudiskutieren.

Die BoA nimmt dafür Gespräche mit Merrill Lynch auf, die sich ebenfalls an die BoA gewendet hatte. Lehman wird allerdings darüber nicht informiert. Fuld versucht den ganzen Tag über Lewis zu erreichen - ohne Erfolg. Irgendwann hat er Lewis Frau am Apparat. Sie sagt Fuld, wenn ihr Mann mit ihm reden wolle, würde er schon zurückrufen.

"Leben nach SpinCo"

Lewis wird später dem Ermittler erzählen, dass er Fulds Anrufe unbeantwortet ließ, weil er nicht glaubte, dass Fuld in der Position war, das Geschäft voranzubringen.

Lehman hingegen konzentriert sich bei den Verhandlungen mit Barclays nun auf ein Szenario, bei dem die die kritischen Lehman-Teile bereits in die SpinCo-Gesellschaft ausgegliedert sind. Fuld nennt es das "Leben nach SpinCo".

Die FRBNY fragt, ob Barclays die Schulden von Lehman garantieren würde - nur so könne die Transaktion genehmigt werden. Aber es wäre auch brandgefährlich, denn Barclays müsste selbst dann haften, wenn die Übernahme scheitern sollte.

Eine solche Garantie müsste zudem von den Barclays-Aktionären gebilligt werden. Anruf bei Buffett: Würde er die Haftung übernehmen, bis sich Lehman und Barclays einigen? Buffett ist zunächst nicht abgeneigt, später aber kann Barclays ihn nicht mehr erreichen. Die Idee stirbt.

Fuld teilt am Samstagnachmittag dem Board mit, dass Barclays angeboten habe, das operative Geschäft für drei Milliarden Dollar zu übernehmen. Und: Barclays würde für Lehmans Schulden garantieren.

Am Samstagabend glaubt Fuld immer noch, dass Lehman eine Art Vereinbarung mit Barclays hat.

Sonntag, 14. September 2008

Sonntag, 14. September 2008

Die britische Finanzaufsicht FSA weigert sich, auf die Zustimmung der Barclays-Aktionäre zu der Übernahme zu verzichten.

Theoretisch bestünde zwar diese Möglichkeit, andererseits würde die FSA alle Grundsätze über Bord werfen. Und: Es wäre ein Präzedenzfall. Den ganzen Tag wird heftig diskutiert - die FRBNY fordert die Garantie, die FSA die Zustimmung der Aktionäre. Klar ist: Ohne das Plazet der FSA kommt das Geschäft nicht zustande. Um 16 Uhr britischer Zeit informiert Barclays, dass die Gespräche abgebrochen wurden.

Paulson blockt

Lehman verschiebt das für den Nachmittag vorgesehene Treffen des Boards auf fünf Uhr. Vielleicht findet sich noch eine Lösung auf den Treffen mit der FRBNY. Und Fuld drängt Paulson, den britischen Premierminister Gordon Brown anzurufen. Paulson denkt überhaupt nicht daran - er könne das nicht. Doch Fuld gibt nicht auf: Ob Paulson dann nicht wenigstens Präsident George W. Bush bitten könnte, bei Brown anzurufen. Doch Paulson winkt erneut ab - er arbeite an anderen Ideen.

Fuld will die FSA unbedingt noch zu einer Zustimmung bewegen. Wenn Paulson sich weigert, mit Bush zu reden - vielleicht könnte er noch über Jeb Bush an den Präsidenten und so an Brown herankommen. Jeb Bush, Bruder von George, ist zu der Zeit Berater von Lehman.

Bei der Fed New York wird das Treffen vom Vorabend fortgesetzt. Die anwesenden Banker erklären sich bereit, mindestens 20 Milliarden Dollar für die Abwicklung von Lehman-Gift-Papieren zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise soll die Übernahme von Lehman durch Barclays unterstützt werden. Doch die FRBNY winkt ab.

Derweil entwickeln einige Lehman-Mitarbeiter einen Plan, wie die Bank geordnet abgewickelt werden könnte, doch das würde mindestens ein halbes Jahr dauern. In der Zeit müsste Lehman eine größere Zahl an Mitarbeitern weiterbeschäftigen und Boni zahlen, um sie zu halten. Um das alles zu finanzieren, müsste die Notenbank Geld zur Verfügung stellen.

Lektion über britisches Insolvenzrecht

Plötzlich heißt es, die Regierung habe Lehman mitgeteilt, dass am Abend der Antrag auf Konkurs gestellt werden müsse. An den Plänen für eine geordnete Abwicklung muss also nicht mehr weitergearbeitet werden.

Fuld nimmt nochmals Kontakt zu Morgan Stanley auf. Es ist nicht das erste Mal, doch Lehman steht an einem "tough spot" - auf der Kippe. Doch Bank-Chef John Mack winkt ab. Morgan Stanley sei schon genügend mit sich selbst beschäftigt.

Im Laufe des Nachmittags bekommt Fuld dann noch eine Lektion über britisches Insolvenzrecht erteilt. Zum Beispiel, dass Manager womöglich persönlich zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie eine Insolvenz verschleppen.

Im Laufe des Tages erweitert die FRBNY die Primary Dealer Credit Facility. Darüber stellt die Federal Reserve Notkredite zur Verfügung. Lehman wird allerdings bald klar, dass die Bank davon nicht mehr profitieren wird: sie gilt als nicht mehr kreditwürdig.

Die Ereignisse überschlagen sich: Fuld bekommt erst einen Anruf von einem Vertreter der Börsenaufsicht SEC. Der bittet Fuld zu versprechen, dass die Bank nicht um Gläubigerschutz bitten werde. Kurz danach bekommt Fuld einen Anruf von Lehman-Präsident McDade. Der wiederum sagt ihm, dass die Fed gerade verfügt hat, dass Lehman Insolvenz beantragen muss.

Von der FRBNY bekommt Lehman die Auskunft, dass der Antrag bereits um Mitternacht gestellt werden müsse. Rechtsanwalt Miller erklärt der FRBNY, dass das so schnell nicht ginge. Ein Bankrott würde in einem finanziellen "Armageddon" enden.

Doch Vertreter der Regierung sagen, das Thema sei entschieden. Am Abend trifft sich das Lehman-Board; Vertreter der Regierung und der Fed New York werden telefonisch zugeschaltet. Der Mann von der Notenbank betont, dass die Insolvenz "sinnvoll" sei, aber dass die Entscheidung letztlich auf Seiten des Boards liegen würde.

Die Mitglieder des Boards reagieren empört. Ein Lehman-Vertreter will die "Regierung zwingen, Farbe zu bekennen" - und einfach mal am Montag die Geschäfte öffnen. Doch letztlich entscheidet sich das Board dafür, dass die Insolvenz die beste Lösung sei.

Montag, 15. September 2008

Montag, 15. September 2008

In den frühen Morgenstunden um 1:30 Uhr beantragt die Anwaltskanzlei Weil Goshal die Insolvenz. Jetzt wird entschieden, dass sich Lehman gegen Sicherheiten für die nächsten Tage 30 Milliarden Dollar leihen kann, um einige Geschäfte weiterzuführen.

Gleich am Morgen gibt es noch ein Telefonat zwischen Lehman und Barclays. Der Chef der britischen Bank, Diamond, ist besorgt, weil in den Medien zu sehen ist, dass die Mitarbeiter in Scharen die Bank verlassen.

Doch die Lehman-Vertreter versichern, dass sofern jetzt alles schnell genug ginge, weite Teile des Geschäfts an Barclays übertragen werden könnten. Ein paar Tage später ist das Geschäft perfekt: Barclays übernimmt das Investmentgeschäft von Lehman. 158 Jahre Firmengeschichte gehen zu Ende.

Der Kurs der Lehman-Aktie kollabiert: Das Papier verliert 94 Prozent auf 21 Cent.

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