Lärm und die Folgen:Je lauter, desto kränker?

Deutschlands Städte werden immer mehr zugebaut, die Menschen wohnen künftig noch enger zusammen. Das erhöht auch den Geräuschpegel. Doch mit der richtigen Einstellung kann man sich schützen.

Von Felicitas Witte

Deutschland soll dichter werden. Bauministerin Barbara Hendricks (SPD) will das Baurecht reformieren. Neben den bisher bekannten Stadtraumgebieten - Gewerbe, Wohnen und gemischtes Gebiet - soll es "urbane Gebiete" geben. Durch "Verdichtung" soll das Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten einfacher werden, statt klassischem Pendeln mit langen Wegen ein lebendiges Nebeneinander entstehen, was auch die Integration fördere, so die Ministerin.

Wie genau das "Dichterwerden" gehen soll, ist noch nicht klar definiert. Denkbar ist das Aufstocken vorhandener Gebäude oder geringere Abstände zwischen Häusern. Könnte das auf Kosten der Gesundheit gehen? Das - so befürchten manche - könnte den Lärmschutz aufweichen, was das Risiko für Depressionen und andere Krankheiten erhöhen könnte.

Schon länger ist bekannt, dass Lärm das Risiko für Herzinfarkt, Bluthochdruck, Schlaganfall, Schlafstörungen, Übergewicht oder Diabetes erhöht. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation verlieren Menschen in Westeuropa mindestens eine Million gesunde Lebensjahre, weil sie zu viel Lärm ausgesetzt sind - am häufigsten wegen Schlafstörungen und Herzproblemen. Es sollen mehr Lebensjahre durch Lärm verloren gehen als durch Umweltverschmutzung mit Blei, Ozon oder Dioxin.

Jetzt zeigen Forscher von der Uni Duisburg-Essen in einer Studie mit 3300 Teilnehmern aus dem Ruhrgebiet, dass Lärm auch das Risiko für Depressionen erhöhen könnte. Leute, die ständig Verkehrslärm über 55 Dezibel (dB, siehe Tabelle) ausgesetzt waren, litten nach fünf Jahren häufiger unter depressiven Symptomen oder mussten öfter Medikamente gegen Depressionen einnehmen als diejenigen in einer Umgebung von 55 dB. "Depressionen haben viele Ursachen, und meist kommen mehrere Faktoren zusammen", sagt Jan Wielopolski, Oberarzt in der Psychiatrie an der Uniklinik in Zürich. "Lärmbelastung kann einer von diesen sein."

Etwa 40 Prozent der Bevölkerung in der Europäischen Union sind ständig Verkehrslärm von mehr als 55 dB ausgesetzt. Damit man eine Vorstellung hat: 30 Dezibel entsprechen Flüstern, 60 einer Unterhaltung in normaler Lautstärke, 80 dem Lärm einer Hauptverkehrsstraße und 85 bis 100 einem Presslufthammer oder Lastwagenverkehr. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, sich nachts maximal 30 dB auszusetzen, um Gesundheitsschäden zu vermeiden. In Schulklassen sollte der Pegel nicht mehr als 35 dB betragen.

Bahnlärm

Ein Schnellzug fährt durch die Altstadt von Bacharach. Bahnlärm gilt als zentrales Problem im Unesco-Welterbegebiet Mittelrheintal.

(Foto: Thomas Frey/dpa)

Je mehr sich Leute durch Lärm belästigt fühlen, desto größer ist das Risiko für Depressionen und Angststörungen, zeigte eine Studie aus Mainz mit 15 000 Erwachsenen. Jeden Vierten störte Lärm etwas oder mittelmäßig, jeder Zehnte fühlte sich dadurch extrem belästigt. Am meisten - mehr als 60 Prozent der Leute - nervte Flugzeuglärm, kurz gefolgt von Straßenverkehr mit mehr als 40 Prozent. Eisenbahnlärm empfanden dagegen nur knapp 16 Prozent als belastend. Je genervter die Leute waren, desto öfter bekamen sie Depressionen oder Angststörungen: Diejenigen, die sich vom Lärm extrem gestört fühlten, mehr als doppelt so häufig.

Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass Lärm die Funktion des Hirns stört. So schnitten Studienteilnehmer, die Lärmpegeln von 68 bis 78 dB ausgesetzt waren, in Hirnfunktions-Tests schlechter ab und konnten sich Dinge weniger gut merken oder ihr Gehirn verarbeitete Informationen langsamer. Schulkinder, die ständig Fluglärm von mehr als 66 dB hören mussten, hatten mehr Probleme beim Lesen, und sie scheinen häufiger unter ADHS (Aufmerksamkeits- Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) zu leiden.

Die Zusammenhänge seien plausibel, sagt der Psychiater Wielopolski. "Dauerhafter Lärm kann zu einer permanenten Stressreaktion im Körper führen, und er schüttet dann mehr Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Das wirkt sich negativ auf das Hirn aus." So sei bekannt, dass Cortisol in hohen Dosen das Wachsen und den Umbau von Nervenzellen hemme - beides ist wichtig, damit wir denken, uns etwas merken können, Zusammenhänge herstellen oder planen können. Ein ausgewogenes Verhältnis dieser Hormone spielt auch eine Rolle dabei, dass wir nicht an einer Depression erkranken. Hat jemand erblich bedingt eine höhere Empfindlichkeit für eine Depression, könnte Lärm einer der Faktoren sein, der die Krankheit zum Ausbruch bringt - neben anderen Ursachen wie der Tod eines geliebten Menschen oder chronische Überlastung. Eine Rolle könnte auch der Schlaf spielen: "Ständiger nächtlicher Lärm lässt manche nachts unbewusst ganz kurz aufwachen", erklärt Wielopolski. "Das kann die Leistungsfähigkeit des Hirns reduzieren und Gedächtnisprobleme oder Konzentrationsstörungen auslösen."

Ein weiterer Aspekt ist, wie man den Lärm wahrnimmt. "Menschen machen unbewusst Kosten-Nutzen-Berechnungen", sagt Wulff Rössler, Professor für Psychiatrie in Zürich. Habe jemand günstig sein Traumhaus gekauft, was aber in der Nähe eines Flughafens ist, habe er zwar mehr Lärm, aber auch erhebliche finanzielle Vorteile. "In Summe ist das eine positive Bilanz, und er nimmt den Lärm dann gar nicht so schlimm wahr." Anders herum empfinden Menschen Lärm als besonders störend, wenn es mit einem Verlust an Lebensqualität oder finanziellem Wert verbunden ist, etwa wenn eine neue Landebahn oder eine Schnellstraße in der Nähe gebaut werden soll. Ist man eher ökologisch eingestellt, nimmt man zudem Eisenbahnlärm nicht als so nervig wahr wie Flugzeuglärm.

Lärm und die Folgen: SZ-Grafik

SZ-Grafik

Der Gesetzesentwurf für das neue urbane Gebiet ist nicht öffentlich, aber im Internet werden Lärmrichtwerte von 63 dB tagsüber und 48 dB nachts diskutiert. Damit läge der neue Gebietstyp zwischen den bisherigen Kern- und Mischgebieten (60/45 dB) und den Gewerbegebieten (65/50 dB) und über den Richtlinien der WHO. "Man muss aber nicht gleich Zeter und Mordio schreiben und dunkle Mächte am Werk vermuten, die den Lärmschutz aufweichen möchten", sagt Rössler. "Das urbane Gebiet hat doch Vorteile, wenn man zum Beispiel nicht mehr so lange pendeln muss. Dann nimmt man vielleicht auch etwas mehr Lärm in Kauf, wobei ja noch gar nicht gesagt ist, dass es dort wirklich lauter wird."

Auch Jan Wielopolski sieht die geplanten Lärmrichtwerte nicht so dramatisch. "Lärm ist natürlich ein Risikofaktor, der einen enorm stressen und dann zu Depressionen und anderen Krankheiten führen kann", sagt er. "Aber Stadtleben erzeugt auch auf andere Weise Stress, zum Beispiel wegen sozialer Isolation, weil man in einer total kleinen Wohnung leben muss oder einen geringen sozialen Status hat." In Städten gebe es im Vergleich zum Landleben aber mehr Möglichkeiten, den Stress abzubauen und damit das Risiko für lärmbedingte Gesundheitsschäden zu senken - sei es durch Konzerte, Theater, Kino, Volkshochschule oder Vereine. "Außerdem lernt man leichter andere Menschen kennen und kann sich ein soziales Netzwerk aufbauen - auch das reduziert den Stress."

Eine weitere Möglichkeit ist zu lernen, Lärm anders zu bewerten. "Dann empfindet man ihn weniger störend", sagt Wielopolski. "Wir nennen das kognitive Umstrukturierung." Der Lärmgeplagte macht sich also die Vorteile des nahen Flughafens klar oder der rumpelnden Lastwagen vom Großmarkt: Man kann schnell überall hinfliegen oder bekommt jeden Tag frischen Fisch vom Meer. Außerdem könnten Entspannungsübungen helfen, ein regelmäßiger Tag-/Nacht-Rhythmus und Bewegung, sagt Wielopolski: "Sport baut Cortisol ab und damit Stress." So tut man nicht nur seiner Psyche etwas Gutes, sondern schützt sich auch vor Herz-Kreislauf-Krankheiten.

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