Krise an den Börsen:Wie aus Gerüchten Katastrophen werden

Die Furcht vor dem Zusammenbruch von Banken und Börsen ist wieder übermächtig. Besonders dramatisch ist das Minus bei französischen und italienischen Geldhäusern - Erinnerungen an die Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers werden wach. Was bisher geschah und wie sich die Krise weiterentwickeln könnte - ein Szenario.

Martin Hesse und Catherine Hoffmann

Der Schock für die Anleger sitzt tief. Aktienkurse stürzen ab, besonders dramatisch ist das Minus bei französischen und italienischen Geldhäusern. Keine vier Jahre nach der Pleite der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers ist die Furcht vor dem Zusammenbruch von Banken und Börsen wieder übermächtig. Die Spekulationswelle läuft nach einem hinlänglich bekannten Muster ab. Was bisher geschah und wie sich die Krise weiterentwickeln könnte - ein Szenario:

Lehman Brothers

Das Symbolbild der Finanzkrise: am 15. September 2008 ging die Investmentbank Lehman Brothers pleite - und riss die Finanzmärkte in den Abgruind

(Foto: dpa)

1. Gerüchte kommen auf

Der Verdacht, die französische Großbank Société Générale stecke in Geldnot und benötige staatliche Hilfe, lässt am Mittwoch den Aktienkurs abstürzen. Eine Abwärtsspirale kommt in Schwung, die auch italienische, spanische und deutsche Banktitel mit sich reißt. Der Nährboden ist ideal: Anleger befürchten, dass die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit von Frankreich bald herabstufen könnten. Zudem wissen sie, dass französische Banken dem schuldengeplagten Griechenland viel Geld geliehen haben. Société Générale und BNP Paribas mussten deshalb bereits Hunderte Millionen Euro abschreiben, die Gewinne schmelzen. Was, so überlegen die Investoren, wäre erst los, wenn Italien und Spanien sich aus dem Sog der Schuldenkrise nicht befreien könnten - und es am Ende auch Frankreich träfe?

2. Leugnen der Schwierigkeiten

Über das "Was-wäre-wenn" einer Zahlungsunfähigkeit Italiens schweigen sich Banker lieber aus. Kreditinstitute, die jetzt nach und nach ihre Halbjahreszahlen vorlegen, verweisen lieber darauf, dass sie doch Gewinne machen und über dicke Kapitalpolster verfügen. Der Chef der Société Générale, Frederic Oudea, bezeichnete am Donnerstag Gerüchte über Schwierigkeiten der Bank als "absoluten Müll". Notenbankchef Christian Noyer sagte, der französische Bankensektor stehe auf solidem Fundament. Bankchefs und Politiker verweisen darauf, dass die meisten Finanzkonzerne den Stresstest der EU-Bankenaufsicht bestanden haben. Doch ausgerechnet das, was Anleger am meisten fürchten, wurde nicht getestet: Zahlungsausfälle von Euro-Staaten.

3. Besorgnis und Besinnung

Nur noch für kurze Phasen lassen sich Anleger beruhigen. Dann beginnen sie zu rechnen: Wie groß sind die Verlustrisiken europäischer Banken tatsächlich? Einen Vorgeschmack gibt die Beteiligung privater Gläubiger an der Umschuldung Griechenlands. Banken haben versprochen, auf 21 Prozent ihrer Forderungen zu verzichten. Die Commerzbank hat das 760 Millionen Euro gekostet und damit fast den kompletten Quartalsgewinn. Ein Analyst rechnet vor: "Müsste die Commerzbank 21 Prozent ihrer Italienanleihen abschreiben, wären wohl rund zwei Milliarden Euro weg." Allgemein gilt die Faustregel, dass Staaten mit so hohen Schulden wie Italien diese Last auf Dauer nicht tragen können, wenn sie mehr als sieben Prozent Zinsen zahlen müssen. Vor ein paar Tagen sind die Zinsen auf 6,5 Prozent gestiegen. Deshalb sind an den Börsen vor allem solche Banken unter Beschuss, die viele Staatsanleihen aus Griechenland, Italien und Spanien halten. "Die Banken eines teilweise zahlungsunfähigen Staates wären ohne Hilfe sofort pleite", sagt ein Analyst.

"Zurück in der Welt von 2008"

4. Angst verschärft die Krise

Trotz aller Beschwichtigungen und Dementis fallen die Kurse weiter. Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht die Kettenreaktion schon seit Mittwoch zu stoppen. Sie weiß, dass sich Banken seit der Lehman-Pleite gegenseitig nur noch Geld leihen, wenn sie dafür Wertpapiere als Pfand bekommen. Auch die zweite Geldquelle der Institute versiegt: "Nur noch die wenigsten Banken können auf dem Markt zu erträglichen Zinsen Anleihen an den Mann bringen", sagt ein Bankanalyst. "Seit Mai ist da Ebbe." Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass sich Banken mehr und mehr Geld von der EZB borgen - zuletzt sicherten sie sich knapp 50 Milliarden Euro.

5. Der Lehman-Moment

Wir sind zurück in der Welt von 2008", sagt am Donnerstag ein Börsianer mit Blick auf die Pleite des US-Investmenthauses Lehman Brothers. Auch damals gab es einen giftigen Mix aus Nachrichten und Gerüchten über existenzielle Probleme der Bank, der wochenlang gärte. Fünf Tage vor dem Zusammenbruch warnte das Institut, es erwarte fast vier Milliarden Dollar Verlust im dritten Quartal. Tag für Tag schrumpften Lehmans Geldreserven. Als sich dann US-Finanzminister Henry Paulson weigerte, dem Haus aus der Klemme zu helfen, kam der Lehman-Moment: Die Bank war insolvent und vom selben Tag an fror das globale Finanzsystem ein. Keine Bank bekam mehr Geld, die im Verdacht stand, große Verluste zu machen.

6. Platzen der Spekulationsblase

Heute zittern die Anleger wieder. Es ist nicht auszuschließen,dass Regierungen angesichts der Last ihrer Schulden kapitulieren und Kreditinstitute mit sich reißen. Eigentlich sollten neue Gesetze verhindern, dass Banken nach Lehman noch einmal zum unkalkulierbaren Risiko werden. Höhere Kapitalpuffer, Stresstests, bessere Risikosysteme - all das macht Pleiten heute unwahrscheinlicher, aber sie sind immer noch möglich. In einem solchen Notfall sollen Banken zerschlagen werden in einen gesunden Teil, der weiterlebt, und einen kranken, der auf Kosten der Gläubiger abgewickelt wird. "Das Gesetz ist zwar da, aber keine Regierung traut sich in der fragilen Lage, eine Bank aufzuspalten und die Gläubiger zu beteiligen", sagt DIW-Wissenschaftlerin Dorothea Schäfer. "Viel zu sehr fürchtet man die Dominoeffekte." Wenn aus dem Gerücht ein zweites Lehman zu werden droht, werden also die Steuerzahler einspringen müssen. Aber was, wenn auch der Staat als Retter zu schwach ist?

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