Süddeutsche Zeitung

Kredite für arme Menschen:Inspiration aus Bangladesch

Günstiges Geld für Benachteiligte: Paris vergibt neuerdings Mikrokredite an Arme - schon jetzt kommen täglich ein Dutzend Anfragen.

Michael Kläsgen

Die Alleinerziehende schämte sich und tat doch nichts Ehrenrühriges. Vor ihr hatten Berühmtheiten wie Victor Hugo oder Emile Zola den Weg zum Pariser Pfandleihhaus gefunden. Nicht wie die Schriftsteller suchte sie das historische Gebäude im Pariser Marais-Viertel jedoch auf, um einen Wertgegenstand zu verpfänden. Die 44 Jahre alte Sozialhilfe-Empfängerin stellte einen Antrag für eine Dienstleistung, die die 231 Jahre alte Institution neuerdings erbringt: Sie bat um einen Mikrokredit, für sich, aber im Prinzip auch für ihren 15 Jahre alten Sohn. Sie will ihm einen Computer kaufen. Dafür hatte sie zwar schon etwas Erspartes beiseite gelegt - von ihrem Einkommen in Höhe von 685 Euro im Monat. Es fehlten ihr aber noch 300 Euro.

Der Chef des Hauses, Bernard Candiard, beriet sich mit seinen Kollegen und zögerte angesichts der Glaubwürdigkeit der Frau nicht, ihr einen Scheck auszustellen. "Ein Computer gehört heutzutage für Heranwachsende zur Grundversorgung", sagt Candiard, "ohne ihn geht es nicht." Und so wurde die Alleinerziehende zur ersten Empfängerin eines Mikrokredits für Bedürftige in Paris.

Die Bank des Pfandleihhauses vergibt diese Kredite von Januar an flächendeckend in ganz Paris. Sie tut dies im Namen der Stadt, der sie untersteht. Sie ist keine normale Bank, und deswegen kann sie sich mit ihren Krediten ausschließlich an Arme richten. Das unterscheidet den Pariser Mikrokredit von Finanzierungsinstrumenten gleichen Namens etwa für Kleinunternehmer in Dortmund oder für Existenzgründer in München. Paris will Menschen helfen, denen herkömmliche Banken die Eröffnung eines Kontos verweigern oder die von ihnen als kreditunwürdig eingestuft werden. Deren Zahl ist schon vor Ausbruch der Wirtschaftskrise um zehn Prozent gestiegen.

Geld für das Nötigste

Solchen Menschen soll der Mikrokredit helfen, sich das Nötigste leisten zu können. Das sind in der Regel andere Dinge als in Bangladesch, wo Muhammed Yunus in den 70er Jahren den Mikrokredit zum Instrument der Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern machte. Im reichen Paris kann zum dringend Notwendigen ein Computer, ein Führerschein oder ein Fortbildungskurs zählen. Natürlich überprüft der Crédit Municipal, ob das Geld auch dafür ausgegeben wurde, wofür es gedacht war. Und zwar auch, obwohl es sich nicht um große Summen handelt. Die Kreditsumme liegt zwischen 300 und 3000 Euro. Dafür müssen die Empfänger vier Prozent Zinsen zahlen, wobei sich der Zins auf zwei Prozent reduziert, wenn sie das Darlehen innerhalb von drei Jahren zurückzahlen. Für die andere Hälfte der Zinsschuld kommt die Stadt auf.

Mehr als ein Jahr lang war der Mikrokredit Thema im Stadtrat. Jetzt ist Candiard überzeugt, dass er zur rechten Zeit kommt. Denn die Wirtschaftskrise ist in den historischen Gemäuern angekommen. Täglich erkundigt sich ein Dutzend Menschen nach dem Kredit. Und immer mehr Pariser, vor allem Frauen, kommen ins Marais und verpfänden Wertgegenstände, um über die Runden zu kommen. Seit einem Jahr ist die Zahl der Pfandleihen um ein Drittel gestiegen. Candiard sieht darin ein Zeichen für die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.

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SZ vom 02.01.2009/mel
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