Krankenversicherer: Gefahr Pleite:Die kranken Kassen

Pleiten drohen - und kräftige Beitragserhöhungen: Die gesetzlichen Krankenkassen stehen vor gewaltigen Problemen. Die Regierung versucht, das Milliardendefizit in den Griff zu bekommen. Dabei geht es um die Zukunft des Gesundheitssystems.

Guido Bohsem, Berlin

Das Problem ist elf Milliarden Euro groß, gewaltig groß also. Es handelt sich um die Summe, die im Jahr 2011 zwischen den Einnahmen und den Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen liegen wird. Pleiten drohen und Beitragserhöhungen. Ende der Woche will das schwarz-gelbe Regierungsbündnis versuchen, dieses Defizit auszugleichen. Am Ergebnis der Bemühungen hängt nicht nur das Schicksal des Gesundheitsministers Philipp Rösler und das der Koalition. Es geht um die Zukunft des Gesundheitssystems.

Krankenkassen

Mehrere Krankenkassen stehen vor herben Finanzproblemen. Die Versicherten brauchen allerdings nicht um ihren Versicherungsschutz zu bangen - sie müssen von anderen Kassen aufgenommen werden.

(Foto: online.sdeauto)

Die Schlagzeilen vom Montag geben einen kleinen Eindruck, was ein Defizit von elf Milliarden Euro in der Realität des Systems heißt: "Erste Krankenkasse vor der Pleite", hieß es da, "Krankenkasse auf dem Sterbebett", "CDU will Nullrunde bei Kliniken und Zahnärzten", "Sparen bei den Hausärzten". Die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Carola Reimann (SPD), forderte Röslers Rücktritt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versuchte ein weiteres Machtwort, um den Druck von ihrem Lieblings-FDP-Minister zu nehmen. Als hysterischer Betrieb wird das deutsche Gesundheitssystem oft beschrieben. Der Beweis dafür wurde am Wochenende erneut geliefert.

Tatsächlich sind die harten Fakten seit Wochen unverändert. Mitte März hatte der Präsident des Bundesversicherungsamtes (BVA), Maximilian Gaßner, der Regierungskommission zur Reform des Gesundheitswesens in einem etwa halbstündigen Vortrag dargelegt: Selbst wenn Ärzte, Krankenhäuser und Pharmaindustrie keinen Cent mehr als in diesem Jahr bekämen, werde das Defizit 2011 bei 6,4 Milliarden Euro liegen. Der Bund streiche seinen Zuschuss um knapp 2,4 Milliarden Euro, und schon jetzt schlummere ein Defizit von vier Milliarden in den Büchern der Versicherer.

Auch 15 Milliarden Defizit denkbar

So weit, so schlecht. Komme es aber zu Kostensteigerungen wie 2009 oder 2010, erklärte Gaßner der sichtlich geschockten Ministerrunde, könne das Minus auch auf rund 15 Milliarden Euro anwachsen. Weil dies und auch die 6,4 Milliarden Euro aber unwahrscheinlich sei, werde das Defizit in der Mitte liegen, bei elf Milliarden Euro also.

Was sich geändert hat, ist das politische Umfeld. Hier ist nichts mehr, wie es im März noch war. Nach der Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen brachen die Konflikte in der Koalition auf, und die Gesundheitspolitik wurde zum zentralen Schlachtfeld. Philipp Rösler erlitt innerhalb von drei Tagen die wohl größte Niederlage seiner politischen Karriere. Nicht die Opposition fügte sie ihm zu, es war der Koalitionspartner, CSU-Chef Horst Seehofer. Rösler hatte ein Modell präsentiert, wie er die Elf-Milliarden-Euro-Lücke stopfen und die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen nachhaltig verändern wollte. Seehofer hatte es eiskalt begraben.

Eine Kopfpauschale sollte es geben, nicht für den ganzen Kassenbeitrag, aber für einen Teil. 30 Euro sollte jedes Kassenmitglied monatlich überweisen. Wer sich das nicht leisten kann, sollte den Antrag stellen, in eine niedrigere Beitragsgruppe eingestuft zu werden. Rösler fuhr nach München, um Seehofer das Modell zu präsentieren. Seehofer tat genau das, was er seit Monaten für den Fall angekündigt hatte, dass Rösler auf einer Kopfpauschale bestehen würde. Er lehnte ab.

Stattdessen verständigte Seehofer sich mit Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle auf neue Grundlinien für eine Reform. Einsparungen im System soll es nun geben, die bestehenden Zusatzbeiträge sollen weiterentwickelt werden.

Die Ideen der Unionsfraktion

Während sich Röslers Haus mit neuen Überlegungen noch zurückhält, sind die Gesundheitsexperten der Unionsfraktion bereits mit ein paar Ideen vorgeprescht. Sie wollen 2,2 Milliarden Euro einsparen, um die elf Milliarden zu beherrschen. Nullrunden soll es geben für die Kassen, die Kliniken und die Zahnärzte. Zusammen mit dem bereits in Eckpunkten beschlossenen Sparpaket für die Pharmaindustrie stiegen die Sparvorschläge damit auf knapp vier Milliarden Euro. Wenn man dann noch die zwei Milliarden Euro hinzurechnet, die Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) aus Steuergeldern locker machen möchte, sind bereits knapp sechs Milliarden Euro zusammen.

Angst vor Mitgliederverlust

"Wir wollen den Kostenanstieg in der Gesetzlichen Krankenversicherung im nächsten Jahr abbremsen, um die Versicherten zu entlasten", beschreibt der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn (CDU), das Vorhaben. Dass es dabei allein schon aus finanziellen Gründen nicht bleiben kann, ist ihm ebenfalls klar. Es dürfe nicht beim reinen Sparen bleiben. "Sparen und eine nachhaltige Finanzreform müssen Hand in Hand gehen."

Theoretisch könnten die Kassen den fehlenden Betrag ausgleichen, indem sie Zusatzbeiträge erheben. Doch diesen Schritt scheuen sie derzeit, weil sie fürchten, von einer Kündigungswelle überrollt zu werden. So hat die DAK bereits 141.000 Mitglieder verloren, weil sie von ihnen pauschal acht Euro zusätzlich verlangt. Andere Kassen wie die Betriebskrankenkassen City und Heilberufe kommen damit nicht aus. Finden sie keinen solventen Partner für eine Fusion, droht ihnen die Insolvenz.

Tatsächlich ist es eigentlich nichts besonderes, dass Kassen von der Bildfläche verschwinden. Noch vor zehn Jahren gab es mehr als zweieinhalb mal so viele gesetzliche Versicherer in Deutschland. Alleine im vergangenen Jahr verschwanden etwa vierzig von der Bildfläche. Doch zu einer Insolvenz ist es noch nicht gekommen, stets halfen Fusionen.

Die jüngste Entwicklung wurde ausgelöst durch den Gesundheitsfonds, den die große Koalition 2007 beschloss und 2009 startete. Teil des Mechanismus ist es, die Einnahmen des Fonds lediglich zum Start an den Ausgaben der Kassen zu orientieren. Längerfristig sollen die Einnahmen konstant unter den Ausgaben liegen. Das sollte den Kassen den Anreiz bieten, selbst bei den Ausgaben zu sparen. Mehr Wettbewerb unter den Kassen sei von Anfang an das Ziel des Fonds gewesen, sagt etwa sein Erfinder, der Dortmunder Ökonom Wolfram Richter. "Wenn im Ergebnis einzelne Kassen auf der Strecke bleiben, dann sehe ich darin erste Anzeichen, dass die Reform Wirkung zeigt."

Die Gesundheitspolitiker müssten sich jetzt darauf konzentrieren, die handwerklichen Mängel des Fonds zu korrigieren, fordert Richter. "Konkret sollte etwa die Überforderungsklausel bei den Zusatzbeiträgen entfallen." Derzeit darf die Kasse keine Abgabe fordern, die ein Prozent des Einkommens des Mitglieds übersteigt. Ungeachtet des Einkommens darf sie höchstens pauschal acht Euro verlangen, nicht mehr.

Ausweitung der Pauschale

In Teilen der Koalition zeichnet sich nun ab, dass genau dieser Weg am Wochenende eingeschlagen wird. In CDU und CSU häufen sich Forderungen, die Auflagen für den Zusatzbeitrag zu lockern. So könnte etwa die Ein-Prozent-Grenze verdoppelt werden. Auch eine Ausweitung der Pauschale von acht auf 15 Euro ist im Gespräch. Dies dürfte allerdings Rösler nicht gefallen, der die Zusatzbeiträge bislang immer als ungerecht bezeichnet hatte, weil für sie kein sozialer Ausgleich vorgesehen ist.

Doch das war vor dem Beinahe-Zusammenbruch der Koalition und vor Röslers großer Niederlage. Immerhin - gemessen an seinen öffentlichen Auftritten hat sich der Minister im Gegensatz zur Koalition wieder gefangen. Inzwischen nähert man sich dann auch in seinem Ministerium den Überlegungen an, die Zusatzbeiträge nicht mehr zu verteufeln, sondern sie auszubauen. Den Beteiligten dort sei klar, dass die Reformvorschläge sitzen müssen, die aus dem Treffen am Ende dieser Woche erwachsen, heißt es in der Koalition. "Wir haben nur noch einen Schuss, und der muss sitzen."

Bleibt nur noch die Frage des sozialen Ausgleichs. Hier hat Richter ebenfalls eine Antwort. "Man könnte daran denken, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben oder aber auch die bürokratische Praxisgebühr abzuschaffen. "Im letzteren Fall sollte allerdings den Krankenkassen die Möglichkeit eröffnet werden, die Praxisgebühr im Rahmen einer Tarifgestaltung wieder einzuführen." Die Bürger könnten dann selbst entscheiden, ob sie einen günstigen Kassentarif mit Praxisgebühr oder einen teuren ohne haben möchten.

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