Süddeutsche Zeitung

Berufsunfähigkeit:Unbezahlbarer Schutz ist unsozial

Vor allem Handwerker können sich Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit kaum noch leisten. Das darf so nicht bleiben. Wenn die Branche nicht handelt, wird es der Staat tun.

Kommentar von Herbert Fromme

Der Staat hat sich vor 15 Jahren aus der Absicherung von Berufstätigen gegen die Berufsunfähigkeit weitgehend zurückgezogen und sie privaten Versicherern überlassen. Heute ist klar: Die Rentenreform von 2001 ist zumindest in diesem zentralen Punkt gescheitert. Neue Ideen sind gefragt. Dabei ist es zu einfach, das Rad zurückzudrehen und wieder alles in die Hand des staatlichen Rentensystems zu legen.

In der Pflicht sind alle Parteien, quer durch die politischen Lager. Schließlich war es damals eine heimliche Allparteienkoalition, die unter der Federführung von Rot-Grün die staatliche Berufsunfähigkeitsversicherung in weiten Teilen abgeschafft hat. Den Plan hatte schon die schwarz-gelbe Vorgängerregierung, das Rentenpaket wurde in großem Konsens beschlossen. Der Kerngedanke: Das staatliche Rentensystem kommt an seine Grenzen, es muss durch private Vorsorge ergänzt werden. Als geeignete Mittel erschienen damals die Einführung der staatlich geförderten, privaten Riester-Rente und die Übertragung der Berufsunfähigkeitsabsicherung an den privaten Markt.

Monatliche Raten dürfen nicht zehn Prozent des Gehalts verschlingen

Nach eineinhalb Jahrzehnten ist das Ergebnis ernüchternd. Vor allem in handwerklichen und industriellen Berufen Tätige haben es schwer, bezahlbaren Versicherungsschutz zu finden. Wenn für einen jungen Dachdecker die monatliche Prämie für die Berufsunfähigkeitspolice locker zehn Prozent des Nettogehalts erreicht, führt das dazu, dass dieser Handwerker sich überhaupt nicht absichert. Nach Unfall oder Krankheit, die zur Berufsunfähigkeit führen, muss er einen schlecht bezahlten Job als Pförtner oder Sicherheitsmitarbeiter antreten oder von Hartz-IV-Sätzen leben. Damit trägt der Staat trotz Privatisierung wieder einen großen Teil des Risikos.

Auch die Versicherungswirtschaft ist in der Pflicht. Sie hatte damals vollmundig versprochen, günstigen Versicherungsschutz für alle liefern zu können. Doch schon nach wenigen Jahren zeigte sich, dass die Versicherer bei ihren damaligen Risikoberechnungen zu optimistisch waren. In der Folge haben die Gesellschaften ihre Praxis für die Anerkennung von Schäden spürbar verschärft, die Preise erhöht, die Liste der Ausschlüsse verlängert und die Einteilung nach Berufstätigkeit erheblich verfeinert. Nicht umsonst sprechen Versicherungsmakler vom "Berufsgruppen-Bingo", einem reinen Glücksspiel mit absurden Fällen. Wer bei einer Bank als Angestellter im Büro arbeitet, zahlt die Hälfte des Beitrags eines Büroangestellten beim Finanzamt.

Die Auffächerung in immer feiner untergliederte Berufskategorien hebelt das Versicherungsprinzip aus. Die hohen Preise für handwerkliche und industrielle Berufe sind unsozial. Wer studiert hat und einen Bürojob ausübt, zahlt deutlich weniger. Kein Wunder, dass Verbraucherschützer und Gewerkschaften fordern, die Berufsunfähigkeitsversicherung wieder der gesetzlichen Rentenversicherung zu übertragen. Für die Arbeitnehmer, die vor dem 1. Januar 1961 geboren wurden, ist sie ohnehin noch zuständig.

Alle Erwerbstätigen müssen versichert werden - zu bezahlbaren Preisen

Allerdings hat auch das gesetzliche System in den Jahrzehnten seiner Zuständigkeit nicht einfach alles richtig gemacht. Auch hier gab es Vorwürfe der langsamen Bearbeitung und der schwer nachvollziehbaren Ablehnungen von Ansprüchen der Versicherten.

Die Versicherungswirtschaft kann die Verstaatlichung verhindern, wenn sie wirklich will. Dazu muss sie sich aber endlich überwinden und einige zwingende Reformen einführen, die wahrscheinlich nur mit politischer Unterstützung möglich sind.

Dringend nötig ist ein Annahmezwang für alle Erwerbstätigen zu bezahlbaren Preisen und ohne Ausschlüsse. Dass die Versicherer damit leben könnten, zeigt die Autoversicherung. Die Gesellschaften sollten die Preise bei einer Obergrenze kappen und die starke Aufgliederung nach Berufsgruppen aufgeben.

Damit das nicht zu Problemen für einzelne Versicherer führt, wäre eine gegenseitige Absicherung der Unternehmen nötig - eine Art Rückversicherungspool mit Zwangsmitgliedschaft für alle Versicherer. Auch damit hat die Branche Erfahrung: Mit einem ähnlichen Mittel hat sie die private Pflegepflichtversicherung gestemmt.

Die Zeit drängt. Die niedrigen Zinsen bewirken, dass die Beiträge für Berufsunfähigkeitspolicen noch weiter steigen werden. Spätestens nach der nächsten Bundestagswahl wird das Thema auf der Berliner Tagesordnung stehen, wer auch immer die Wahl für sich entscheidet. Wenn die Versicherer bis dahin keine konstruktiven Vorschläge vorgelegt haben, werden andere das für sie erledigen.

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SZ vom 20.01.2016/vit
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