Süddeutsche Zeitung

Koalitionsverhandlungen:Sparen war gestern

Milliardenreserven im Renten- und Gesundheitssystem: Bei Gewerkschaften und Arbeitgebern wächst die Befürchtung, dass Union und SPD die gut gefüllten Sozialkassen ausplündern könnten, um Versprechen an die treueste Wählergruppe einzulösen.

Von Guido Bohsem, Berlin

Es war wohl Annelie Buntenbach, der die schwarz-roten Pläne zu viel wurden. Vom Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, so sagen es die Beteiligten, ging dann die Initiative zum gemeinsamen Protest aus. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass Buntenbach zusammen mit den Arbeitgebern verhindern wollte, dass Union und SPD die Sozialkassen leeren, um ihre politischen Differenzen zu überbrücken.

Es folgte eine Aktion, die es so noch nicht gegeben hatte. Acht Männer und Frauen stehen unter dem öffentlich gemachten Warnschreiben an Kanzlerin Angela Merkel und die Chefs von SPD und CSU, Sigmar Gabriel und Horst Seehofer. Außer Buntenbach unterzeichneten auch die Chefs der Bundesagentur für Arbeit, der Deutschen Rentenversicherung und des Spitzenverbandes der Krankenkassen, Frank-Jürgen Weise, Herbert Rische und Doris Pfeiffer. Ergänzt wird die illustre Ansammlung durch die von Gewerkschaften und Arbeitgebern besetzten Chefs der Aufsichtsgremien der Sozialkassen, Alexander Gunkel, Peter Clever und Volker Hansen sowie Christian Zahn.

Die Beteiligten vertreten gewöhnlich gänzlich unterschiedliche Meinungen. Alleine das macht ein solches Bündnis ungewöhnlich. Dass sich die Sozialpartner öffentlich in laufende Koalitionsverhandlungen einmischen, verleiht ihrem Protest zusätzliche Dringlichkeit.

Wahlversprechen an die Älteren

Unter den Sozialpartnern geht die Furcht um, dass die angehende schwarz-rote Koalition die Rücklagen der Sozialkassen plündert. Die Liste der geplanten Eingriffe ist lang, Mütterrente, Lebensleistungsrente, Erwerbsminderungsrente, Kürzung des Bundeszuschusses an die Krankenkassen und eine kräftige Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung, um nur ein paar zu nennen.

Vorsorge für den demografischen Wandel war gestern. Nun geht es darum, Wahlversprechen an die treuesten Wählergruppen einzulösen, und das sind nun mal die Älteren. Bei der Bundestagswahl wählte fast jeder Zweite über 60 Jahre CDU oder CSU. In der Altersgruppe über 70 waren es sogar 54 Prozent, während nur jeder Dritte zwischen 18 und 24 für die Union stimmte. Ähnlich sieht es auch bei der SPD aus, die von den über 70-Jährigen (28 Prozent) häufiger gewählt wurde als von den Jugendlichen (24 Prozent).

Das künftige Regierungsbündnis vollzieht damit einen Bruch mit der Politik, die das vergangene Jahrzehnt prägte. Die Sozialsysteme sollten auf den tiefgreifenden Wandel vorbereitet werden, der spätestens mit dem Eintritt der Babyboomer in den Ruhestand beginnen wird.

In den nächsten 20 Jahren wird sich das Verhältnis der Beschäftigtenzahl zu der von Rentnern und Pensionären deutlich ändern. 2005 kamen auf 100 Berufstätige etwa 32 Personen, die älter als 65 Jahre waren. Bis zum Jahr 2030 steigt das Verhältnis auf 100 zu 50. Das heißt, dass die Beiträge für die Rente, Pflege und die Krankenversicherung steigen werden. Um diesen Anstieg zu bremsen, waren in den vergangenen Jahren schmerzhafte Reformen in Angriff genommen worden, einschließlich der Rente mit 67.

Dass der Politik der Griff in die Sozialkassen derzeit so attraktiv erscheint, hat mit drei Dingen zu tun: der Schuldenbremse, dem Wahlversprechen der Union, die Steuern nicht zu erhöhen, und der guten Lage am Arbeitsmarkt. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse hindert die angehenden Koalitionäre daran, neue Kredite aufzunehmen. Eine Finanzierung durch höhere Steuern kommt auch nicht in Betracht. An diesem Wahlversprechen will die Union zwingend festhalten.

Was liegt also näher, als auf die Sozialkassen zurückzugreifen, wo derzeit ausreichend Geld steckt? Die Jahre der Rekordbeschäftigung haben die Sozialkassen reichlich gefüllt. In der Rente gibt es derzeit knapp 30 Milliarden Euro Rücklagen, die Finanzreserven des Gesundheitssystems dürften Ende 2013 sogar darüber liegen.

Schon jetzt wird daher erwogen, den Zuschuss zum Gesundheitsfonds noch stärker zu kürzen als bislang geplant. Im Endeffekt könnten fünf Milliarden Euro weniger fließen. Die Umsetzung der Mütterrente wird voraussichtlich 130 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030 kosten. Die Ausgaben für die Lebensleistungsrente dürften 2030 bei 2,5 Milliarden Euro im Jahr liegen.

"Kein Füllhorn"

Renten-Chef Rische warnt deshalb noch einmal eindringlich vor dem Eingriff. Die Einführung der Mütterrente werde die langfristigen Einsparungen durch die Rente mit 67 Jahre hinfällig machen. Auch GKV-Chefin Pfeiffer protestiert: "Die Rücklagen der Krankenversicherung sind kein Füllhorn, aus dem die Staatsfinanzen saniert werden könnten." Die Politik müsse jetzt zeigen, dass sie angesichts der großen Rücklagen standhaft bleiben könne.

Doch nicht nur die künftigen Generationen sind die Leidtragenden der schwarz-roten Politik. Auch die aktuellen Beitragszahler werden zur Kasse gebeten. Weil die zusätzlichen Leistungen nicht aus Steuern bezahlt werden, kann der Beitrag zur Rentenversicherung nicht wie gesetzlich vorgesehen auf 18,3 Prozent sinken. Die Entlastung der Arbeitnehmer und Unternehmen von sechs Milliarden wird es nicht geben.

Im Gegenteil, weil die Koalition den Pflegebeitrag wohl um 0,5 Prozentpunkte anhebt, werden die Beitragszahler sogar fünf Milliarden Euro drauflegen müssen. Ob das gerecht ist, darf bezweifelt werden. Denn wer wenig verdient, zahlt bekanntlich verhältnismäßig mehr in die Sozialkassen ein als ein Arbeitnehmer mit einem hohen Einkommen. Bei einer Finanzierung über die Steuer wäre es genau umgekehrt.

Zur Zeit der letzten großen Koalition ließ der damalige Finanzminister Peer Steinbrück die Einführung einer negativen Einkommensteuer prüfen. Dreh- und Angelpunkt dabei war es, Geringverdienern einen Ausgleich für die Sozialabgaben zu gewähren. Immerhin - auch jetzt will die SPD lieber die Steuern erhöhen

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Quelle:
SZ vom 19.11.2013/pje
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