Süddeutsche Zeitung

Kinder unerwünscht:Lieber Hundegebell als Spielgeräusche

Die Bevölkerung wird allmählich von jungen Familien "entwöhnt". Intoleranz wird vor allem im Wohnumfeld virulent.

Christa Eder

Die Kinderfeindlichkeit in der Bevölkerung nimmt zu. Da ist es erfreulich, dass die Rechtsprechung dagegen hält. "Kinderlärm ist Zukunftsmusik" ließ kürzlich das Landgericht München verlauten und schmetterte eine Beschwerde über zu lautes Kindergeschrei im Treppenhaus ab. Ähnlich reagieren inzwischen viele andere deutsche Gerichte. Die Tendenz zur kinderfreundlichen Rechtsprechung dürfte allerdings daher rühren, dass sich auch die Klagen gegen "zu laute" Kinder häufen.

"Es gibt immer weniger Toleranz. In Wohnanlagen mit Wohnungen von 60 bis 70 Quadratmetern und einer Pro-Forma-Schaukel im Hof, findet man kein Kind mehr. Und wenn doch, dann stört es", meint Rudolf Stürzer, Vorsitzender von Haus+Grund München. In weniger als 16 Prozent aller Münchner Haushalte leben Kinder. "Kinder sind inzwischen etwas Unnormales und für viele kein gewohntes Geräusch mehr." Zwar hätte die Lärmempfindlichkeit insgesamt bei der Bevölkerung zugenommen - es gibt auch immer mehr Geräusche - aber über Kindergeschrei rege man sich mehr auf, als über Laubsauger oder Hundegebell. "Das ist grotesk", kommentiert Stürzer.

Grotesk, aber alltäglich. Viele Hausordnungen oder Mietverträge verlangen beispielsweise immer noch, dass mittags stundenlang Ruhe gehalten wird, Kinderwägen nicht im Flur abgestellt werden oder den Spielplatz nur zu bestimmten Zeiten zu nutzen. Rückenwind für Kinderfeinde? "Man kann die Nutzung des Spielplatzes zu einer bestimmten Zeit untersagen, aber das heißt nicht, dass Kinder in dieser Zeit im oder vor dem Haus nicht laut sein dürfen", erklärt Stürzer.

Toleranz und Rücksicht

Dabei treffe es manchmal auch den Falschen. "Oft werden Vermieter als kinderfeindlich hingestellt. Zu Unrecht", wie Stürzer bemerkt, "denn der Vermieter wohnt meistens gar nicht im Haus und das Kindergeschrei per se stört ihn nicht. Aber er wird ständig mit Beschwerden der Mieter konfrontiert, die mit Mietminderungen und Anwaltsschreiben drohen." Da sei dann irgendwann die Überlegung da, ob er beim nächsten Mal nicht doch an Kinderlose vermieten sollte.

Mit etwa ein bis zwei Beschwerden pro Woche muss sich auch der Mieterverein München befassen. "Vor allem ältere Mieter sind empfindlich. Sie fühlen sich immer wieder gestört, wenn Kinder draußen spielen und beispielsweise ihren Mittagsschlaf stören", erklärt Pressesprecherin Karen Söffge. "Wir versuchen in diesen Fällen aber gütlich auf sie einzuwirken, denn wir vertreten auch die jungen Familien." Nur in extremen Fällen geht ein Schreiben an die Vermieter mit der Aufforderung, die betreffende Familie um Rücksichtnahme zu bitten. "In derlei Fällen sollte Toleranz und Rücksichtnahme schon ausgeglichen sein", so Söffge.

"Viele können sich auch gar nicht mehr vorstellen, was Kind sein heute bedeutet. Kinder müssen viel mehr aushalten als früher", ergänzt Jana Frädrich, Kinderbeauftragte der Stadt München. Oft haben sie einen Acht-Stunden-Tag, wie Erwachsene, müssen fast den ganzen Tag sitzen und still halten und haben zu wenige Ventile sich auszutoben. Die Wohnungen sind zu klein, die Kinderzimmer erst recht, und Plätze im Freien fehlen.

Grundsatzurteil wäre hilfreich

"Kinder und ihre Familien brauchen viel Unterstützung und Wohlwollen von Kinderlosen." Die Rechtsprechung "pro Kind" sieht Frädrich allerdings differenziert: "Es sind meist Einzelfallentscheidungen von unteren Gerichten, die nur auf eine ganz bestimmte Situation zugeschnitten sind. Das ist oft nicht übertragbar. Grundsatzentscheidungen wären für uns hilfreicher, aber wer klagt sich schon so lange nach oben durch?" Ein weiteres Defizit sei, dass fast nur Kleinkinder und deren Eltern profitieren. Bei größeren Kindern, ab zehn Jahren und Jugendlichen, sehe es aber anders aus. "Es ist zum Beispiel fast unmöglich, einen Bolzplatz oder Streetball-Court in einem Wohngebiet zu errichten", moniert Frädrich.

Eine Freizeitanlage fällt, wie eine Sportanlage, unter das Bundes-Immissionschutzgesetz (BImSchG) und muss neben anderen Auflagen zwischen 90 und 140 Metern Abstand zu den nächsten Wohngebäuden einhalten. "In hochverdichteten Kommunen wie München ist das quasi unmöglich. Daher haben wir bei größeren Kinder eine chronische Unterversorgung." Eine Initiative soll erreichen, dass Bolzplätze wie Kinderspielplätze gehandhabt werden.

Die Abneigung gegen Kinder lässt sich aber nicht nur an Mangelstrukturen und Prozentzahlen fest machen. Sichtbar und spürbar ist vor allem die individuelle Kinderfeindlichkeit. Viele fühlen sich allein durch die bloße Anwesenheit von Kindern in ihren Lebensgewohnheiten gestört. Frädrich führt dieses Phänomen auf zu wenig Kinder zurück: "Die Bevölkerung entwöhnt sich von Kindern. Wo keine Kinder sind, stört auch schon ein bisschen Lärm."Ein Phänomen, das man übrigens in allen europäischen Städten beobachten könne. "Das ist kein deutsches oder Münchner Problem. Das ist ein Großstadtproblem."

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SZ vom 28.10.2005
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