Ökonom Picot im Interview:"Sie haben Angst, dass plötzlich das Haus dunkel ist"

Deutsche wechseln nicht gerne ihre Anbieter für Strom oder Gas. Ein Gespräch mit dem Ökonomen Arnold Picot über träge Verbraucher, irrationale Sorgen und den Wert einer 100-Euro-Ersparnis.

Johannes Aumüller

Der deutsche Verbraucher wechselt nicht gerne seine Anbieter für Strom, Gas oder Telefon. Nach einer aktuellen Berechnung des Verbraucherportals Verivox waren es 2010 beispielsweise rund drei Millionen Stromkunden - mehr als in den Vorjahren, aber angesichts von 46 Millionen Strom-Haushaltskunden in Deutschland immer noch wenig. Was steckt hinter diesem Verhalten? Eine Motivsuche mit dem Ökonomen Arnold Picot, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Leiter des Wissenschaftlichen Arbeitskreises für Regulierungsfragen bei der Bundesnetzagentur.

Stromverbrauch

Nur wenige deutscher Verbraucher wechseln ihren Stromanbieter.

(Foto: dpa)

sueddeutsche.de: In Deutschland klettern die Strompreise ins Unermessliche, Verbraucher könnten zu einem günstigeren Anbieter wechseln - doch kaum jemand macht das. Warum sind die Deutschen ein so wechselfaules Volk?

Arnold Picot: Sind die Deutschen wirklich so viel wechselfauler als andere? Das lässt sich nur schwer vergleichen, denn in anderen Ländern ist die Marktsituation oftmals völlig anders. Aber sie wechseln nicht oft, das stimmt.

sueddeutsche.de: Was sind die Gründe für dieses Verhalten?

Picot: Grundsätzlich ist es einfach so, dass der Wechsel eines Anbieters von Strom oder Gas nicht zum täglichen Standardprogramm eines normalen Verbrauchers gehört. Das ist nicht zu vergleichen mit dem Wechsel der Buttermarke im Kühlregal, wobei sich selbst da ja schon viele schwertun.

sueddeutsche.de: Viele vermuten als Hauptgrund schlicht Faulheit.

Picot: Das spielt eine Rolle. Aber Faulheit ist etwas ganz Rationales. Der Kunde muss der Sache viel Aufmerksamkeit widmen, viel Zeit, dazu kommt eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des alternativen Anbieters. Und manche denken sicherlich, dass sich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die Angebote im Markt angleichen. Wenn man selbst nicht wechselt, wechselt vielleicht der Nachbar und hält den Markt in Schwung.

sueddeutsche.de: Spielt sogar so etwas wie eine Obrigkeitsorientierung eine Rolle? Da kommt von irgendwo der Strom aus der Steckdose und gut ist's.

Picot: Viele Kunden sind es gewohnt, dass ihre kritischen Infrastrukturen, also Energie, Telekommunikation und Ähnliches, von etablierten Einrichtungen kommen, die bekannt und in der Region präsent sind. Das gibt einen großen Vertrauensvorschuss. Manche von denen waren ja auch staatlich oder sind es zum Teil noch heute.

sueddeutsche.de: Das heißt, die Telekom profitiert heute noch davon, dass sie mal staatlich war? Hätte sie es für den Fall, dass sie immer privat und gleichwohl Monopolist gewesen wäre, heute schwerer?

Picot: Nein, das würde ich nicht unbedingt sagen. Das kann auch für einen privaten Anbieter gelten, denken Sie zum Beispiel an Energieanbieter. Wichtig ist, dass die Versorgung historisch gewachsen ist, dass schon die Eltern, vielleicht sogar schon die Großeltern bei diesem Anbieter waren - während der potentielle neue Anbieter keine bekannte Marke ist. Deshalb ist das Kündigen des Vertrags wie das Kündigen einer langjährigen Beziehung. Das ist für viele Menschen eine psychische Schwelle. Dazu kommt der Endowment-Effekt, also die Tatsache, dass der wahrgenommene Wert eines Gutes höher ist, wenn man es besitzt.

"Drei Gruppen wechseln auffallend häufig"

sueddeutsche.de: Welche praktischen Gründe gibt es denn neben den abstrakten und psychologischen?

Prof. Picot

Arnold Picot ist Leiter des Wissenschaftlichen Arbeitskreises für Regulierungsfragen bei der Bundesnetzagentur.

(Foto: Privat)

Picot: Zum Beispiel heißt es oft, bei einem Wechsel spare der Verbraucher die Summe X. Doch es ist gar nicht so einfach, dieses Angebot genau zu verstehen und nachzuvollziehen, denn es ist wichtig, den genauen Verbrauchsverlauf zu kennen. Aber selbst wenn die annoncierten Kostenersparnisse einigermaßen zutreffend sind, dann müssen diese auch in einem Verhältnis zu dem Aufwand für den Wechsel stehen.

sueddeutsche.de: Aber in vielen Fällen ist das doch nur ein sehr geringer Aufwand. Ein Kündigungsschreiben und etwas Wartezeit genügen und schon kann der Verbraucher einen neuen, günstigeren Tarif wählen.

Picot: Na ja, das ist nicht ganz so. Zunächst einmal muss ich ein bestimmtes Formular ausfüllen. Das klingt nach nichts Besonderem, aber das ist ein gewisser Schritt. Sie müssen sich schriftlich festlegen, Sie müssen alle möglichen Angaben machen. Außerdem ist die Frage, wann ein Verbraucher überhaupt wechseln kann. Die meisten haben gar nicht auf dem Radar, wie lange ihr Vertrag läuft. Und wenn der Vertrag gerade mal kündbar ist, müssen die Angebote genau in dem Moment wieder attraktiv sein. Oftmals bietet der bisherige Anbieter dann noch eine kleine Verbesserung an - und schon ist der Verbraucher wieder für ein Jahr oder noch länger gebunden.

sueddeutsche.de: Stellen Sie bestimmte Unterschiede in den verschiedenen Anbieterbranchen fest?

Picot: Beim Telefon ist die Wechselwilligkeit etwas höher als beim Strom. Das hat auch mit einem irrationalen, aber sehr wichtigen Punkt zu tun. Viele Verbraucher haben beim Strom nämlich Angst um ihre Versorgungssicherheit. Sie befürchten, dass bei einem Wechsel zu einem Anbieter, der nicht ganz so bekannt ist, plötzlich das Haus dunkel ist.

sueddeutsche.de: Und diese Sorge ist unberechtigt?

Picot: Ja. So, wie bei uns die Energieeinspeisung funktioniert, besteht bei einem Wechsel überhaupt kein Risiko. Doch wir haben es hier mit einem Massenmarkt zu tun, bei dem die Leute sehr unterschiedliche Informationen besitzen und selbst Verbraucher mit einer formal guten Ausbildung nur schwer verstehen, wie die Energieversorgung technisch funktioniert. Und so kommt es dann zu diffusen Sorgen.

sueddeutsche.de: Doch selbst wenn ein Wechsel etwas komplizierter ist, steht am Ende die Möglichkeit, Geld zu sparen.

Picot: Aber angesichts der angesprochenen Faktoren ist dieser Einsparvorteil oft nicht so riesig, dass sich jeder hinsetzt und sagt: Diese 100 Euro im Jahr, die muss ich jetzt unbedingt mitnehmen.

sueddeutsche.de: Man könnte aber argumentieren: 100 Euro Telefon, 100 Euro Strom, 100 Euro bei irgendetwas anderem, da kommt über das Jahr schon was zusammen. Gibt es eine finanzielle Schmerzgrenze, ab der die Leute häufiger zu wechseln beginnen?

Picot: Nein, das kann man nicht feststellen.

sueddeutsche.de: Welche Verbraucher wechseln besonders gerne?

Picot: Das sind im Wesentlichen drei Gruppen. Für viele steht die Ersparnis zwar nicht im Verhältnis zum Aufwand, aber natürlich gibt es eine Gruppe von einkommensschwächeren Verbrauchern, für die es auf jeden Euro ankommt. Zweitens junge Leute, die noch nicht so lange Bindungen haben. Und drittens gutausgebildete Besserverdiener, die nicht primär wegen des Geldes, sondern aus Umweltaspekten wechseln. Denen ist wichtig, dass sie klimaneutralen Strom oder Gas bekommen oder der Anbieter irgendwas fürs Klima tut.

"Zuwanderer sorgen für mehr Wechsel"

sueddeutsche.de: Wie lässt sich denn die Zahl der Wechsler erhöhen?

Picot: Es ist für einen funktionierenden Markt gar nicht wichtig, dass alle wechseln. Sondern es reicht, wenn eine Minderheit des Marktes wechselwillig ist und auch tatsächlich mal wechselt. Häufig kommt es so schon zu Preisannäherungen. Es kommt also darauf an, dieses Potential von Wechslern zu aktivieren, unter anderem durch eine einfache und flexible Wechselmöglichkeit.

sueddeutsche.de: Sie leiten den Wissenschaftlichen Arbeitskreis für Regulierungsfragen bei der Bundesnetzagentur und sind deswegen auch eng an der politischen Diskussion beteiligt. Welche konkreten Schritte sind sinnvoll?

Picot: Ein interessantes Beispiel ist die Rufnummernportierung, also die Möglichkeit, dass der Verbraucher seine Telefonnummer von einem zum anderen Anbieter mitnimmt. Das wurde in Deutschland sehr früh eingeführt und hat wesentlich zum besseren Funktionieren des Marktes beigetragen. Das soll jetzt noch verbessert werden: Die aktuelle Novelle des Telekommunikationsgesetzes sieht vor, dass die Frist bei einem Wechsel auf einen Arbeitstag festgelegt wird.

sueddeutsche.de: Wie war es bisher?

Picot: Bisher war es so, dass der Kunde manchmal Wochen warten musste, bis er über den neuen Anbieter verfügen konnte, und in der Zwischenzeit war manchmal nicht ganz klar, welcher Vertrag gilt - mit entsprechend komplizierten Folgen. Von nun an sollen Unternehmen sanktioniert werden, wenn sie die Nummer nicht in der genannten Frist abgeben beziehungsweise umschalten.

sueddeutsche.de: Doch für den Wechsel sind schnell 24,95 Euro oder noch mehr fällig. Sollte man nicht doch einmal diese Wechselgebühr anpacken?

Picot: Mit einem Wechsel ist bei den Anbietern ja ein gewisser technischer und organisatorischer Aufwand verbunden. Regulatorisch eingreifen sollte man hier nur, wenn Wechselkosten offensichtlich missbräuchlich festgesetzt würden, das ist nach meinem Überblick derzeit nicht zu erkennen. Je nach Wettbewerbssituation und Vertragstyp übernimmt manchmal der neue Anbieter diese Kosten.

sueddeutsche.de: Manche Verbraucher sind auch über die Dauer der Verträge verärgert.

Picot: Auch das ist ein Thema dieser Novelle. Die anfängliche Mindestlaufzeit für Verträge wird danach auf 24 Monate begrenzt, da gab es früher Anbieter, die längere Bindungen zugrunde legten. Und die Unternehmen müssen den Kunden die Möglichkeit geben, einen Vertrag mit einer Höchstlaufzeit von zwölf Monaten anzubieten.

sueddeutsche.de: In der Politik gab es früher wenige Wechselwähler, heute sehr viele. Glauben Sie an eine ähnliche Entwicklung auf dem Anbietermarkt?

Picot: Wenn die regulatorischen Voraussetzungen für flexiblen Anbieterwechsel noch weiter verbessert werden, glaube ich, dass das möglich ist. Da ist einiges im Gange, aber da muss noch mehr kommen. Längerfristig kommt es zu einem Lernprozess der Bevölkerung, und durch junge Menschen sowie Zuwanderer, die sich unbefangener mit den Dingen versorgen, die sie brauchen, wird ein Wechsel normaler und häufiger. Wenn ich mich an meine Jugend erinnere, da war so ein Wechsel gar nicht denkbar, weil es fast nur monopolistische Strukturen gab.

sueddeutsche.de: Wie oft haben Sie denn schon gewechselt?

Picot: Ich habe bei der Mobilkommunikation ein paar Mal gewechselt, bei der Festnetzkommunikation nicht und im Energiebereich auch noch nicht. Aber bei der Energie überlege ich mir einen Wechsel. Ich glaube, ich bin da relativ typisch, so ein Muster kann man häufig beobachten.

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